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Eine neue Biografie erzählt das Leben des Historikers Ernst Kantorowicz, dessen Gedanken über geistige Anmut heute ebenso aktuell sind wie seine Auffassungen von der Unabhängigkeit gesellschaftlicher Institutionen
„Mein Schmerz ist der, kein Dante zu sein“, bekannte mit einer gewissen Koketterie 1933 Ernst Kantorowicz. Seine Biografie über Kaiser Friedrich II. – 1927 erschienen – war ein sensationeller Erfolg. Er wurde bewundert und angefeindet. Die meisten unter den Fachgelehrten warfen ihm vor, mehr mythisierender Dichter als ein tatsachentreuer Berichterstatter zu sein. Doch Geschichtsschreibung verstand er nicht als ein bloßes Referat von Fakten. Er wollte auch den geistigen Raum erfassen, in dem sich Leben in seinem phantastischen Beziehungsreichtum entwickelte. Dante, der große Dichter, war in diesem Sinne auch ein großer Historiker, ein Welthistoriker, der das Drama konkreter, unerschöpflicher Menschen in ihrer jeweiligen Umwelt vergegenwärtigte. Dante war mitten in seiner Zeit aber auch der große Reichsdenker, der an der universalen Bestimmung des Römischen Reiches – selbst unter deutschen Königen und Kaisern – nicht zweifelte.
Sehnsucht nach geistiger Anmut
Insofern gewann Dante gerade für solche Deutsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung, die in ihrem neuen Reich der industriellen Tüchtigkeit und Wohlstandserwartungen darüber hinaus weisende geistige Absichten vermissten. Sie sehnten sich nach einem Reich, wie einst unter den Staufern mit großen idealen Aufgaben, die auch träge Deutsche allem Kleinlichen entrückten und ihnen eine geistige Vornehmheit und gefällige Anmut verliehen. Diese von ihrer formlosen Modernität enttäuschten Deutschen waren eine Minderheit. Sie verstanden sich als ein vorerst geheimes Deutschland. Kantorowicz gehörte zu diesem geheimen Deutschland, das sich um Stefan George scharte, den Dichter, der in der Geschichte nach Kräften suchte, die ein deutsches risorgimento, einen geistigen Wiederaufschwung, vorbereiten konnten.
Der angeblich mythischem Schauen hingegebene Ernst Kantorowicz, über den Robert E. Lerner, ein amerikanischer Mediävist, 2017 eine Biografie verfasste, die jetzt auf Deutsch erschienen ist, war mit dem praktischen Leben besser vertraut als die meisten Professoren. Er stammte aus einem international angesehenen Unternehmen in Posen, ab 1919 in Berlin, das hervorragende Schnäpse, Liköre sowie Fruchtsäfte herstellte und im Weinhandel tätig war. Der junge Kantorowicz – 1895 geboren – sah seine Zukunft im Familienbetrieb. 1914 meldete er sich allerdings freiwillig zum Kriegsdienst. Sein Mut und seine Gelassenheit imponierten den Kameraden. Nach dem Krieg setzte er sein Studium fort, das er zwei Male kurz unterbrach, um sich in Berlin und München an der Niederschlagung des Spartakusaufstandes und der Räterepublik zu beteiligen. Er kämpfte gegen den Materialismus der Kommunisten.
Über seine politischen Ideen in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist wenig bekannt, auch Lerner weiß dazu wenig zu sagen. Die Eltern und Verwandten von Kantorowicz strebten wie viele deutsche Juden danach, als Wirtschaftsbürger zugleich Bildungsbürger zu sein. Sie waren bewusste Kulturdeutsche gerade in polnischer Umgebung und in Distanz zu den Ostjuden aus Galizien oder Russland.
Von Kantorowicz sind keine Bekenntnisse zu Preußen oder gar zum preußischen Stil überliefert. Stefan George, in dessen Kreis Kantorowicz in Heidelberg seit 1921 geriet, hatte als lateinischer Deutscher vom Rhein ohnehin erhebliche Vorbehalte gegenüber den nur mangelhaft romanisierten „Nordlichtern“. Das „geheime Deutschland“ um ihn herum blickte nicht nach Norden und Osten, sondern suchte den Schimmer vom südlichen Meer im hellenisierten Rom. Denn als Losung stand auf seinen Fahnen: Hellas ewig unsere Liebe.
Das „Geheime Deutschland“ hatte wenig mit parteipolitischen Erwartungen zu tun. Insofern war und bleibt es ein großes Missverständnis, Kantorowicz und sein Buch über Kaiser Friedrich II., an dem George korrigierend und redigierend mitarbeitete, als Ausdruck eines sehr politisierten oder mythisierten preußisch-deutschen Nationalismus zu deuten. Das geheime Deutschland Stefan Georges und seiner Jünger war ein inneres Reich, eine vorbildliche, für sich anspruchsvolle Gemeinschaft. Der große Künder der römischen Reichssendung zur Zeit des Augustus war Vergil. Ihn erwählte sich Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ zum Begleiter, ein anderer vom römischen Reiche ergriffener Dichter, das als besonderer Auftrag mittlerweile deutschen Kaisern übertragen worden war.
George übersetzte einige Gesänge aus der „Göttlichen Komödie“, schrieb ein Gedicht auf den früheren Meister und trat gelegentlich im festlichen Kostüm als neuer Dante auf. Wer zu Georges „Staat“, seiner geistgeprägten Gemeinschaft gehören wollte, musste daher Dante lesen und kennen und die klassischen Sprachen beherrschen, zu denen wegen Dante auch Italienisch gehörte. Deutsche konnten in diesem Sinne nur zu wahren Deutschen werden, sofern sie sich zu Römern bildeten wie unter den Staufern.
Kantorowicz war ein deutscher Römer, der seine ideale patria in Griechenland fand. Das war die geistige Heimat der klassischen Römer, die deswegen nicht ihr Herkommen und ihre besonderen Tugenden verrieten, wenn sie sich von Griechen aus ihrer provinziellen Enge befreien ließen. Deswegen konnten sie ein Reichsvolk werden, das bildend wirkte, gerade auf alle möglichen Barbaren.
Innere Emigration und Flucht
Die Politik wurde allerdings endgültig zur bestimmenden Schicksalsmacht 1933. Kantorowicz, mittlerweile Professor in Frankfurt am Main, musste alsbald seine Vorlesungen abbrechen. Er wartete die vorerst noch unübersichtliche Entwicklung der „nationalen Revolution“ meist in Berlin ab, durchaus noch frei, auch ins Ausland zu reisen. Er hielt sich an die Empfehlungen stoischer Römer, sich im Elend der Gegenwart nicht davon abhalten zu lassen, im eigenen Inneren sein Weltgetümmel zu veranstalten, abseits des großen Haufens mit Büchern und im lebendigen Zusammenhang mit wenigen Freunden, nicht betört vom Lärm der aufgeregten Zeit.
Es waren geistige und geborene, nun meist preußische Aristokraten, mit denen er in Berlin verkehrte. Die Politik, die aggressive Parteipolitik, machte ihm endlich diesen Rückzug in die sich selbst genügende Einsamkeit der Weisen, wie im alten Rom, unmöglich, sodass ihm im Dezember 1938 nur die Emigration als Ausweg blieb.
Er ging mit mannigfachen Manuskripten zuerst nach England und dann in die Vereinigten Staaten, wo er jahrelang in Berkeley an der Universität Kaliforniens mit Jahresverträgen zufrieden sein musste, bis er im Frühjahr 1945 endlich einen Lehrstuhl auf Lebenszeit erhielt. In Kalifornien fühlte er sich wohl. Das nahe San Francisco erinnerte ihn an Neapel und seine von der Sonne Homers verwöhnte Lage. Die Stadt war voller spanischer, also europäischer Reminiszenzen. Dort konnte er sich damit abfinden, dass seine Welt und Europa als Welt von Gestern unterging – ohne Aussicht auf eine Wiedergeburt. Als Genie der Freundschaft und Geselligkeit hielt er sich wie die letzten Römer an die unbefangenen jungen Barbaren, die auf Lebensart und Weisheit – modern gesprochen, auf Bildung – zuweilen neugierig waren.
Aber auch hier brach die Politik in das spätklassische Idyll ein mit der seit dem Beginn des Kalten Krieges ausbrechenden Panik, überall in den USA Kommunisten, nicht zuletzt auch kommunistische Juden, als Wühler zu vermuten, die mit ihren „antiamerikanischen Umtrieben“ die „Freie Welt“ insgesamt in eine Katastrophe stürzen wollten. Die Professoren in Berkeley sollten mit einem Eid beschwören, nie mit Kommunisten etwas zu tun gehabt zu haben und sie unbedingt als Feinde zu verurteilen. Kantorowicz, der mit der Waffe in der Hand einst gegen Kommunisten gekämpft hatte, verweigerte den Eid wie 1933 auf den Führer und Reichskanzler, der vorgab, das Deutsche Reich von antideutschen Umtrieben schützen zu müssen. Er verlor 1950 seinen Lehrstuhl.
Verteidigung der großen Institutionen
Er wehrte sich als deutscher Römer und als Professor und Wissenschaftler gegen Übergriffe der Politik in autonome Institutionen mit eigener Souveränität, die deren Zugriff entzogen sind – Gerichte, die Kirche und die Universität. Professoren dienen, wie er meinte, nicht einer Landesfortbildungsanstalt wie Gärtner, Pförtner oder Putzfrauen. Denn sie bilden – zusammen mit ihren Studenten – die Universität, eine autonome Körperschaft wie „der Staat“ Georges oder Platons Akademie, ungeachtet parteipolitischer Anmaßungen, nur der Wahrheitssuche mit ihrer methodischen Rechtschaffenheit, dem freien Geist und seiner Schönheit verpflichtet. Dieser allein veredelt den Menschen und rettet ihn vor dem Gesinnungsterror leidenschaftlicher Demagogen. Die Politiker haben sich nicht einzumischen in Reiche, die ihrem Zugriff entzogen sein müssen. Daran erinnerte Kantorowicz unumwunden und beharrlich aufgeregte, wehrhafte Demokraten.
Alles lässt sich politisieren oder theologisieren. Der Historiker Ernst Kantorowicz schilderte 1957 in seinem unerschöpflichen Werk „The King's Two Bodies“, wie Gelehrte, Juristen und Philosophen bis hin zum Dichter Dante jeweils politische Theologen und Ideologen in ihre Schranken verwiesen. Sie ebneten dem souveränen Staat und der Autonomie der großen Institutionen – Kirchen, Gerichte und Universitäten – den Weg; in der Absicht, sie in ihrer Eigenmächtigkeit und Selbstständigkeit vor Versuchen zu schützen, sie und die Menschen gesinnungsmäßig und politisch zu erfassen und gleichzuschalten.
Der Wille zur totalen Politisierung hatte Kantorowicz zur Flucht aus Deutschland genötigt. In den USA erfuhr er, dass Demokraten ebenfalls alles politisieren und auf Freund-Feind-Verhältnisse einengen können. Kantorowicz fand eine Zuflucht fern der politisierten Hochschulen im Institute for Advanced Study in Princeton. Sämtlicher Lehrverpflichtung enthoben, keinen unsachlichen Kontrollen ausgesetzt, konnte er in dieser Republik freier Gelehrter forschen und im Verkehr mit ihnen die geistigen Freuden unter aufrichtigen Freunden genießen. Dort befand er sich in einer Gemeinschaft, die dem Ideal von George sehr ähnlich war.
Aber wirklich „begeistert“ und daheim war er nur in den Ferien auf griechischen Inseln, so nah den Ursprüngen seiner alten Welt, der man in Amerika so fern ist.
Robert E. Lerner
Ernst Kantorowicz.
Eine Biographie
Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 554 Seiten, 48 Euro
• Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehört u. a. „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).
eberhard-straub.de