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Feuersturm in Königsberg

Vor 80 Jahren flog die Royal Air Force zwei Nachtangriffe auf die Hauptstadt Ostpreußens. Durch die brutale Militärstrategie „Morale Bombing“ starben ungefähr 5000 Menschen, wurden 200.000 obdachlos und die Innenstadt zerstört

Björn Schumacher
24.08.2024

Im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs gehörte Königsberg zu den am furchtbarsten geschundenen Städten Deutschlands und Europas. Flucht und Vertreibung, Vergewaltigungen und Misshandlungen − oft mit tödlichem Ausgang − verdichteten sich zu einer Apokalypse. Zerstörungen bei der Belagerung der Stadt und Brandschatzungen durch die Rote Armee erweiterten das Spektrum des Grauens. Als wäre das alles nicht schlimm genug, wurden Königsberg und das nördliche Ostpreußen im Potsdamer Abkommen sowjetischer Verwaltung unterstellt − eine provisorische Maßnahme der Siegermächte, die durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 zum endgültigen Verlust deutscher Territorialhoheit führte.

Allerdings hatte der Krieg der ostpreußischen Metropole schon vor 1945 zugesetzt. Am 22./23. Juni 1941, gleich nach Beginn des Russlandfeldzugs, geriet die Stadt ins Visier der sowjetischen Luftstreitkräfte. Zweimotorige Fernbomber des Typs Iljuschin DB-3 beschädigten die Kaimauer und das städtische Gaswerk. Weitere Bombenabwürfe mit ebenfalls noch begrenzten Sachschäden erfolgten Ende August/Anfang September 1941. Eine höhere Eskalationsstufe wurde am 10./11. und 29./30. April 1943 erreicht. Viermotorige Flugzeuge des Typs Petljakow Pe-8 warfen Sprengbomben ab, die eine unbekannte, wohl im zweistelligen Bereich liegende Zahl Einwohner das Leben kosteten.

Diese Angriffe blieben aber weit hinter dem von der Royal Air Force (RAF) geschaffenen Inferno zurück. Vor achtzig Jahren schlug der Bombenhammer unbarmherzig zu. Luftmarschall Arthur Harris schickte seine in der Zerstörung ganzer Innenstädte erfahrenste Staffel, die Bomber Group No. 5, auf die 1500 Kilometer weite Strecke nach Königsberg. Im August 1944 ließen 174 viermotorige Flugzeuge des Typs Avro 683 „Lancaster“ in der Nacht vom 26. auf den 27. und 189 in der vom 29. auf den 30. 900 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt herabfallen.

900 Tonnen Bomben
Der erste Angriff wütete vor allem im nordöstlichen Stadtteil Maraunenhof: im Bereich Cranzer Allee, Herzog-Albrecht-Allee und Wallring. Getroffen wurden neben einigen Kasernengebäuden zahlreiche Wohnhäuser. 1000 Menschen starben, 10.000 wurden obdachlos. Nur vier „Lancaster“-Bomber konnten von der deutschen Flugabwehr abgeschossen werden.

Noch folgenschwerer war die zweite Attacke am 29./30. August 1944, obwohl das Wetter die Bewohner und Verteidiger Königsbergs zunächst begünstigte. Zwanzig Minuten lang mussten die am Treibstofflimit fliegenden Briten warten, bis die Wolkendecke aufriss und treffsichere Bombenabwürfe ermöglichte. Immerhin 15 schwere „Lancaster“ konnten die deutschen Nachtjäger abschießen. Trotzdem zerbarsten und verbrannten die Stadtteile Altstadt, Löbenicht und Kneiphof im Bombenhagel. Zerstört wurden alle historischen Gebäude mit ihrer wertvollen Ausstattung: der Dom und zwölf weitere Kirchen, das Schloss, die Alte und die Neue Universität mit ihren Instituten und Kliniken, das Stadtgeschichtliche Museum, das Opernhaus, die Staats- und Universitätsbibliothek, das malerische Speicherviertel, die seit 1722 bestehende Buchhandlung Gräfe und Unzer und die Hälfte aller Schulen. Ein Raub der Flammen wurden unter anderem das Geburtshaus E. T. A. Hoffmanns sowie das Wohnhaus Heinrich von Kleists.

Mit einer ausgeklügelten Spreng- und Brandbombenmischung unter Ausnutzung der dichten Bebauung entfachten die routinierten Angreifer in dieser Nacht einen Feuersturm. Rund 5000 Tote und 200.000 Obdachlose waren das erschütternde Resultat. Aus den Kellern brennender Häuser gab es kein Entrinnen. Mochte man drei Tage zuvor angesichts beschädigter Kasernen von einem „unterschiedslosen Bombardement“ auf zivile und militärische Objekte sprechen, so war der Luftschlag vom 29./30. August 1944 reiner Bombenterror, der ausnahmslos zivilen Zielen galt. Zudem durchquerten die von England nach Königsberg fliegenden Bomberstaffeln den schwedischen Luftraum. Gegen diese Verletzung ihres neutralen Status protestierte die Regierung Schwedens heftig.

Gründe für die Wahl des Zieles
Warum aber wurde Ostpreußens Metropole von der RAF attackiert? Parallelen zum Doppelschlag auf Dresden am 13./14. Februar 1945 drängen sich auf. In beiden Fällen sollte der heranrückenden Roten Armee wohl die Schlagkraft des Bomber Command demonstriert werden, zumal der sowjetische Diktator Josef Stalin die britische Regierung seit Längerem drängte, ihre Kriegsanstrengungen zu steigern. Die Vernichtung Königsbergs dürfte zudem ein Signal an Finnland und seine nun ebenfalls von britischen Militärbasen erreichbare Hauptstadt Helsinki gewesen sein. Finnland war damals lose mit dem Deutschen Reich verbündet, bevor es kurz darauf im Lapplandkrieg die Fronten wechselte.

Vor allem aber arbeitete die RAF in der Stadt Immanuel Kants ihre Strategie des totalen Luftkriegs ab. Bereits Während des Ersten Weltkrieges hatte Munitionsminister Winston Churchill von einem − damals noch unrealistischen − „Tausendbomberangriff“ auf Berlin geschwärmt, dessen Demoralisierungspotential den Krieg schlagartig beenden sollte. 1925 verstieg sich der selbsternannte „Soldier of Christ“ in ein wahres Armageddon: „Der Tod steht in Bereitschaft, [...] die Menschen in Massen hinwegzumähen, bereit, wenn man ihn ruft, die Zivilisation ohne Hoffnung auf Wiederaufbau zu Staub zu zerstampfen. Vielleicht wird es sich das nächste Mal darum handeln, Frauen und Kinder oder die Zivilbevölkerung überhaupt zu töten, und die Siegesgöttin wird sich zuletzt voller Entsetzen demjenigen vermählen, der das in gewaltigstem Umfang zu organisieren versteht.“

Gezielte Terrorisierung aus der Luft
Churchills Aussagen leiten über zu der nach dem ersten Marshal of the Royal Air Force, Hugh Trenchard, benannten „Trenchard-Doktrin“ vom unterschiedslosen Luftkrieg gegen (angeblich untrennbar miteinander verzahnte) zivile und militärische Ziele. 1936 wurde ein strategisches Bomberkommando geschaffen, „dessen Daseinsberechtigung allein darin lag, Deutschland zu bombardieren, wenn es unser Feind sein sollte“ (James Molony Spaight, Unterstaatssekretär im britischen Luftfahrtministerium, 1944).

Zum nächsten Meilenstein avancierte die Area Bombing Directive vom 14. Februar 1942. Mit Flächenangriffen auf Innenstädte wollte Churchill, inzwischen Premierminister, die Kampf- und Durchhaltemoral der Deutschen brechen („Morale Bombing“). Marshal of the Royal Air Force Charles Portal, Stabschef der RAF, gab Interpretationshilfe: „Ich nehme an, es ist klar, dass die Zielpunkte die Wohngebiete sein sollen und nicht Werften oder Flugzeugfabriken. Das muss ganz deutlich gemacht werden, falls es noch nicht verstanden worden ist.“ Einige Wochen später gingen die leicht brennbaren Altstädte von Lübeck und Rostock in Flammen auf.

Immer mehr Brand- und Sprengbomben prasselten auf Zivilisten, aber auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in mehr als hundert deutschen Städten herab. Sie töteten mindestens 600.000 Menschen. Den ersten Feuersturm mit vierstelliger Opferzahl entfachten die Briten in der Nacht vom 29. zum 30. Mai 1943 in Wuppertal-Barmen. 35.000 Zivilisten erstickten und verglühten bei ihren Angriffen auf Hamburger Arbeiterwohnviertel Ende Juli 1943, die zynischerweise den Codenamen „Operation Gomorrha“ trugen.

Die USA machten es nach
Viele schlesische Flüchtlinge starben am 13./14. Februar 1945 völlig sinnlos in der Feuerhölle von Dresden. Ungeachtet der politisch festgezurrten Gesamtopferzahl von „höchstens 25.000“ gibt es seriöse Schätzungen, die auf ein Mehrfaches dieser Menge hindeuten. Am 23./24. Februar 1945 verschwand die badische Fachwerk-Idylle Pforzheim von der Landkarte. 17.600 unschuldige Einwohner verloren ihr Leben im Feuerregen. „Pforzheim zerkochte zu Lava, als hätten die Zyklopenfäuste anderer Erdzeitalter zugeschlagen“ (Jörg Friedrich).

Die US-Luftstreitkräfte ließen sich von den Massakern inspirieren. Am 12. März 1945 richteten sie im vorpommerschen Ostseehafen Swinemünde bei einem „Verkehrsangriff auf Rangierbahnhöfe“ (Annalen der 8. US-Flotte) ein Blutbad an, dem möglicherweise bis zu 23.000 Menschen, vor allem Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, zum Opfer fielen.

Verstoß gegen das Völkerrecht
Symbolfigur des britischen Terrorluftkriegs war der Oberbefehlshaber des Bomber Command Marshal of the Royal Air Force Arthur Harris, der in Königsberg eines seiner brutalsten „Meisterwerke“ ablieferte. Er war ein Offizier nach dem Geschmack Churchills. Fanatischen Diensteifer und das rassistische Flair eines „Kolonialherrn“ offenbarte Harris 1922 als Kommandeur einer Transportstaffel im heutigen Irak. Die Besatzungen ließ er Sprengbomben auf Aufständische abwerfen: „Araber und Kurden lernen jetzt, wie man in dreißig Minuten ein ganzes Dorf auslöschen kann.“ Hinzu kam sein eliminatorischer Hass auf „Boches“. Anfang 1942 gab er die Richtung vor: „Wir müssen noch viele Boches umbringen, bevor wir diesen Krieg gewinnen.“

1946 inszenierte sich dieser Menschenverächter als Wohltäter: „Trotz allem, was in Hamburg geschah, erwies sich das Flächenbombardement als vergleichsweise humane Methode.“ Harris' eigenwillige Logik: Die aus der Luft gemeuchelten Zivilisten hätten, anders als bei der britischen Seeblockade des Ersten Weltkriegs, nicht lange leiden müssen. Seine gekünstelte Rechtfertigungsprosa verschweigt die Untauglichkeit des Morale-Bombing-Konzepts. Weder Zivilisten noch kämpfende Soldaten ließen sich dadurch kriegsentscheidend entmutigen. Anders als Präzisionsangriffe der US-Luftstreitkräfte trug das britische Flächenbombardement kaum zur deutschen Kapitulation bei.

Die Frage nach humanitärem Kriegsvölkerrecht wies Harris 1946 zurück. War der Doppelangriff auf Königsberg kriegsrechtlich erlaubt? Dafür könnte sprechen, dass die Vertragsstaaten der Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 (HLKO) über taktische Luftunterstützung an der Front, jedoch nicht über − damals unrealistische − strategische Bomberoperationen im Hinterland debattiert hatten. Allerdings ist das Gesetz „klüger als der Gesetzgeber“ (Gustav Radbruch, Rechtsphilosoph und SPD-Reichsjustizminister 1921/23). Die Auslegung einer Rechtsnorm verlangt den Rückgriff auf Sinn und Zweck dieser Norm. Sinnvoll anwenden lässt sich die HLKO nur im Lichte ihrer Zivilschutzidee. Daraus folgt, dass die vom Wortlaut in etwa passenden Artikel 23 b und g, 25 und 27 HLKO die Vernichtungsangriffe auf Königsberg, Hamburg und Dresden tatsächlich verboten haben.


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Kommentare

Wolfgang Wilhelm am 13.09.24, 17:21 Uhr

Ein hilfreicher Artikel, der an Kriegsverbrechen erinnert, die in D bis heute umgedeutet, relativiert und vergessen werden. Harris selbst wird in UK durch eine Statue immer noch geehrt - für die Ermordung von Frauen und Kindern. Nicht einmal 80 Jahre danach können sich die "Sieger" kritisch zu ihren Untaten stellen, oder gar um Verzeihung bitten. Wenn aber Völker und Regierungen die Verantwortung für all ihre Handlungen (auch für vergangene) nicht vollständig überprüfen und annehmen, gibt es keine wirkliche Vertrauensbasis für jetzt und die Zukunft.

David L am 05.09.24, 00:53 Uhr

Ich bin ein Australier mit ostpreußischen Vorfahren (meine Vorfahren wanderten 1870 aus Goldap aus). Australische RAAF-Bomber waren auch am Brandbombenangriff auf Königsberg beteiligt.

(RAAF-Staffeln waren auch an den Brandbombenangriffen auf Dresden und Hamburg beteiligt).

Ich glaube nicht, dass sich mein Land jemals für diese Aktion entschuldigt hat. Tatsächlich bin ich zufällig auf eine offizielle Militärwebsite einer der Staffeln gestoßen, die offenbar noch heute existiert, auf der sie mit ihrer Beteiligung am „legendären“ Angriff auf Dresden prahlten.

2017 besuchte ich Deutschland und entschied mich, einen Teil meines Urlaubs in Dresden zu verbringen. Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig war, dem Bösen persönlich in die Augen zu sehen. Ich war an einem Sonntag dort und besuchte daher einen Gottesdienst in der Kreuzkirche aus Respekt vor den zivilen Opfern des Kriegsverbrechens und als persönliche Entschuldigung für die Beteiligung meines Landes.

Ebenso möchte ich mich hier bei den ostpreußischen Brüdern meiner Vorfahren für die Rolle der RAAF bei der Zerstörung von Königsberg entschuldigen. Meine tiefsten Gebete gelten allen noch lebenden vertriebenen Flüchtlingen und den Nachkommen der Vertriebenen. Gott segne euch.

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