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Trotz hoher Tarifabschlüsse und Rückgang der Inflationsrate: Kein Grund zur Entwarnung, da die Konjunkturentwicklung nicht stabil ist
Es gibt sie also doch noch: die guten Nachrichten aus der Wirtschaft. Unter Berücksichtigung der im ersten Halbjahr getätigten neuen Tarifabschlüsse und der in den Vorjahren für 2024 bereits vereinbarten Erhöhungen steigen die Tariflöhne in diesem Jahr in Deutschland um durchschnittlich 5,6 Prozent. Angesichts eines deutlichen Rückgangs der Inflationsraten auf durchschnittlich 2,4 Prozent in den ersten sechs Monaten dieses Jahren ergibt sich hieraus real eine Lohnsteigerung von 3,1 Prozent. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist dies der mit Abstand höchste jährliche Reallohnzuwachs bei den Tariflöhnen. Allerdings gingen dem drei Jahre mit Reallohnverlusten voraus.
Zu diesem Ergebnis kommt das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seiner Halbjahresbilanz zur aktuellen Entwicklung der Tariflöhne. Die Lohnentwicklung in Deutschland und im Euroraum wird von der Europäischen Zentralbank (EZB) mit Blick auf die Frage, wie schnell die Zinsen gesenkt werden sollen, analysiert. Starke Lohnerhöhungen waren quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche gefordert worden, um den Inflationsschock auszugleichen.
Ökonomische Sinnhaftigkeit
„In diesem Jahr schaffen die kräftigen Reallohnzuwächse erstmals einen deutlichen Ausgleich für den massiven Reallohnrückgang der Jahre 2021 und 2022 und das kleine Minus 2023,“ sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten, und fügte hinzu: „Die Kaufkraftverluste der Vorjahre konnten damit etwa zur Hälfte kompensiert werden.“ Doch eine gänzliche Entwarnung sei noch nicht in Sicht. Insgesamt liege das preisbereinigte Niveau der Tariflöhne immer noch deutlich unter dem Spitzenwert des Jahres 2020. „Damit besteht bei der Tariflohnentwicklung weiterhin ein erheblicher Nachholbedarf. Deutliche Reallohnzuwächse sind zudem auch ökonomisch sinnvoll, um die konjunkturelle Entwicklung zu stabilisieren“, ergänzte Schulten.
Während im Jahr 2020 insbesondere der vermehrte Einsatz von Kurzarbeit bedingt durch die Corona-Pandemie zur negativen Entwicklung der Nominal- und Reallöhne beigetragen hatte, zehrte 2021 und besonders 2022 die hohe Inflation das Wachstum der Nominallöhne auf. Im Jahr 2022 wurde nach Angaben des Statistischen Bundesamtes der stärkste Rückgang der Reallöhne in Deutschland seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008 gemessen. Ab Mitte des vergangenen Jahres zogen sowohl die Nominal- als auch die Reallöhne wieder an. Verantwortlich dafür sind die bisher stärksten gemessenen Lohnerhöhungen in Kombination mit einer moderateren Inflationsentwicklung.
Im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepublik insgesamt in puncto Tarifbindung nur im Mittelfeld, auf ähnlichem Niveau wie Kroatien, Malta oder Zypern. Man muss dazu erwähnen, dass die Hans-Böckler-Stiftung traditionell als gewerkschaftsnah gilt. Eine fehlende Tarifbindung habe stark negative Auswirkungen auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Beschäftigte, die nicht nach Tarif bezahlt werden, verdienen im Bundesdurchschnitt klar weniger. „Die Auswertung zeigt, dass Tarifbindung ein wichtiges Instrument ist, um für viele Menschen materielle gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Das reduziert auch die Einkommensungleichheit und stabilisiert in einer Zeit, in der sich viele Menschen Sorgen um soziale Ungleichheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt machen, die Gesellschaft als Ganzes“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche WSI-Direktorin.
Einflüsse auf Verteilung
Laut Statistischem Bundesamt verdiente ein deutscher Vollzeitbeschäftigter im Schnitt 4323 Euro brutto, also in etwa 51.876 Euro pro Jahr. Doch beim Durchschnittsgehalt der Deutschen gibt es grundsätzlich deutliche Unterschiede. Das Bundesland, die Branche und das Geschlecht haben weiterhin großen Einfluss auf die Verteilung des Einkommens in der Republik und eben auch die Frage, ob eine Tarifbindung herrscht oder nicht. Bislang sind für knapp 19,7 Millionen Beschäftigte Tariferhöhungen vereinbart worden, die im Lauf des Jahres 2024 wirksam werden. Für knapp 11,6 Millionen Beschäftigte wurden diese Tariferhöhungen bereits 2023 oder früher in Tarifverträgen mit mehrjähriger Laufzeit festgelegt. Hinzu kamen im ersten Halbjahr Tarifvereinbarungen für mehr als acht Millionen Beschäftigte, darunter in der Chemischen Industrie, im Bauhauptgewerbe und im Einzelhandel. Experten sehen aber gerade im europäischen Verlauf erheblichen Nachholbedarf. Das ist bei Umfragen spürbar. Endes des Jahres 2023 waren demnach 47 Prozent der Beschäftigten „unzufrieden“ und 17 Prozent „sehr unzufrieden“ mit ihrer Bezahlung, wie aus dem Gehaltsreport des Stellenportals Stepstone hervorgeht.