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Nach Volkszählung und Umfrage: Vor 100 Jahren wurde der baltische Staat Küstenanrainer
In Polangen bei Memel wird anlässlich der Rückkehr des Küstenstreifens um das Seebad Polangen vor 100 Jahren, in Litauen ein eigenes Gedenkjahr gefeiert.
Ebenso wie Deutschland nach 1945 eine kleine Wiedervereinigung 1957 mit dem Saarland und 1990 eine große mit der Deutschen Demokratischen Republik feiern konnte, feierte auch die erste Republik Litauen nach 1919 zwei Vereinigungen – 1921 die kleine mit der Küstenregion Polangen und 1923 die große mit der Stadt und dem Land Memel. Der Gebietsaustausch um die Küstenregion um Polangen, der aus Litauen ein Küstenland machte, jährte sich vor wenigen Wochen zum
100. Mal und er wird mit einem Gedenkjahr feierlich begangen. Das dürfte ein Vorgeschmack darauf sein, wie der Staat Litauen den 100. Jahrestag der Annexion des Memelgebietes 2023 feiern wird.
Die meisten Litauer wissen heutzutage kaum noch, dass ihr Staat bei seiner Unabhängigkeit 1918 ein Binnenland war. Der 20 Kilometer breite Küstenstreifen zwischen dem Memelgebiet und dem Territorium von Lettland gehörte nach 1918 zuerst zum Staat Lettland. Erst am 31. März 1921 bekam der Staat Litauen durch einen Gebietsaustausch mit Lettland einen ersten Zugang zum Meer. Zum Auftakt des Gedenkens an den 100. Jahrestag gab es einen staatlichen Festakt, bei dem die Bürgermeister von Polangen, Šarūnas Vaitkus, und der der Nachbarstadt Memel, Vytautas Grubliauskas, teilnahmen.
Von Nimmersatt bis Heiligenau
Schon zur deutschen Ordenszeit war das Küstengebiet bei Polangen, das die Landverbindung zwischen den baltischen und pruzzischen Ordensgebieten ausmachte, umstritten und umkämpft. 1819 hatte der russische Zar Alexander I. den Bezirk Polangen von der Provinz Wilna getrennt und sie der Provinz Kurland mit der Hauptstadt Libau zugeordnet.
Diese Abtrennung geschah auf Wunsch der kurländischen Grundbesitzer, die große Ländereien in dieser Region besaßen. 100 Jahre später, 1918, als die Staaten Litauen und Lettland aus der Erbmasse des Zarenreiches hervorgingen, stellte sich die Frage, wo die Grenze dieser Staaten liegen solle. Die sprachlichen Verhältnisse waren nicht eindeutig, weil die beiden eng verwandten baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch in den Grenzgebieten beider Länder in eine Mischsprache übergingen.
Nachdem Lettland seine Unabhängigkeit ausgerufen hatte, erklärte es sofort, dass die Staatsgrenze zu Litauen mit der Grenze des Kurlandes zusammenfallen müsse. Die Litauer beriefen sich hingegen auf historische und wirtschaftliche Argumente. Es wurde keine Einigung zwischen den beiden Ländern erzielt.
Seit dem Herbst 1918 hatte es ein Jahr lang keine stabilen Verhältnisse im Küstengebiet zwischen Memel und Kurland gegeben. Eine Zeit lang gab es deutsche, litauische und lettische Verwaltungen und Polizisten gleichzeitig. 1919 besetzten lettische Einheiten den gesamten Küstenabschnitt von Nimmersatt bis Heiligenau [Šventoji]. 1920 wurde Lord James Young Simpson, Professor aus Edinburgh, zum Vorsitzenden einer Schiedskommission ernannt. Die Schiedskommission hatte fünf Mitglieder, bestehend aus zwei Vertretern aus jedem Land und dem britischen Vorsitzenden. Falls beide Parteien keine Einigung erzielten, hatte der Vorsitzende eine endgültige, nicht anfechtbare Entscheidung zu treffen.
Kommission traf Entscheidung
Die Kommission arbeitete vom 29. Dezember 1920 bis zum 20. März 1921.Ihre Mitglieder führten eine Volkszählung und eine Umfrage durch. Eine Mehrheit der Küstenbevölkerung entschied sich für Litauen. Mit der am 21. März 1921 durch Lord Simp-son verkündeten endgültigen Entscheidung wurde die litauische Grenze zu Lettland am Meer 4,5 Kilometer nördlich von Heiligenau festgelegt und das Fischerdorf Nidden Lettland überlassen.
Am 30. März zogen sich die lettischen Zivil- und Militärbehörden, gemäß der Entscheidung der Schiedskommission, aus Polangen zurück. Ostpreußen war jetzt kein Nachbar von Lettland mehr. Am nächsten Tag fanden auf dem Birutė-Hügel große Feierlichkeiten statt. Dieses Datum wurde zu einem Feiertag für ganz Litauen, und James Y. Simpson wurde mit dem Gediminas-Orden ausgezeichnet, nach ihm wurde eine Straße in Polangen benannt. Mit der Rückgabe von Polangen bekam Lettland jedoch ein fast doppelt so großes Gebiet im Norden von Litauen als Ausgleich.
Die genaue Vermessung dieser Gebiete dauerte noch Jahre. Um den einstigen deutschen Grenzort Nimmersatt [Nemirseta], bekannt aus dem Spruch: „Nimmersatt und Immersatt, dort wo das Reich ein Ende hat“, gibt es noch eine Besonderheit. Dieser einst nördlichste Ort Deutschlands gehörte bis 1989 zum Memelland. Er wurde jedoch infolge einer Gemeindereform nach der Entstehung der zweiten litauischen Republik in die Stadt Polangen eingemeindet.