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Schwarzer Sonntag am 4. Mai 1919 in der Hansestadt Stralsund –Unglaubliche Gewalt machte sich breit
Der Erste Weltkrieg ging im November 1918 zu Ende. Doch Deutschland hungerte auch danach in heute kaum vorstellbarem Maß weiter. Kriegswirtschaft, Missernten, vor allem aber das 1915 durch die damalige Welthandelsgroßmacht England erlassene Handelsembargo, welches das Deutsche Reich unter anderem von der Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse ausschloss, führten zu Not und Elend. Es starben Hunderttausende Menschen vor allem in den Städten, wo pro Person und Tag kaum mehr als 1000 Kilokalorien Energie zur Verfügung standen. Das Vereinigte Königreich hob die Blockade zwar im Sommer 1919 auf, doch besserte sich die Lage kaum.
Das war der Nährboden für Unruhen, die in etlichen Städten ausbrachen, so auch am 4. Mai 1919, einem Sonntag, in der alten Hansestadt Stralsund. Deren Bewohner waren eigentlich dafür bekannt, nicht so schnell die Fassung zu verlieren. Aber nach so vielen Notjahren ohne Aussicht auf Besserung fehlte auch hier nur ein Funke, um ein Großfeuer zu entzünden. Oder eine ungehörige Bemerkung, zu der sich ein Verkäufer von Fischhändler Born an jenem Sonntagmorgen unten auf dem Fischmarkt hinreißen ließ. Der nicht sonderlich beliebte Herr Born hatte von der Stadt den lukrativen Auftrag erhalten, Einwohner mit Fischen zu versorgen. Die nämlich gehörten zu den wenigen Lebensmitteln, die nicht der strengen, staatlichen Rationierung unterlagen.
Doch war das Fisch, was da feilgeboten wurde? Klitzekleine Flundern waren es, von denen in der Bratpfanne kaum etwas übrig blieb, die Born gedachte an die Kundschaft zu bringen. Als der Verkäufer dann noch meinte, dass die für die Stralsunder gut genug seien, brach sich der Zorn der Anstehenden, darunter viele Hausfrauen, Bahn. Wie das „Stralsunder Tageblatt“ berichtete, kippte man die Fischkisten unter lautem Geschimpfe kurzerhand aufs Pflaster.
Indes rollte ein Bornscher Lastwagen mit bester Frischware, die jedoch andernorts für den Verkauf bestimmt war, an der Stätte des Protestes vorbei. Doch er kam nicht weit. Die aufgebrachte Menge kaperte das Gefährt, bugsierte es zum Alten Markt, wo sich bald mehrere Hundert Menschen einfanden, und verteilte die Fische, zunächst gegen Bezahlung, dann gar umsonst, wie es im „Tageblatt“ hieß.
Nun aber wuchs sich das Geschehen zur offenen Anarchie aus, in dessen Folge der 4. Mai 1919 als schwarzer Sonntag in die Stadtgeschichte eingehen sollte. Die Menschen plünderten in ihrer Wut Fischräuchereien, Konservenfabriken, Bäcker- und Schlachterläden. Einmal so im Beutefieber, schreckte der Zug, der bald auf deutlich mehr als tausend Menschen anwuchs, keineswegs vor Angriffen auf renommierte Kaufhäuser, etwa Zeeck in der Wasserstraße, sowie Dankwardt und Keibel Nachfolger in der Ossenreyerstraße zurück. Es splitterten Schaufenster und barsten Türen.
Was der Gewalt standhielt, rissen detonierende Handgranaten auseinander. Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, Stoffballen, Teppiche – man schleppte fort, was sich schultern ließ.
Chaos nahm den Lauf
In Stralsund, damals knapp 40.000 Einwohner zählend, brach binnen kurzer Zeit ein Chaos aus, dem die Ordnungshüter nicht gewachsen waren. Bürgermeister Ernst Gronow, Arbeiterrat und Bürgerschaft begriffen schließlich den Ernst der Lage und forderten die Reichswehr an. Die fackelte nicht lange. Es krachten Schüsse, und alsbald waren die Straßen menschenleer. Damit fand das Aufbegehren der Stralsunder aber kein abruptes Ende. Abends, bei einsetzender Dunkelheit, flammten die Ausschreitungen erneut heftig auf. Wieder peitschten Schüsse durch die altstädtischen Geschäftsstraßen und Gassen.
Das Militär machte sogar vom Einsatz eines Maschinengewehrs Gebrauch. Es floss Blut, und dann herrschte Ruhe. Die Bilanz: ein Toter und mehrere zum Teil schwer Verletzte, darunter auch Soldaten. Bürgermeister Gronow, Arbeiterrat und Bürgerschaft appellierten am nächsten Tag an die Stralsunder, sofort wieder Ruhe und Ordnung herzustellen und sich nicht an Zusammenrottungen zu beteiligen. Ganz traute man dem Frieden aber nicht, denn einen Tag später rief die Stadtregierung in Absprache mit höheren Instanzen den Belagerungszustand über den gesamten Stadtkreis aus.
Erste Schätzungen bezifferten den materiellen Schaden der Tumulte auf zwei Millionen Mark. Fischhändler Born, an dem sich die Ausschreitungen entzündet hatten, wurde die Konzession entzogen. An die Plünderer erging seitens der Polizei die Aufforderung, gestohlene Güter sofort in den Polizeiwachen oder in den geschädigten Geschäften abzuliefern. Parallel dazu begann die Fahndung nach Rädelsführern der Exzesse und nach Personen, die sich bei den Plünderungen besonders hervorgetan hatten. Durchaus mit Erfolg. So entdeckte die Polizei bei einem aus Prohn, ein Dorf nördlich von Stralsund, wohnenden Mann Gestohlenes im Wert von 4000 Mark. Das Diebesgut sollte wahrscheinlich verschoben werden.
Die politischen Gremien der Stadt verurteilten die Gewaltausbrüche, als Hauptübel erkannte man aber die jahrelange Auszehrung der Bevölkerung. Bei der Ursachenergründung trat allerdings auch zutage, dass Fischhändler Born seiner Pflicht zur korrekten Verteilung der Fische nicht gerecht geworden war. Auch wies man den Inhabern der heimgesuchten Geschäftshäuser wegen Preiswuchers eine gewisse Mitschuld zu.
Einige Monate später hatten sich etliche Plünderer in mehrtägigen Verhandlungen vorm Schwurgericht in Greifswald zu verantworten. So verurteilte das Gericht am 6. Januar 1920 drei Stralsunder, zwei Schmiede und einen Arbeiter, wegen Landfriedensbruchs zu jeweils sechs Monaten Gefängnis. Die Richter erkannten aber auch einige Male auf Freispruch.