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Gedränge, wohin man blickt: Der Berliner Hauptbahnhof im Zeichen des Neun-Euro-Tickets
Foto: imago/Olaf SchuelkeGedränge, wohin man blickt: Der Berliner Hauptbahnhof im Zeichen des Neun-Euro-Tickets

Infrastruktur

Großes Chaos für kleines Geld

Das Neun-Euro-Ticket hat die Misere des Bahnsystems im Raum Berlin schonungslos offengelegt

Norman Hanert
22.08.2022

Als Kurt Tucholsky im Jahre 1912 seine literarischen Figuren „Claire“ und „Wölfchen“ auf die Reise ins ländliche „Rheinsberg“ schickte, konnte er die Bahnfahrt durch die Mark Brandenburg noch als humorvolle Idylle schildern. Reisenden, die heutzutage in der Hauptstadtregion mit der Bahn unterwegs sind, kann das Lachen dagegen schnell vergehen. Gefragt sind Geduld, Flexibilität, starke Nerven und im wörtlichen Sinne Stehvermögen. Bahnfahren bedeutet in der Hauptstadtregion derzeit oftmals Stress in Zügen, die häufig völlig überfüllt sind, falls sie überhaupt fahren.

Erst vor Kurzem hat der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) darüber informiert, dass auf zwei Regionalbahnstrecken bis zum Ende der Sommerferien überhaupt keine Züge mehr rollen. Wie der VBB mitgeteilt hat, ist bis zum kommenden Sonntag auf der Linie RB13 (Wustermark–Berlin/Jungfernheide) und der Linie RB23 (Michendorf–Potsdam) der Betrieb komplett eingestellt. Als Grund nannte der Verbund einen „erhöhten Krankenstand“. Wie der VBB weiter mitteilte, soll mit der kompletten Einstellung der beiden relativ kurzen Regionalbahnlinien der Betrieb auf anderen Strecken stabilisiert werden.

Krankenstand und Baustellen

Dies gelingt offenbar nur bedingt. Die DB-Regio Nordost hat nämlich inzwischen auch schon für die Linie RE66 (Berlin–Angermünde) und RB24 (Berlin–Eberswalde) den Ausfall von Zügen angekündigt. Als Grund für diese Ausdünnung des Fahrplans im Nordosten Brandenburgs nennt der VBB ebenfalls einen hohen Krankenstand. Personalreserven, um diesen Ausfall über Wochen hinweg zu kompensieren, gibt es laut dem Verbund nicht. Auch ein Sprecher der Deutschen Bahn nennt neben „dutzenden Baustellen“ ausdrücklich auch einen erhöhten Krankenstand als einen Faktor, der die Qualität im Regionalverkehr aktuell beeinflusst.

Dieser „coronabedingte Krankenstand ist leider nicht ohne Weiteres trivial lösbar“, so ein Bahnsprecher. Zur geplanten Ausdünnung des Fahrplans wegen Personalmangels kommen obendrein in jüngster Zeit auch auffällig oft spontane Verbindungsausfälle. Als Grund geben die Deusche Bahn und andere Anbieter meist Defekte an Loks oder Waggons an.

Zusätzlich haben diverse Baustellen das Potential, den Fahrgästen die Lust auf Bahnreisen gründlich auszutreiben. Wegen Bauarbeiten am Berliner Stadtrand müssen Reisende in den letzten beiden Ferienwochen unter anderem auf den Flughafenexpress FEX zwischen Hauptbahnhof und Flughafen BER verzichten. Auch auf der Strecke zum südöstlichen Berliner Vorort Königs Wusterhausen wird bis Ende August gebaut. Die sich über Wochen hinziehenden Arbeiten bedeuten für Fahrgäste, die in Richtung Spreewald und Cottbus unterwegs sind, dass sie für Teile der Fahrstrecke einen sogenannten Schienenersatzverkehr nutzen müssen.

Die Regionalbahnlinie RB26 von Berlin nach Küstrin ist wiederum wegen einer Inspektion der Bahnschwellen auf einem Teilstück unterbrochen. Nach Angaben eines Bahnsprechers steht die Sperrung im Zusammenhang mit einer größeren Betonschwellen-Inspektion, nachdem am 3. Juni ein Regionalzug in Bayern entgleist war.

Vorzüge des Autos neu entdeckt

Normalerweise sind die Sommerferien für die Bahn ein günstiger Zeitpunkt für Bauarbeiten. Da in den Ferien weniger Pendler und Schüler unterwegs sind, ist die Auslastung der Strecken geringer. Das Neun-Euro-Ticket hat in diesem Jahr allerdings für Bahnsteige voller Menschen und überfüllte Züge gesorgt.

Wie stark die Auslastung des Bahnsystems durch die Billigfahrkarten gestiegen ist, wird an einem Problem mit den Zugtoiletten beim Bahnunternehmen ODEG deutlich. Früher reichte es üblicherweise aus, wenn das Unternehmen die Toilettentanks in den Zügen jeden zweiten Tag leert. Durch den Massenandrang sind die Tanks nun mitunter bereits nach einem halben Tag voll.

Angesichts der Probleme durch die drastisch gestiegenen Fahrgastzahlen mahnte die Gewerkschaft Verdi inzwischen, dass das Neun-Euro-Ticket nur dann verlängert werden dürfe, wenn die Betriebe genügend Personal zur Verfügung haben. Jeremy Arndt von Verdi sagt: „Mit dem aktuellen Personalmangel ist ein Mehrbedarf nur schwer aufzufangen.“

Tatsächlich könnte die rot-grün-gelbe Bundesregierung mit dem überhastet eingeführten Neun-Euro-Ticket ein verkehrspolitisches Eigentor geschossen haben. Die bundesweit gültige Monatskarte zum Billigtarif könnte auch für überzeugte Autofahrer eigentlich eine wunderbare Gelegenheit sein, den Wagen mal stehen zu lassen und den öffentlichen Nahverkehr auszuprobieren. In Berlin und Brandenburg – und hier steht die Region nur beispielhaft für das ganze Land – kann solch ein Versuch insbesondere bei Pendlern derzeit allerdings schnell dazu führen, die Vorzüge eines eigenen Autos wieder ganz neu schätzen zu lernen.


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Kommentare

Valentina Selge am 22.08.22, 11:59 Uhr

Ganz spannend wird jetzt Fehmarn, da fährt kein Zug mehr, ob alles auf die Straße passt?
Da muss man dann schon aufs Segelboot umsteigen, damit wären wenigstens auch die Schüler mobil. Ab Haffkrug ist das eine ordentliche Strecke, aber eine schöne.

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