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Siegesgewiss: Winston Churchill mit seinem berühmten „V(ictory)“-Zeichen
Foto: imago/Bridgeman ImagesSiegesgewiss: Winston Churchill mit seinem berühmten „V(ictory)“-Zeichen

„Greatest Briton“

Der angeblich großartigste Brite Winston Leonard Spencer-Churchill kam vor 150 Jahren in Blenheim Palace, Oxfordshire zur Welt

Björn Schumacher
29.11.2024

Die British Broadcasting Corporation (BBC) stahlte zu Beginn dieses Jahrtausends „100 Greatest Britons“ aus. In der britischen Fernsehsendung sollten die Zuschauer die hundert großartigsten Briten auswählen. Die Abstimmung war zwar nicht repräsentativ, doch beteiligten sich doch 450.000 Bewohner des Vereinigten Königreiches an der telefonischen Abstimmung. Auf Platz 1 gelangte Winston Leonard Spencer-Churchill.

Der vor 150 Jahren, am 30. November 1874, in Blenheim Palace, Oxfordshire geborene Spross der Hocharistokratie war der Enkel von John Spencer-Churchill, 7. Duke of Marlborough, sowie Sohn des führenden Politikers der Konservativen Partei Lord Randolf Churchill und dessen vermögender US-amerikanischer Ehefrau Jennie Jerome. Trotz seiner Hochbegabung blieb er in den Eliteinternaten Ascot, Brighton und Harrow mehrfach sitzen und bestand auch die Aufnahmeprüfung beim Militär erst im dritten Anlauf. Als Leutnant im 4. Husarenregiment fühlte er sich spürbar wohler als im Schulbetrieb mit seinen Prügelstrafen, erwarb auch eine profunde literarische Bildung und startete richtig durch.

Affinität zum Militär
Zwischen 1895 und 1901 nahm Churchill als Soldat und Kriegsberichterstatter an fünf Kolonialkriegen teil. In den Reihen eines Ulanenregiments beteiligte er sich am Feldzug zur Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan und ritt eine der letzten Kavallerieattacken in der britischen Militärgeschichte mit. Diese Eindrücke verarbeitete der junge Schriftsteller in seinem Erstlingswerk „The River War“.

Bei einem Eisenbahnüberfall im Zweiten Burenkrieg in Gefangenschaft geraten, gelang Churchill eine spektakuläre Flucht vom südafrikanischen Pretoria in die 500 Kilometer entfernte portugiesische Kolonie Mosambik. Seine beiden Bücher über die Ereignisse machten ihn im Vereinigten Königreich bekannt und in den Augen vieler seiner Landsleute zu einem Nationalhelden.

Im März 1901 zog der trinkfeste Draufgänger als konservativer Abgeordneter ins Unterhaus ein, um die Partei nur drei Jahre später zu verlassen und zu den Liberalen zu wechseln. Wie fragwürdig sein wirtschaftsliberales Bekenntnis war, erlebten die Briten wenig später, als ein weit nach links rückender Churchill den Sozialreformer hervorkehrte. Offenbar war er nicht frei von opportunistischen Impulsen, was die Übernahme hoher Regierungsämter als Handels- (1908–1910) und Innenminister (1910–11) gewiss erleichterte.

Das erste zu seinen militärischen Neigungen passende Amt trat er 1911 als Erster Lord der Admiralität (Marineminister) unter dem liberalen Premierminister Herbert H. Asquith an. Churchills wichtigste Entscheidung vor 1914 war die Umrüstung der Royal Navy von Kohle- auf Ölfeuerung, was deren Aktionsradius deutlich erhöhte.

Im Ersten Weltkrieg kam es 1915 nach britischen Anfangserfolgen zum Rückschlag. Ein Truppenlandungsunternehmen in der Türkei schlug fehl. Churchill musste seinen Hut nehmen und kehrte erst im Juli 1917 als Rüstungs- beziehungsweise „Munitionsminister“ unter Premier David Lloyd George, einem alten politischen Weggefährten, ins Kabinett zurück. Endlich gelang der große Wurf. Churchill trieb die Ausrüstung des Heers mit der neuartigen Panzerwaffe voran, die in der Endphase des Kriegs eine große Bedeutung erlangen sollte.

Rüstungsminister Churchill erkannte auch als einer der ersten das militärische Potential von Flugzeugen. Tatsächlich hatten neben den Briten auch Franzosen und Deutsche mit Zeppelinen und zweimotorigen Fliegern Unheil an der Front sowie im Hinterland des Feindes angerichtet. Doch speziell im Vereinigten Königreich, das sich wegen seiner Insellage geschützt fühlte, löste das Schockwellen aus. Visionär Churchill plante für 1919 einen Enthauptungsschlag gegen das Deutsche Reich durch einen „Tausendbomberangriff“ auf Berlin.

Den hartnäckigen Kämpfer ließ das vorläufige Ende dieses Planspiels nicht ruhen. In seinen unter dem Titel „The Aftermath“ publizierten Kriegserinnerungen entwarf der selbsternannte „Soldier of Christ“ ein wahres Armageddon:

„Die Schrecken von 1919 blieben in den Archiven verborgen, aber der Tod steht in Bereitschaft, die Menschen in Massen hinwegzumähen, bereit, wenn man ihn ruft, die Zivilisation ohne Hoffnung auf Wiederaufbau zu Staub zu zerstampfen. Vielleicht wird es sich das nächste Mal darum handeln, Frauen und Kinder oder die Zivilbevölkerung überhaupt zu töten; und die Siegesgöttin wird sich zuletzt voller Entsetzen demjenigen vermählen, der das im gewaltigsten Umfang zu organisieren versteht.“

Apologet der Terrorangriffe zu Luft
Frühzeitig kokettierte Churchill also mit der Option des strategischen Terrorluftkriegs. Folgerichtig wurde 1918 zum Stabschef der neuen Teilstreitkraft Royal Air Force ein gewisser Hugh Trenchard ernannt, der die absurde Losung verbreitete, angesichts der miteinander verzahnten Wirtschaft von Industriestaaten könne „zwischen zivilen und militärischen Zielen nicht unterschieden werden“ (Trenchard-Doktrin). Gelehriger Schüler dieser beiden war Arthur Harris, der ab 1921 als Befehlshaber einer Lufttransportstaffel im heutigen Irak Bomben auf aufständische Siedlungen abwerfen ließ.

Eher unspektakulär und in der Summe erfolglos verliefen die 20er und 30er Jahre. Dem leidenschaftlichen Krieger Churchill fehlte die militärische Bewährung. 1922 stürzte die britische Regierung unter dem liberalen Premierminister George Lloyd, und Churchill verlor sein zuletzt ausgeübtes Amt als Kolonialminister.

Inzwischen wieder Tory-Mitglied, wurde er 1924 vom neuen, konservativen Premier Stanley Baldwin als Wirtschaftsminister ins Kabinett geholt, trug aber durch Fehlentscheidungen zur Verteuerung britischer Exporte und zu Massenarbeitslosigkeit bei. Zum Bruch mit Baldwin kam es 1931 wegen dessen nachgiebiger Haltung zur Unabhängigkeit Indiens. Als eiserner Verfechter des Britischen Weltreichs verspottete Churchill Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi als „halbnackten Fakir“. Dieser revanchierte sich, als er 1945 Churchills moralisches Versagen bloßstellte: „In Dresden wurde Hitler mit Hitler bekämpft.“

Churchill verblieb im britischen Unterhaus, widmete sich aber verstärkt seiner Frau Clementine und den gemeinsamen fünf Kindern, recherchierte zu Schlachten früherer Jahrhunderte und publizierte in geschliffener Rhetorik seine historischen Thesen. Dies war der Grundstock für den Erwerb des Literaturnobelpreises 1953. Obendrein wandte er sich der Landschaftsmalerei zu. 2021 erzielte eines seiner Ölgemälde immerhin den satten Versteigerungserlös von 9,5 Millionen Euro.

Premier im Zweiten Weltkrieg
Sein politisches Comeback feierte der Haudegen am 3. September 1939 als Marineminister in Neville Chamberlains Kriegskabinett. Als der wegen seiner Appeasement-Politik angezählte Premierminister durch Zaudern der deutschen Kriegsmarine den Zugriff auf strategisch wichtige Eisenerz-Umschlaghäfen in Norwegen ermöglichte, war sein Rücktritt fällig. Am 10. Mai 1940 trat Churchill als Premier- und Verteidigungsminister an die Spitze einer Regierung der Nationalen Koalition aus Konservativen, Liberalen und Labour-Politikern.

Drei Tage später schwor er seine Landsleute auf „Blut, Schweiß und Tränen“ ein. Der „Krieg gegen eine monströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im finsteren Katalog der Verbrechen der Menschheit“ dürfe nur mit einem „Sieg um jeden Preis“ beendet werden. Noch bevor das von der Wehrmacht überrannte Frankreich am 22. Juni 1940 kapitulierte, hatte Churchill in einer weiteren kämpferischen Rede, „Fight them on the beaches“, Eckpfeiler seiner Politik in den Boden gerammt:

„Wir werden bis zum Ende gehen. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen. Wir werden mit wachsender Zuversicht und Stärke in der Luft kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden auf den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben.“

Ohne den Verbündeten Frankreich stand Großbritannien am Abgrund und zugleich vor seiner schwersten Belastungsprobe. Zur Vorbereitung einer Invasion bombardierte die deutsche Luftwaffe in der „Battle of England“ von Juli 1940 bis Anfang 1941 London und weitere englische Industriestädte. Die Angriffe galten militärischen Zielen, töteten aber wegen der Innenstadtlage vieler Industrieanlagen und der zuletzt recht unerfahrenen Bomberbesatzungen rund 40.000 Zivilisten.

Letztlich gab Hitler seinen Invasionsplan auf, und Churchill wurde mit seinen Durchhalteparolen endgültig zum Kriegshelden. „Churchill und Großbritannien hätten den Zweiten Weltkrieg nicht gewinnen können, das taten am Ende Amerika und Russland. Im Mai 1940 war Churchill aber derjenige, der ihn nicht verlor“, so der US-amerikanische Historiker ungarischer Herkunft John Lukacs.

Ein sehr trübes Kapitel darf darüber nicht vergessen werden. Die vom Kriegspremier und seinen Befehlshabern der Royal Air Force veranlassten Flächenangriffe auf deutsche Städte, dieser „nächtliche Massenmord an der Zivilbevölkerung“, um es mit dem deutsch-schweizerischen Historiker, Publizisten und Schriftsteller Golo Mann zu sagen, töteten mindestens 600.000 Menschen, ohne dass die Durchhaltemoral der Deutschen dadurch gebrochen und der Krieg verkürzt worden wäre. Selbst in Orten, in denen die Barbarei das eine oder andere kriegswichtige Ziel zerstörte, konnte von militärischer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit keine Rede sein. Diese schweren Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 blieben bis heute ungesühnt.

Priorität des Empires vor Europa
Während der Potsdamer Konferenz der Siegermächte vom 17. Juli bis 2. August 1945 musste Churchill aufgrund des Ausgangs der Unterhauswahl vom 5. Juli des Jahres seinen Platz am Verhandlungstisch räumen. Nachfolger Clement Attlee und der neue US-Präsident Harry S. Truman setzten Josef Stalins Gebietsforderungen kaum Widerstand entgegen.

Zwar zog Churchill Ende 1951 wieder als Premierminister in die Downing Street 10 und wurde von Königin Elisabeth II. 1953 zum Ritter des Hosenbandordens geschlagen. Den unter sozialen Verwerfungen leidenden Briten konnte er aber keine Impulse mehr geben und trat gesundheitlich belastet am 5. April 1955 zurück.

Mainstream-Historiker und -Publizisten feiern ihn als „großen Europäer“, weil er 1946 in einer Rede in Zürich die „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert hatte. Doch sollte diesem europäischen Pendant zu den USA nach Churchills Planspielen sein eigenes Land noch nicht einmal angehören. Ihm ging es um die Erhaltung des Britischen Weltreichs, und starke, mit Großbritannien konkurrierende Nationalstaaten in Europa waren ihm wohl eher lästig. Der Untergang des Empires konnte jedoch auch so nicht aufgehalten werden. Es zerbröselte.

Sir Winston Churchill starb am 24. Januar 1965. Vier Jahre später brachte die Londoner Band „The Kinks“ mit „Arthur or the Decline and Fall of the British Empire“ ein Konzeptalbum über den „Verfall und Untergang des British Empire“ heraus − untermalt von Sirenengeheul und Churchill-Zitaten. Auf die Frage, warum Teile seiner Familie nach Australien ausgewandert seien, antwortete „The Kinks“-Chef Ray Davies: „Sie hatten den Glauben an Churchill verloren.“


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