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Politik

Aussichten auf eine grüne Republik

Während die Spitzenkandidatin Annalena Baerbock zum Medienliebling avanciert, lohnt ein Blick in das Wahlprogramm der Öko-Partei: Was erwartet die Deutschen unter einer grünen Kanzlerin?

Holger Fuß
30.05.2021

Nachdem die Grünen am 19. April ihre Parteivorsitzende Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin ausriefen, schien es in den Tagen darauf, als sei die Bundestagswahl damit bereits entschieden. Zeitungskommentare ließen euphorische Phrasenballons zur möglichen ersten grünen Kanzlerin aufsteigen, TV-Stationen von Pro Sieben über ARD bis ZDF veranstalteten mit Baerbock kritikarme Fragestunden. Der „Spiegel“ titelte „Die Frau für alle Fälle“ und erklärte, „warum keiner mehr an ihr vorbeikommt“. Der „Stern“ jauchzte auf dem Cover: „Endlich anders“, sein Bilderblatt-Beiboot „View“ hielt Kurs mit: „Erfrischend anders“. Es war, als ob die bislang eher obrigkeitsbeflissene Journalistenschar auf einmal überdrüssig sei von dem alten weißen Mann, der unter dem Namen Angela Merkel seit 16 Jahren im Kanzleramt regiert.

So sehr Deutschland ein Land der Sicherheit und der emotionalen Diskretion ist, so anfällig ist es zwischendurch für den begeisterten medialen Spielmannszug, der das beflissene Einerlei für kurze Zeit mit dem Tagtraum vom Aufbruch ins Lebendigsein erfüllt. Was das Fußball-WM-Sommermärchen 2006 an Begeisterung entfachte, vermochte im Frühjahr 2017 der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nur kurzzeitig zu entzünden. Und nun werden im linksliberalen Milieu alle Hoffnungen auf eine pausbäckige Trampolinspringerin gesetzt, die zwar über keinerlei Verwaltungs- und Regierungserfahrungen verfügt, sich aber für kanzlerfähig hält. Denn, so sagte sie bei „Anne Will“: „Ich bin jemand, der lernfähig ist, der schnell lernt.“

Agenda für die „Lifestyle-Linke“

Eine Kanzlerin, die erst übt, steht uns bevor. „Ich trete an für Erneuerung“, tönt sie vollmundig, „für den Status quo stehen andere.“ Der Begriff Erneuerung klingt wie eine Drohung, die SPD versucht sich daran seit Sigmar Gabriels Antritt als Vorsitzender – und das Ergebnis sind Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Auch bei den Grünen lässt die Ankündigung einer politischen Morgenröte keine rechte Zuversicht aufkommen. An der Spitze der Partei stehen eine nassforsche Annalena Baerbock („Ich habe es mir zugetraut“), die einem schon bei der Vorstellung, sie solle als Kanzlerin mit Kriegsparteien oder Despoten verhandeln, die Gänsehaut über den Rücken jagt – sowie ein larmoyanter Robert Habeck, der noch am Tage der Verkündigung von Baerbocks Spitzenkandidatur den Interviewern der „Zeit“ verriet: „Ich bin nach Berlin gegangen, um die Partei in die Position zu bringen, dass sie den Kampf um die Kanzlerschaft führen kann. Jetzt schaffen wir das, das ist der süße Anteil. Aber ich werde diesen Kampf nicht von der Spitze aus führen, wie ich es wollte. Das ist der bittere Teil.“ So durchsetzungsschwach hat wohl kaum jemals einer für das Amt des Regierungschefs öffentlich geliebäugelt.

Dass sich die Ökopartei mit dieser Außendarstellung in den Sonntagsfrage-Erhebungen mit der Union einen abwechslungsreichen Wettlauf liefert, ist nicht verwunderlich. Seit Angela Merkel ihre CDU zu einer zweiten Sozialdemokratie umgebaut hat, teilen Grüne und Christdemokraten jene Teile des bürgerlichen Lagers unter sich auf, dessen Lebensgefühl die feinfühlige Links-Politikerin Sahra Wagenknecht in ihrem jüngsten Buch „Die Selbstgerechten“ mit dem Ausdruck „Lifestyle-Linke“ treffsicher etikettiert hat.

Entsprechend kann eine Kanzlerin Baerbock durchaus als Fortsetzung der Ära Merkel gelten, die in ihren 16 Jahren in der Hauptsache eine linksliberale Agenda abgearbeitet hat: von der Energiewende, die inzwischen als gescheitert zu nennen ist, über die Ehe für alle, die eine Art Startschuss zu einer Inflation identitätspolitischer Kulturkämpfe darstellt, bis hin zur Flüchtlingspolitik, mit der wir uns muslimischen Antisemitismus ins Land holten. Auch die Eintracht bei den Corona-Maßnahmen zwischen der Bundesregierung und der kleinsten Oppositionspartei legt die politische Nähe von Merkel und Baerbock offen.

Parallelen zur Union

Dass vaterlandsverdrossene Grüne verlangten, aus dem Titel ihres Wahlprogramms „Deutschland. Alles ist drin.“ das Wort „Deutschland“ zu streichen, erinnert an die Siegesfeier der CDU nach der Bundestagswahl 2013, als Angela Merkel ihrem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe ein Deutschland-Fähnchen aus der Hand rupft und es verstohlen von der Bühne entfernt. Wie die Union stellen sich auch die Grünen als Partei der Besitzstandswahrung auf. Gleich zu Beginn heißt es im Wahlprogramm: „Wir schaffen klimagerechten Wohlstand“.

Überhaupt könnten die Kapitelüberschriften der Grünen-Agenda genauso auch im Wahlprogramm der Union von Armin Laschet und Markus Söder stehen: „Wir schaffen Versorgungssicherheit mit Erneuerbaren“, „Wir sorgen für nachhaltige Mobilität“, „Wir bringen die Digitalisierung voran“, „Wir machen Finanzmärkte stabiler und nachhaltiger“, „Wir haushalten solide, weitsichtig und gerecht“, „Wir fördern Kinder, Jugendliche und Familien“ und „Wir ermöglichen lebenslanges Lernen“.

Erst der Blick in die Details des grünen Wahlprogramms macht deutlich, dass aus der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards „eine sozial-ökologische Neubegründung unserer Marktwirtschaft“ werden soll. Was dies sein soll, bleibt unklar. Irgendetwas mit fairen Preisen, klimagerechtem Handeln und dem Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen jedenfalls. Und „damit Klimaschutz sozial gerecht ist“, wollen die Grünen ein „Energiegeld einführen“. Nachdem nämlich alle die CO2-Bepreisung bezahlen, bekommt „jede*r Bürger*in“ ein Energiegeld, „und zwar fair aufgeteilt pro Kopf“. Eine Umverteilung von oben nach unten nach Baerbock-Art: „Unterm Strich werden so Geringverdiener*innen und Familien entlastet und vor allem Menschen mit hohem Einkommen belastet.“ Fehlt nur noch der Hinweis auf ein unbürokratisches Verfahren, womöglich nach dem Vorbild der verlässlichen staatlichen Hilfen in der Corona-Krise.

Ein ähnlicher Bürokratie-Moloch dürfte das Vorhaben sein, „auf jedes Dach eine Solaranlage“ zu installieren, „eine Energiewende, bei der alle mitmachen können – Mieter*innen wie Hausbesitzer*innen“. Offenbar wissen die Programm-Autoren nicht, dass Mieter*innen keine baulichen Veränderungen am Haus vornehmen dürfen, dies ist den Hausbesitzer*innen vorbehalten. Dabei wäre es praktischer, die Dächer öffentlicher Bauten mit Solarzellen aufzurüsten, anstatt umständlich Privathäusern Fördergelder zu bewilligen. Nach Berechnungen des 2010 verstorbenen sozialdemokratischen Solarpapstes Hermann Scheer benötigten wir „5.000 Quadratkilometer Solarzellenfläche. Das ist weniger als zehn Prozent der in Deutschland überbauten Fläche“.

Das „Ende des Mülls“

Auch bei der Mobilität soll ein „Bonus-Malus-System in der Kfz-Steuer“ greifen. Ab 2030 gilt „eine ansteigende nationale Quote für emissionsfreie Autos“, das bedeutet Elektromobilität und die Verspargelung des Landes durch „den flächendeckenden Ausbau einer einheitlichen Ladeinfrastruktur, inklusive Schnellladesäulen und öffentlicher Ladepunkte im ländlichen Raum“. Für Landstriche, die weder Landarzt, noch Dorfpfarrer, noch eng getaktete Nahverkehrsanbindung haben, ein anspruchsvolles Unterfangen.

Auch bei der Abfallentsorgung zeigen sich die Grünen frohen Mutes. Sie glauben an „das Ende des Müll“, denn „die Kreislaufwirtschaft wird das neue Normal“. Hierzu „wollen wir das komplizierte Pfandsystem entwirren. Jede Flasche soll in jeden Pfandautomaten passen, den To-go-Mehrwegbecher machen wir bis 2025 zum Standard“. Intelligenter wäre es, die Industrie auf recyclingfähige Produktionsweisen zu verpflichten, etwa nach Art des Cradle-to-Cradle-Systems des Hamburger Chemikers Michael Braungart, wonach sämtliche Bestandteile unserer Erzeugnisse in einem biologischen oder einem technischen Kreislauf zirkulieren. Braungarts Konzept wird seit 20 Jahren in aller Welt erprobt, im Grünen-Wahlprogramm wird es nicht erwähnt.

Stattdessen werden die Kulturkreativen umgarnt („eine der am meisten unterschätzten Branchen“) und Förderprogramme verheißen sowie „Gründungsförderung aus der Arbeitslosigkeit“. Damit soll die Zielgruppe der akademischen Unterschicht gewonnen werden, die seit der Corona-Krise die Jobcenter bevölkert und sich mit Fortbildungsmaßnahmen die Zeit des Lockdowns vertreibt.

Sozialhilfe mit gutem Gefühl

Für die übrigen Jobcenter-Kunden wollen Grüne „Hartz IV überwinden und ersetzen es durch eine Garantiesicherung“. Das ist eine Sozialhilfe mit gutem Gefühl, „eine Mindestsicherung, die nicht stigmatisiert und die einfach und auf Augenhöhe gewährt wird“. Womöglich wird im Publikumsverkehr sogar das Duzen verpflichtend eingeführt.

Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden, damit „Jugendliche in ihrem Lebensalltag demokratische Erfahrungen machen“. Das erinnert ein bisschen an Annalena Baerbocks festem Vorsatz, ganz schnell zu lernen, sobald sie ins „Kanzlerinnenamt“ gewählt ist. Und weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk traditionell Grünen-freundlich arbeitet, stehen diese „zu einem pluralistischen, kritischen und staatsfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunk für alle und arbeiten dafür, dass er stark und zukunftsfest aufgestellt ist“.

Nicht so allerdings zum Verfassungsschutz, der „Vertrauen verspielt“ hat, „als er sich auf dem rechten Auge blind zeigt“. Bekanntlich gilt: „Mit dem Zweiten sieht man besser!“ Darum wollen die Grünen den Verfassungsschutz strukturell neu aufstellen, insbesondere „mit einem unabhängigen, wissenschaftlichen und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft aus öffentlichen Quellen arbeitenden Institut zum Schutz der Verfassung“. Indes: Wer kontrolliert dieses Institut, während ein verkleinertes „Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr“ mit „rechtsstaatskonformen nachrichtendienstlichen Mitteln“ die Zivilgesellschaft observiert?

Auf dem linken Auge blind

Denn in der Gesellschaft brodelt es, darum „wollen wir den privaten Waffenbesitz tödlicher Schusswaffen weitestgehend beenden“ und die „mehr als 32.000 Rechtsextremist*innen in Deutschland“ bekämpfen, dies müsse „Priorität für alle Sicherheitsorgane haben“. Über Linksextremisten wird kein Wort verloren, vermutlich werden sie im erwähnten Institut zum Schutz der Verfassung in Vollzeit beschäftigt.

Zum Schluss zeigt sich das Grünen-Papier versöhnlich: „Wir treten ein für Frieden und Sicherheit“. Das wäre unter einer grünen Bundeskanzlerin auch zu hoffen. Und so „gestalten wir unsere Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik feministisch“. Überhaupt: „Unsere Staatlichkeit soll bunter und feministischer werden.“ Aber Frau Baerbock weiß, dass sie ohne bürgerliche Mitte keine Mehrheit erhält. Deshalb gibt sie im Nachwort des Wahlprogramms Entwarnung: „Ja, unsere Vorhaben sind ambitioniert. Und nein, wir können nicht versprechen, dass jedes Projekt genau so Wirklichkeit wird.“ Wem mag dies kein Trost sein?

• Holger Fuß schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
www.m-vg.de


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Kommentare

sitra achra am 03.06.21, 12:55 Uhr

Ich kenne keine Klapse, die bereit wäre, diese extrem Verrückten stationär zu behandeln.

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