21.09.2024

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Brot für die Kinder: Die erste Begegnung von Werther und der Brot schneidenden Lotte (Buchillustration um 1865)
Foto: ThiedeBrot für die Kinder: Die erste Begegnung von Werther und der Brot schneidenden Lotte (Buchillustration um 1865)

Kunst

Gefühlswallungen eines Stürmers und Drängers

Vor 200 Jahren erschien Goethes „Werther“ – Aus Anlass des Jubiläums veranstaltet das Stadtmuseum Wetzlar eine Sonderschau

Veit-Mario Thiede
20.09.2024

Pünktlich zur Leipziger Michaelismesse am 29. September 1774 erschien Johann Wolfgang Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Er umfasst Briefe, die Werther an seinen Freund Wilhelm schrieb, sowie den Abschnitt „Der Herausgeber an den Leser“, der von Werthers Selbstmord erzählt. Die tragische Geschichte erregte großes Aufsehen und gilt als erster weltweit gelesener Bestseller. Wetzlar feiert ihn im Stadtmuseum, Lottehaus und Jerusalemhaus mit einer umfangreichen Jubiläumsausstellung. Sie zeigt, dass Lotte und Werther in künstlerischen Zeugnissen bis heute fortleben.

Goethe war 1772 in Wetzlar Praktikant am Reichskammergericht. Vier Wochen nach seiner Abreise brachte sich in Wetzlar ein Bekannter von ihm um: der braunschweigische Legationsrat Carl Wilhelm Jerusalem. Im „Jerusalemhaus“ dienen die zwei Zimmer, die er bewohnte, als Gedenkstätte. Den Selbstmord verübte er mit einer Pistole, die er sich von Johann Christian Kestner geborgt hatte. Kestner schrieb einen ausführlichen Bericht über die Geschehnisse: Jerusalem litt unter den Schikanen seines Vorgesetzten und der unglücklichen Liebe zur Gattin eines Kollegen. Goethe ließ sich von seinem Freund Kestner den Bericht schicken. Aus ihm bezog er Anregungen für seinen vor 250 Jahren verfassten Roman.

Beim Praktikum in Wetzlar verliebte sich Goethe unglücklich in Charlotte Buff, die nach dem Tod der Mutter ihre elf jüngeren Geschwister umsorgte. Das „Lottehaus“, in dem Goethe damals Dauergast war, ist mit historischen Möbeln und Erinnerungsstücke der Buffs ausgestattet. Goethes Freund und Nebenbuhler Kestner heiratete 1773 Charlotte.

In der Ausstellung werden uns diese in Figuren des Romans verwandelten Akteure mit Porträts vorgestellt. Aus Charlotte wird Lotte, aus Kestner ihr Verlobter und späterer Ehemann Albert. Aus Jerusalem wird der mit den Gefühlen Goethes ausgestattete Werther. Der Roman kombiniert Dichtung und Wahrheit.

Die Pistole, mit der sich Jerusalem erschoss, ist ebenso zu sehen wie ein Exemplar der im Verlag der Weygandischen Buchhandlung zu Leipzig erschienenen Erstausgabe des „Werthers“. Sie wurde anonym und ohne Illustrationen veröffentlicht. Besser stattete hingegen der Berliner Verleger Himburg 1775 seinen Raubdruck aus. Er wartet mit den von Daniel Nikolaus Chodowiecki entworfenen Idealporträts Lottes und Werthers auf, unter denen jeweils eine Schlüsselszene abgebildet ist. So die berühmte „Brotschneideszene“: Die von den Geschwistern umringte, freundlich dreinschauende Lotte schneidet ihnen Scheiben von einem Laib Brot ab. Werther, der sie zum Ball abholt, steht in der Tür und erblickt Lotte zum ersten Mal.

Lotte verwandelt sich zum Zombie
Unter dem Idealporträt des melancholisch dreinblickenden Werther befindet sich die so genannte „Abschiedsszene“. In einer Mondnacht sitzen Albert und Lotte auf einer Bank, vor der Werther kniet und die Hand seiner Angebeteten küsst. Werther zieht an einen anderen Ort, kehrt jedoch nach einiger Zeit zurück – und das Unglück nimmt seinen Lauf. Das traurige Ende des Titelhelden zeigt der von Chodowiecki entworfene Kupferstich „Werther auf dem Totenbett“.

Gemäß dem Beispiel des Raubdruckers Himburg befinden sich in vielen nachfolgenden „Werther“-Ausgaben Illustrationen der Schlüsselszenen. In der „Klavierszene“ lauscht Werther der musikalischen Darbietung Lottes. Unversehens wird ihm die Aussichtslosigkeit seines Liebesbegehrens klar: „Ich neigte mich, und ihr Trauring fiel mir ins Gesicht – meine Tränen flossen.“ Es folgt die „Liebesszene“.

Der zum Selbstmord entschlossene Werther trägt bei seinem letzten Besuch Lotte einen schwermütigen Gesang seines Lieblingsautors Ossian vor, was beiderseits zu starken Gefühlswallungen führt: „Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, presste sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen.“

Das Liebesglück dauert jedoch nur einen kurzen Moment: „In ängstlicher Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie: ‚Das ist das letzte Mal, Werther! Sie sehen mich nicht wieder'.“ Der nun von ihrer Liebe überzeugte Werther geht heim und erschießt sich. Neben den Buchillustrationen sind Graphikfolgen und Einzeldrucke sowie Fächer, Porzellan und Broschen ausgestellt, die mit den Porträts oder Schlüsselszenen des tragischen Liebespaares geschmückt sind.

Ausstellungskuratorin Angelika Müller-Scherf berichtet: „Die komplexe Wirkungsgeschichte von Goethes Roman ist seit seinem Erscheinen bis heute ungebrochen.“ Aus dem zunächst europäischen Erfolg ist längst ein weltumspannender geworden. Der „Werther“ ist in mehr als 60 Sprachen übersetzt.

Überdies regt er zu einer Reihe von Neuinterpretationen an. Walt Disneys in Entenhausen spielende Bildergeschichte heißt „Die Leiden des jungen Ganthers“ (2010). In Susanne Picards Horror-Roman „Die Leichen des jungen Werther“ (2011) verliebt sich der Titelheld in Lotte, deren Teint einen merkwürdig grünlichen Schimmer aufweist. Das Titelbild des Horror-Romans stammt von Jürgen Speh. Er ließ sich von Wilhelm von Kaulbachs berühmter Druckgraphik der „Brotschneideszene“ (1859–1861) zu einer haarsträubenden Neuinterpretation anregen: Lotte und ihre Geschwister sind zu gefräßigen Zombies geworden. Aber Werther lebt: Mitte September kommt die im heutigen Toronto spielende Liebeskomödie „Young Werther“ in die Kinos.

Bis 26. Januar im Stadtmuseum, Lottehaus und Jerusalemhaus. Alle Infos unter: www.wetzlar.de/museum


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