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Gesichter einer Protestbewegung

Am 29. August 2020 fand in Berlin – nach vorherigem Verhinderungsversuch durch den Innensenator – die weltweit größte Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen statt. Ein persönlicher Bericht eines Teilnehmers

Wulf D. Wagner
03.09.2020

Der Himmel meinte es gut mit den Demonstranten in der deutschen Hauptstadt am vergangenen Sonnabend. Nach grauen Regentagen schien am 29. August wieder die Sonne herab auf Berlin, das von dem Stargast Robert F. Kennedy jr. unter größtem Jubel wie einst von seinem Onkel John F. Kennedy zur „Front gegen den Totalitarismus“ erklärt wurde. Ob man diesen Begriff, der sich 1963 gegen den kommunistischen Osten und heute gegen die weltweiten Corona-Restriktionen richtet, als Übertreibung oder nicht empfindet, zeigt bereits die kontroverse Diskussion, in der wir alle stecken. Und egal, ob die Menschen in Deutschland und in der Welt die Corona-Maßnahmen für richtig erachten oder nicht – einig dürften sie sich alle in einem Gefühl der Beklemmung und der Unsicherheit sein. Und wohl die meisten dürfte eine bange Frage bewegen: Was passiert mit uns? Im Augenblick und in Zukunft? Da die Politik eine Antwort darauf nicht geben will oder kann, suchen mehr und mehr Bürger selbst diese Antwort – und tun sich mit anderen gleichsam Fragenden zusammen.

Eine bunte Mischung

Vor diesem Hintergrund fanden sich bereits am 1. August 2020 auf einen Aufruf der Bewegung „Querdenken 711“ hin zehntausende Demonstranten in Berlin zusammen, um ihrem Unbehagen an der gegenwärtigen Lage Ausdruck zu verleihen (siehe PAZ 32/2020). Und vor diesem Hintergrund muss man die Fassungslosigkeit jener besorgten Bürger sehen, als sie Mitte vergangener Woche von dem Versuch des Berliner Innensenators erfuhren, die ihm politisch nicht genehme Demonstration unter dem Vorwand des Infektionsschutzes verbieten zu wollen. Doch der juristische Kampf um diese Demonstration endete in der klaren Entscheidung gegen ihre Behinderung.

Dass der Demonstrationszug am Sonnabend von der Polizeileitung dennoch blockiert worden ist, interessierte zwar einige Medien, die Demonstranten jedoch nicht. Als ich gegen 13.30 Uhr in der Friedrichstraße ankam, war diese mit einer unübersehbaren Menge fröhlicher Menschen gefüllt. So blieb es in der Straße Unter den Linden, die gesamte Straße des 17. Juni entlang bis rund um die Siegessäule und darüber hinaus in die breiten Seitenstraßen des Großen Sterns sowie auf den Wiesen im Tiergarten. Trotz der pauschalen Verleumdungen der Demonstranten im Vorfeld als „Corona-Leugner“, „Reichsbürger“ und „Verschwörungstheoretiker“, strömten Menschen aus ganz Deutschland und weit darüber hinaus zusammen. Eine ältere Dame kam eigens mit einem frühen Bus aus Bonn, um abends begeistert zurückzufahren. Fahnen aus Italien, Russland oder Israel wurden ebenso geschwenkt wie deutsche.

Jedem Teilnehmer war bewusst, dass er hier nicht nur gegen die Macht der Politik und der Medien, sondern auch gegen einen großen Teil der Bevölkerung steht. Nicht jeder sieht in einer solchen Menschenansammlung einen Einsatz für die Meinungsfreiheit, viele sehen darin – angesichts einer Pandemie, von der Politiker und das Robert-Koch-Institut sprechen – eine Unverantwortlichkeit gegenüber den Mitmenschen. Die Macht der Medien ist gewaltig: Eine Frau erzählte mir, dass, obwohl sie in einem Krankenhaus arbeite und wie alle ihre Kollegen von den Corona-Maßnahmen und deren Nebenwirkungen schockiert sei, die Menschen in ihrem privaten Umfeld lieber ARD und ZDF vertrauten. So spalten sich derzeit Nachbarschaften, Familien oder das berufliche Umfeld. Und Politik und Medien, so empfinden es viele, spalten kräftig mit, indem sie sich an der sozialen Ausgrenzung all jener beteiligen, die sich nicht fügen wollen. So gehörte für die meisten Teilnehmer durchaus Mut dazu, nach Berlin zu kommen.

Mut statt Angst

Mut aber ist die Grundvoraussetzung der doch so oft geforderten „wehrhaften Demokratie“. Und da Politik und Medien seit Jahren mit immer neuen Bedrohungsszenarien – wie dem Klimawandel oder jetzt der Corona-Pandemie – die Menschen von einer Angst in die nächste treiben, verkündete der junge Rechtsanwalt Markus Haintz in seiner Abschlussrede, dass nun das „Klima der Angst durchbrochen“ sei, „wir alle Mut gezeigt [haben], und dieser Mut um die Welt [geht].“ Und weiter: „Wir lassen uns nie wieder von Angst leiten“, denn „wir haben eine unfassbare Kraft in uns.“

Wo Politiker anstatt von „Zügel anziehen“ zu sprechen die Bürger verantwortungsvoll beruhigen und stärken sollten, geschieht dies nun durch Menschen, die vor ein paar Monaten in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt waren; neben Markus Haintz Veranstalter Michael Ballweg, Youtuber, Sänger und Liedermacherinnen wie Alex Olivari oder „Alien's Best Friend“ – oder eben Kennedy jr., von dem zumindest ich erst kurz zuvor erstmals hörte, der das große Thema war und der einen gewaltigen Applaus erhielt. Freiheit, Wahrheit, Liebe und Friede – das sollte die Botschaft sein, die an diesem Tag von Berlin in die Welt gesandt wurde.

Zum Friede gehört auch der innere Friede, daher will die Bewegung „Querdenken“ auch endlich Schluss machen mit dem „Klima der Spaltung“ in unserer Gesellschaft. Zitat Rechtsanwalt Haintz: „Wir können uns gerne irgendwann wieder demokratisch streiten, aber momentan haben wir alle das gleiche Ziel.“ Um dies zu erreichen, hatte man die verschiedensten Redner auf die Bühne gebeten, die mit unterschiedlichem Gehalt, Qualität und Unterhaltungswert für ein vielseitiges Programm sorgten: informative Vorträge von „Ärzte für Aufklärung“ und „Anwälte für Aufklärung“, Berichte zweier Polizisten oder eines Schweizer Mädchens, das von den lockereren Maßnahmen in ihrem Land erzählte, freie Journalisten oder Aktivisten wie KenFM oder Heiko Schrang, ein Grünen-Politiker, der von seiner Ausgrenzung innerhalb seiner Partei berichtete, ein etwas in die Jahre gekommener, auf einen neuen Sozialismus hoffender Alt-68er, manch Esoteriker und nicht zuletzt Fußballweltmeister Thomas Berthold – alles im Internet abrufbar.

Abgrenzung gegen Extremisten

Ausgegrenzt wurde niemand. Die Veranstalter distanzieren sich allein klar von linksradikaler wie rechtsradikaler Gewalt. Ansonsten erkennen sie, dass eine Gesellschaft aus verschiedenen politischen Meinungen bestehen muss, dass wir uns wieder zuhören müssen, um gemeinsam einen Weg in die Zukunft zu finden. Auch deshalb grüßte Haintz alle Politiker, „egal von welcher Partei“.

Das aber ist wohl das Bedeutendste an der Protestveranstaltung, dass sie Menschen friedlich zusammenführt, die sonst kaum zueinander passen und wohl kaum zueinander gefunden hätten: barfüßige Hippies neben Preußen-Fahnen-Trägern, Ex-Grüne neben Zehlendorfer Damenkränzchen, Partyszene und junge Familien, Studenten neben dem Berliner Typ mit Bierflasche, Alte und Junge, Rechte und Linke oder einfach Menschen mit Schildern wie „Endlich NORMALE Leute“ oder „Ich bin keine Linke, keine Rechte, keine Impfgegnerin und keine Regierungsgegnerin, sondern ich bin eine informierte, besorgte Bürgerin und gläubige Christin“. Eine Freundin, die ich im Gedrängel verpasste, schrieb später: „Also ich fand den Menschenmix interessant und wichtig. Die ruhige und disziplinierte Atmosphäre. Ein wichtiges Gefühl zu wissen, dass man mit seinen Gedanken und Meinungen zum Thema doch nicht alleine ist. Der Alltag lässt das manchmal vermuten.“

Sorgen um die Zukunft

Die Menschen vereint nicht allein die Sorge um ihre Freiheit, sondern sie schauen in unser aller ungeklärte Zukunft. Was wird in Deutschland und Europa aus der Mittelschicht? Was wird aus all den kleinen Geschäften und Betrieben, aus Restaurants und Bars, was wird aus der Tourismusbranche, etwa in Spanien oder Sizilien, das gerade eine neue Welle illegaler Migranten erlebt?
Ich selbst bastelte erstmals in meinem Leben ein Pappschild mit dem Text „Sofort! Wiederherstellung NORMALER Arbeitsbedingungen in Bibliotheken, Archiven und wissenschaftlichen Einrichtungen“, denn derzeit handelt es sich um Arbeitsbehinderungsmaßnahmen. Nicht nur Tagungen werden abgesagt, sondern nahezu die gesamte Kultur blockiert. Die Abhängigen an den Universitäten und in der subventionierten Kultur schweigen (noch) – doch was wird aus Theatern, Opernhäusern, Museen, Kinos?

So vielgestaltig das Publikum war, in einem scheinen sich – dem Applaus nach zu urteilen – alle einig zu sein: Den Mainstream-Medien glaubt man nicht mehr und der Politik auch nicht. Es gibt mittlerweile viele – und es scheinen vor allem die Frauen zu sein – die tief in die Themen einzudringen versuchen, sich bis in das Kleingedruckte der offiziellen Seiten der Bundesministerien, EU- oder Welt-Organisationen einarbeiten, um zu verstehen, was mit uns geschieht. Jede „offizielle“ Nachricht wird hinterfragt und nochmals woanders geprüft.

Misstrauen gegen die Medien, Vertrauen in die Polizei

Daher überschlugen sich alle möglichen alternativen Nachrichtenkanäle schon am Sonntag mit Fragen wie: Bei welcher Demonstration kam es wirklich zu Gewalt gegen Polizei? Warum konnte es zur „Stürmung“ des Reichstages kommen, stimmt der Begriff überhaupt? Warum erfolgte die anfängliche Verhinderung des gerichtlich genehmigten Demonstrationszuges? Dass die Qualitätsmedien vor allem negative Bilder zeigten und nun vor allem den lediglich von einer kleinen Gruppe erzeugten Nebenschauplatz „Reichstag“ hervorheben, wird nur zu einem führen: zu einem weiteren Vertrauensverlust in diese Art der Berichterstattung.

Einigkeit herrschte übrigens auch im Verhältnis der Anwesenden zur Polizei. Die Veranstalter taten alles, um sich an die behördlich geforderten Abstände zu halten. Ich selbst landete aufgrund der Aufrufe in der breiten Hofjägerallee, die vom Großen Stern zum Lützowplatz führt. Hier saßen ebenfalls Tausende auf der Straße, stets mit gewissem Abstand. Und wichtiger noch: Hier war keinerlei Polizei sichtbar – also offenkundig auch nicht notwendig. Im gesamten Bereich vom Brandenburger Tor bis rund um die Siegessäule waren bis in den Abend hinein keinerlei Aggressionen gegenüber Polizisten zu sehen, im Gegenteil: Den Beamten wurde immer wieder unter einstimmigem Applaus gedankt.

Eines freilich ist klar. Die Veranstalter von „Querdenken“ machen weiter: „Wir sind gekommen, um zu bleiben!“, riefen sie den Teilnehmern zu. Vielleicht sollten wir uns alle in dieser Ausnahmesituation wieder einmal den Königsberger Philosophen Immanuel Kant in Erinnerung rufen: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben. – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“


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Kommentare

Jan Kerzel am 12.09.20, 05:11 Uhr

Annegret Kümpel. ...bin froh und glücklich ausgewandert zu sein. Dies ist die einzig richtige Entscheidung, wenn die Voraussetzungen stimmen: Qualifikation und Fachkompetenz, Basis-Sprachkenntnisse, Landeskunde, eine gewisse Unabhängigkeit und maximal mittleres Alter. Alle anderen sollten hier bleiben, das ist besser für sie.

Annegret Kümpel am 08.09.20, 21:40 Uhr

Ja, gerne hätte ich an der Demo teilgenommen. Leider machte mir die "Corona Krise" den Flug nach Berlin nicht möglich. In meinem Bekanntenkreis wird die Strategie der Maßnahmen befürwortet, also was soll man dagegen machen? "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen". Der deutsche Untertan rennt in sein eigenen Untergang. Ich bin nicht mehr stolz eine Deutsche zu sein (was ich bis vor einigen Jahren noch war) bin froh und glücklich ausgewandert zu sein.

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