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Bundeswehr

Flickwerk statt Aufbruch

Die Bundeswehr soll 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ erhalten. Erste Bedarfskalkulationen zeigen schon jetzt, dass dieser Betrag kaum ausreichen wird. Zu groß ist der Rückstand der Armee infolge der jahrelangen Vernachlässigung durch die Politik

Josef Kraus
24.04.2022

Am Sonntag, 27. Februar, drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag eine denkwürdige Rede gehalten. Vor allem die nachfolgende Redepassage wird noch lange nachhallen und nicht nur die Ampelkoalition, die Opposition, die Bundeswehr und die NATO-Partner, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit in Atem halten. Scholz sagte in seiner Rede, die offenbar nur mit wenigen Vertrauten abgestimmt war, wörtlich:

„Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind ... Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren ... Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.“ Scholz fügte hinzu, dass das Zwei-Prozent-Ziel bis 2024 erreicht werden solle.

Ein Versprechen wird aufgeweicht

Nun ist diese Ankündigung rund acht Wochen alt, und schon gibt es ein Gerangel um das Ob und Wie. Über drei Grundsatzfragen wird mittlerweile auch innerhalb der „Ampel“ gestritten. Erstens: Sollen die 100 Milliarden Sondervermögen in den Zwei-Prozent-BIP-Anteil eingerechnet werden, sodass die zwei Prozent darüber erreicht werden? Für die Legislaturperiode bis 2025 wären damit gut zwei Drittel der 100 Milliarden Sondervermögen dahin. Falls das nicht geschehen soll, folgt als zweite Frage: Wie kann man das Zwei-Prozent-Ziel ohne Nutzung des Sondervermögens schultern? 2021 waren es bei einem 47-Milliarden-Etat für die Bundeswehr – je nach Berechnung – zwischen 1,4 und 1,5 Prozent BIP-Anteil. Zwei Prozent würde heißen: Der Etat für die Bundeswehr müsste auf jährlich etwa 65 Milliarden aufgestockt werden. Die dritte Frage lautet: Sollen die 100 Milliarden auch Zwecken zufließen, die nicht unmittelbar mit der Bundeswehr zu tun haben, etwa für Entwicklungshilfe, innere Sicherheit, Zivilschutz usw.? Vor allem die rot-grünen Friedensbewegten innerhalb und außerhalb des Parlaments möchten da kräftig mitmischen.

Auch CDU und CSU bestehen auf einem Mitspracherecht und werden sich hoffentlich kompetenter in die Verteidigungspolitik einbringen, als sie das in 16 Merkel-Jahren und sechs Von-der-Leyen-Jahren getan haben. Immerhin ist das 100-Milliarden-Sondervermögen nur mit einer Ergänzung des Artikels 87 des Grundgesetzes möglich. Damit soll die geltende Schuldenbremse umgangen werden. Gedacht ist an einen neuen Absatz 87a (1a), der sinngemäß in etwa lauten soll: Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten.

Für eine solche Änderung braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit, also auch die Stimmen der stärksten Oppositionsfraktion CDU/CSU. Letztere wiederum legt jetzt schon entschieden Wert darauf, dass die 100 Milliarden ausschließlich der Bundeswehr, und zwar außerhalb des Zwei-Prozent-Ziels, zur Verfügung stehen. Kurz: Die Sache ist noch lange nicht in den berühmten trockenen Tüchern.

Zugleich melden Militärs und Rüstungsfachleute ihren Bedarf an. Es gibt aber noch keine konkrete Liste des Verteidigungsministeriums. Der Wunschkatalog ist jedenfalls riesig. Das hat nichts mit Überehrgeiz zu tun, sondern damit, dass die Bundeswehr seit Jahren nur noch bedingt einsatzfähig ist. Manche Waffensysteme, etwa Hubschrauber, haben einen Klarstand von nur noch 40 Prozent. Nun geht es – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – konkret um folgende Optionen beziehungsweise Bedarfe:

• Einer der größten „Brocken“ sind die längst überfälligen Ausgaben für eine hinreichende Munitions- und Ersatzteilbevorratung (hier geht es um 20 Milliarden). Dass manches Flug- oder Fahrgerät nicht einsatzfähig ist, hat oft schlicht und einfach mit fehlenden Ersatzteilen zu tun. Und wie knapp etwa die Munitionslager gefüllt sind, erkennt man daran, dass die Bundeswehr nur wenig Munition an die Ukraine liefern kann.

• Für eine hinreichende Schutzausrüstung (Helme, Westen, Nachtsichtgeräte); sind zehn Milliarden zu veranschlagen.

Die Bedarfsliste ist lang

• Für 35 Stück des US-Kampfjets F-35A (Stückpreis je rund 100 Millionen) sind 3,5 Milliarden zu veranschlagen. Der für ein gegnerisches Radar schwer auszumachende Tarnkappenbomber F-35 soll den „Tornado“ ablösen, der in die Jahre gekommen ist und bislang Teil der „atomaren Teilhabe“ Deutschlands war. (Am Rande: Als sich der damalige Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Karl Müller, 2018 öffentlich für den Kauf der F-35 ausgesprochen hatte, wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt.)

• Darüber hinaus wird überlegt, ob ein Teil der Eurofighter-Flotte atomwaffenfähig umgerüstet werden soll. Außerdem sollen 15 Eurofighter neu für ECR (Electronic Combat and Reconnaissance = Bekämpfung von Radarsystemen) angeschafft werden. Auch hier geht es vermutlich um einen Zwei- bis Drei-Milliardenbetrag. Noch ungeklärt ist auch die Frage, ob die Luftwaffe für die F35-Boomer-Luftbetankung eigene Tankflugzeuge braucht. Schließlich hat eine F-35 nur eine Reichweite von wenig mehr als 2000 Kilometer.

• Nicht eingerechnet sind die Kosten für das deutsch-französisch-spanische Kampfjetprojekt FCAS (Future Combat Air System). Hier handelt es sich um einen Kampfflieger, der 2040 (!) einsatzfähig sein soll.

• Fünf gewünschte neue Korvetten K130 schlagen mit mindestens zwei Milliarden zu Buche. Notwendig wären zur Sicherung von Nord- und Ostsee zwei weitere U-Boote für rund 1,5 Milliarden.

• Überfällig ist auch ein neuer schwerer Transporthubschrauber, beispielsweise der CH-47F Chinook. Das wird rund fünf Milliarden kosten.

• Vier neue Tanker für die Marine kosten zwei Milliarden.

• Laut „Ampel“-Koalitionsvertrag sollen auch Drohnen angeschafft werden. Welche, wie viele und zu welchen Kosten, ist offen. Offen ist auch, ob die Bundeswehr „Schreit-Roboter“, menschenähnliche Bodendrohnen auf vier Beinen, bekommen soll.

• Die längst überfällige Digitalisierung der Kommunikationssysteme (bislang noch überwiegend analog arbeitend) kostet mindestens drei Milliarden. Selbst diese Zahl scheint schöngerechnet, denn bereits im Jahr 2014 wurde der Umsatz für Verteidigungs- und Sicherheitselektronik in einer Untersuchung für das Bundeswirtschaftsministerium auf etwa 2,8 Milliarden geschätzt.

Zweifel an den Kostenannahmen

• Bislang recht unterschiedlich kalkuliert ist die Errichtung eines „Iron Dome“ (einer Eisernen Kuppel) über Deutschland. Hier geht es um einen Raketenschutzschild gegen feindliche Raketen und Lenkflugkörper. Während die einen hier das israelische System „Arrow 3“ favorisieren und mit zwei Milliarden kalkulieren, sprechen sich andere für das US-System THAAD (Terminal High Altitude Area Defence) aus. Letzteres System hatten die USA 2018 an die Saudis für 15 Milliarden Dollar verkauft. Was nichts anderes heißt, als dass die kalkulierten zwei Milliarden viel zu eng bemessen sind. Schließlich ist die Fläche Deutschlands (357.022 km²) nicht mit der Fläche Israels (22.145 km²) vergleichbar.

• Noch keineswegs mitkalkuliert sind die Kosten, die für neue Kasernen (die Bundeswehr soll um 20.000 Mann wachsen) und für die Renovierung von Kasernen zu veranschlagen sind. Auch hier dürfte es um zweistellige Milliardenbeträge gehen.

• Ebenfalls nicht einkalkuliert ist der bis 2025 geplante Aufwuchs der Bundeswehr von einer Personalstärke von 183.000 auf 203.000 Soldaten. Hier geht es sicher auch um drei Milliarden (jährlich!).

Die Rolle des Beschaffungsamts

Kurz: All die genannten Optionen sind überfällige und notwendige Anschaffungen. Mit Kaufrausch oder viel gescholtenen „Goldrandlösungen“ hat das nichts zu tun. Denn im Grunde werden nur Löcher gestopft, die längst hätten gestopft werden sollen.

Jetzt kommt es darauf an, dass es nicht wieder wegen Missständen im Koblenzer Beschaffungsamt der Bundeswehr zu Flops kommt. Dieses Amt mit seinen rund 11.000 Mitarbeitern an 116 Standorten bearbeitet übrigens einen Artikelbestand von zwei Millionen Produkten und wacht darüber, dass bei jedem einzelnen Produkt nicht nur ökonomische Aspekte Berücksichtigung finden, sondern alle gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Im Falle des Schützenpanzers Puma sind es 117 gesetzliche Bestimmungen.

Hinzu kommt allerdings auch der deutsche Sonderweg der Bundeswehr als „Parlamentsarmee“: Nicht nur jeder Auslandseinsatz der Bundeswehr, sondern jeder Beschaffungsauftrag, der 25 Millionen Euro übersteigt, muss vom Bundestag genehmigt werden. Dies zur Entkräftigung des Vorwurfs der Schwerfälligkeit der „Koblenzer“.

Kann die Rüstungsindustrie mithalten?

Eine wichtige, ja entscheidende Frage stellt sich zugleich: Ist die deutsche Rüstungsindustrie in der Lage, all dies zu stemmen? Auf die US-Rüstungsindustrie zu setzen verbietet sich nicht nur, weil deren Kapazitäten auf Dauer schon heute weitestgehend ausgelastet sind. Generell dürfte der Rückhalt in der Bevölkerung schnell schrumpfen, wenn sich das 100 Milliarden schwere Sondervermögen der Bundeswehr (das nicht zuletzt von deutschen Steuerzahlern getragen wird) schon bald als Konjunkturprogramm für die US-Wirtschaft herausstellen sollte.

Allerdings hat die deutsche Rüstungsindustrie in den letzten Jahren ein ständiges Auf und Ab erlebt. Einen Einbruch erlebte sie nach 1990, als man meinte, nun sei das Ende aller Konflikte erreicht. Gleichwohl gehört Deutschland zu den vier größten Waffenexporteuren der Welt. Daher sollte die deutsche Rüstungsindustrie kurzfristig auch die Produktionskapazitäten für den Heimatmarkt ausbauen können.

Bei dem Riesenkonvolut an Aufgaben stellt sich jedoch noch eine andere Frage: Die sinnvolle Verwendung der 100 Milliarden Sondervermögen und das Erreichen eines Zwei-Prozent-BIP-Anteils für die Verteidigung braucht an der Spitze des Verteidigungsministeriums – um im Militärjargon zu bleiben - ein großes politisches Kaliber. Die seit Dezember 2021 amtierende Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD) ist dies wohl nicht.

• Josef Kraus war von 1991 bis 2014 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung des Bundesministers der Verteidigung. Zusammen mit Richard Drexl veröffentlichte er 2019 „Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (Finanzbuch-Verlag, 2., vollständig überarbeitete Auflage 2021).
www.m-vg.de


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Kommentare

Michael Holz am 25.04.22, 22:38 Uhr

Herr Kraus, seien wir doch froh, dass die Bundeswehr am Boden liegt. Da kann sie keinen Schaden anrichten. Und im Falle eines Krieges haben wir ja "die Wacht am Rhein" und einen Angriff aus dem Osten werden unsere polnischen Freunde abwehren. Im Süden haben wir das tapfere Östereich und die Dänen haben ja schon ihre Düppler Schanzen zurück, oder nicht? Ich lehne mich also im Sessel zurück und werde die Meldungen, dass der/das Fallout aus Mitteleuropa nach Südosten geblasen wird, einfach ignorieren. Ach so, ich bin ein "Putinversteher", ich verstehe ja auch meine Frau, mit der ich nicht immer gleicher Meinung bin (;=D)).

Jan Kerzel am 24.04.22, 12:23 Uhr

Das bundesdeutsche Illusionstheater , Politik genannt, kommt nun schneller als gedacht an sein Ende. Sukzessive fällt das Kartenhaus in sich zusammen. Stresstests waren da auch nicht vorgesehen. Wie gerne hätte man weiter das Lied vom besten Deutschland aller Zeiten gesungen. Schade, nun ist es vorbei. Dass es so lange gedauert hat, ist in erster Linie einer angepassten stoischen Bevölkerung zu verdanken, deren Denken überwiegend konsumorientiert ist. Solange dies halbwegs stimmte, konnte man ihr jeden destruktiven Mist problemlos aufs Auge drücken. Dieses Wohlstandsversprechen ist nun als Luftnummer enttarnt. Wolke Sieben hat sich verzogen und die Wolkenschieber stehen etwas ratlos da. Ausgerechnet jetzt , wo es so schön war und die Weltrettung bereits auf der Agenda stand.

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