02.04.2025

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Elternlose Kinder 1945 auf der Flucht vor der heranstürmenden Roten Armee der Sowjets
Bild: BArch 146-1988-013-34AElternlose Kinder 1945 auf der Flucht vor der heranstürmenden Roten Armee der Sowjets

Meine Geschichte

„Ich bin ein Wolfskind“

Das ergreifende Schicksal eines Königsberger Jungen auf der Flucht, und wie das Schicksal ihn nach Litauen führte – 1. Teil

Wolfgang Toerner
30.03.2025

Von In seiner eigenen Vergangenheit ist man immer zu Hause, so lautet ein Sprichwort, und das, was man in jungen Jahren erlebt und was sich gefestigt hat, begleitet einen daher auch ein Leben lang. „Hinter Deutschland lag Litauen ...“, so heißt es bei dem 1934 in Ostpreußen geborenen Schriftsteller Arno Surminski.

Ich weiß, wovon er spricht. Denn fünfzehn meiner jungen Jahre habe ich in Litauen, damals Sowjet-Litauen, verbracht, sodass ich Litauen als meine zweite Heimat betrachte. Ich selbst habe wahrscheinlich den Litauern mein nacktes Leben zu verdanken. Hatten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs doch verfügt, dass der Teil Deutschlands, der Preußen hieß, von der Landkarte Europas zu verschwinden hatte. Und zusammen damit sind auch die ethnischen „Preußisch-Litauer“ und der mit ihnen verbundene Kulturkreis in Ostpreußen ausradiert worden und untergegangen.

Tragödien im verlorenen Königsberg
Durch die anglo-amerikanischen Bombardierungen Königsbergs im Sommer 1944 und später durch Zerstörungen beim Ansturm der Sowjetarmee war auch die gesamte Infrastruktur des Zentrums von Königsberg in Trümmern gelegt worden.

Auf diverse Befehle der Sowjetmacht hin wurden die Deutschen aus nicht zerstörten Gegenden vertrieben und in einer Art Ghetto zusammengepfercht. Eines davon war das ehemalige Arbeiterviertel in Königsberg-Ponarth. Hier lebten auch wir, das heißt unsere Mutter, die beiden Großeltern, meine dreieinhalb Jahre jüngere Schwester und ich. Vertrieben aus der Gartenlaube des Einfamilienhauses meiner Großeltern. Hier erkrankte unsere Mutter an Typhus und wurde von unserer Großmutter in einer Art Handwagen in das halb zerstörte Zentralkrankenhaus von Königsberg gezogen, wo sie dann auch vor Weihnachten 1945 noch verstarb. Nicht lange danach, es muss immer noch das Jahr 1945 gewesen sein, verstarb auch unser Großvater – erkrankt an der Ruhr. Meine Schwester und ich verblieben eine Weile noch zusammen mit unserer Großmutter in einer heruntergekommenen Wohnung, wo wir zu dritt in einem Bett schliefen und aufpassen mussten, dass wir von den herumlaufenden Ratten nicht angegangen wurden. Denn auch für die war nichts mehr zum Fressen vorhanden.

Irgendwann ist meine Schwester, wohl durch Auszehrung geschwächt, in eine Art Heim eingeliefert worden, von wo aus sie dann unter unwürdig-tragischen Umständen in einem Zug aus Viehwaggons in das amputierte Deutschland jenseits der Oder verfrachtet worden ist.

Ich hingegen bin von meiner Großmutter mit einem anderen Jungen meines Alters nach Litauen weggelaufen, wohl mit der Absicht, irgendwann nach Königsberg zur Großmutter zurückzukommen. Aber wie die Macht des Schicksals es gewollt hat, kam es ganz anders: Ein 15 Jahre währender Leidensweg in der Fremde, erstmals ohne jeglichen Halt, wartete letztendlich auf mich.

Überleben neben den Wölfen
Die „Wolfskinder“, darunter versteht man Kinder und Jugendliche, die nach dem Zusammenbruch Deutschlands versuchten, zu Zigtausenden von Ostpreußen aus in die baltischen Länder zu kommen, um sich vor dem Verhungern und der Auszehrung zu retten. Sie gelangten überwiegend in das benachbarte Litauen, nun Sowjet-Litauen. Der Begriff „Wolfskinder“ auf die deutschen Flüchtlingskinder angewandt, bezieht sich in erster Linie auf den Teil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die ihr Überleben auf dem Lande versuchten, wo sie von Bauernhof zu Bauernhof zogen, um nach etwas Essbarem zu bitten und vielleicht auch nach einer Bleibe für die doch recht kalte osteuropäische Nacht. Vielleicht in der Ecke einer geräumigen Bauernküche oder auf dem Heu einer Scheune.

Nicht wenige der elternlosen Kindern hielten sich aber versteckt in den Wäldern auf – eben in der Nachbarschaft zu den Wölfen. Außerdem hatten sie ständig Angst, dass sie von den örtlichen Milizorganen aufgegriffen werden könnten. In diesen Fällen bestand dann die Gefahr, dass sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Durch Unterbringung irgendwo in einem Kinderheim, vielleicht auch irgendwo in den Weiten des Sowjetimperiums, wo sie mit aller Bestimmtheit ihrer deutschen Identität verlustig gegangen wären.

Flucht als einziger Ausweg
Das Schicksal der in den Städten herumirrenden deutschen Kinder hingegen gestaltete sich etwas anders. Sie hielten sich erst einmal tagsüber auf den Wochenmärkten auf. Neben den deutschen Kindern irrten aber auch russische Kinder und Jugendliche anderer Nationalitäten herum, die von den litauischen Bauern als zu den Okkupanten der sowjetischen Sieger empfunden und dazugerechnet wurden. Im Verhältnis zu den deutschen Kindern hatten sie es noch schwerer, denn die litauische Bauernbevölkerung verhielt sich ihnen gegenüber oft überaus abweisend und zeigte für deren auch nicht weniger trauriges Schicksal nur sehr selten Verständnis.

Für diejenigen, egal ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, die den Entschluss gefasst hatten, ihr Glück in den baltischen Ländern zu versuchen, ging der Weg damals über den einigermaßen instand gebrachten Abstellbahnhof neben dem zerbombten Königsberger Hauptbahnhof. War man bei dem Abstellbahnhof angelangt, so galt es erstmal auszumachen, welcher der hier stehenden Züge eventuell Richtung Litauen beziehungsweise Insterburg-Tilsit fahren könnte. Und wenn man so einen Zug ausgemacht hatte, so hieß es, sich auf die Lauer zu legen und abzuwarten, bis der Zug sich tatsächlich auch in Bewegung setzte. Erst dann konnte man einigermaßen sichergehen, dass man vom eingenommenen Platz auf einem der Trittbretter vom Bahnwärter oder Zugpersonal nicht wieder rabiat heruntergezogen wurde.

Als ich mich im Frühsommer 1947 von Königsberg aus nach Litauen aufmachte, befand ich mich im neunten Lebensjahr. Unsere Eltern waren nicht mehr da, unsere Mutter wie berichtet 1945 an Typhus verstorben und unser Vater, der als Reichsbahnangestellter erst in den letzten Monaten 1944 zur Wehrmacht eingezogen worden war, meldete sich nicht mehr und gilt bis heute als vermisst. Es ist davon auszugehen, dass er in den Wintermonaten 1945 während der letzten Kämpfe um Königsberg wohl gefallen ist.

Per Trittbrett durch Sowjet-Litauen
An alle Einzelheiten, wie ich damals nach Litauen gekommen bin, kann ich mich heute gar nicht mehr wirklich erinnern. Vielleicht habe ich auch vieles verdrängt. In etwas getrübter Erinnerung sind aber meine ersten Tage in Litauen doch geblieben. Es muss in der Stadt Kaunas gewesen sein. Jedenfalls sind es Erinnerungen, verbunden mit dem Wochenmarkt in Kaunas. Dann aber, bestimmt von einer Art Heimweh geplagt, hatte ich den Entschluss gefasst, doch wieder nach Königsberg zurückzukehren. War doch dort meine Oma mütterlicherseits und meine jüngere Schwester in einem provisorischen Kinderheim untergebracht zurückgeblieben. Also hatte ich mich für den Heimweg zurück nach Königsberg eines Nachts wieder auf das Bahnhofsgelände begeben, um hier auf einen Zug nach Königsberg zu lauern. Von hier an weiß ich wieder ziemlich genau, dass ich auf dem Trittbrett eines Personenzugs Platz gefunden hatte – neben einer russisch sprechenden Frau. Und als dann der Zug Fahrt aufgenommen hatte, muss ich dermaßen ermüdet gewesen sein, dass ich ständig einschlief. Ich kann mich auch noch daran erinnern, wie während meines Halbschlafs die verschiedenen Bilder vorbeizogen: halb ins Dunkel getauchte Felder, dann wieder vom Halbmond angestrahlte Tannenwälder, bis das alles sich irgendwann in mir in eine andere Welt verwandelte. Und es sagte mir überhaupt nicht zu, dass die neben mir auf dem Trittbrett sitzende Frau mich immer wieder wachrüttelte, mich in die unwirtliche Welt zurückholte. Man muss sich aber darüber im Klaren sein: Dies waren keine Hochgeschwindigkeitszüge. Umklammert von Menschentrauben rüttelten sie vielleicht bei einer Geschwindigkeit von dreißig bis vierzig Kilometern in der Stunde durch die Lande. Dennoch denke ich, wäre ich im Schlaf heruntergefallen, so wäre es um mich geschehen.

Heimweh in die falsche Richtung
Als dann der Zug irgendwann Halt machte und die Tür zum Wagenvorraum geöffnet wurde, stellte sich überraschenderweise heraus, dass der Zug voll mit russischen Soldaten war. Und hier bat nun die neben mir auf dem Trittbrett sich befindende Frau diese Soldaten, sie mögen mich doch zu sich hineinnehmen, denn ich würde ständig einschlafen und irgendwann bestimmt herunterfallen. Tatsächlich wurde ich ins Innere des Waggons hineingelassen. Zum Glück konnte ich damals bereits Russisch sprechen, sodass die Soldaten sich mit mir verständigen konnten, und mir dabei sogar etwas zu Essen gaben. Als ich auf deren Frage erklärte, „chochu v Kenigsberg“, zurück nach Königsberg zu wollen, da brach ein schallendes Lachen unter ihnen aus, welches mir heute noch als solches in Erinnerung geblieben ist. Denn es stellte sich heraus, dass der Zug in die umgekehrte Richtung fuhr, nämlich nach Leningrad. Und zwar mit all den Soldaten, die wohl demobilisiert worden waren und nun sehnsuchtsvoll in ihre Heimat zurück wollten. Für mich hieß es aber nun, bei der nächsten Station auszusteigen. Und das sollte die im Norden Litauens liegende Stadt Schaulen [Shiauliai] sein, in der ich mit viel Elend, aber ebenso mit Glück im Unglück 15 Jahre meiner Kindheit und Jugend verbringen sollte – vom Sommer 1947 bis Oktober 1962.

Den 2. Teil dieser persönlichen Erzählung lesen Sie in der nächsten Ausgabe der PAZ, die am 4. April 2025 erscheint.

Wolfgang Toerner, geboren 1938 in Königsberg, studierte in Wilna, Münster und Kiel slawische Philologie, osteuropäische sowie Mittlere und Neuere Geschichte. Von 1971 bis 1998 war er Leiter Fachbereich Fremdsprachen an der Volkshochschule Kiel. Er leitete dort u.a. Kurse in Russisch und Litauisch. Zudem veranstaltete er Vortragsreihen zur Geschichte Osteuropas, Ostpreußens, Litauens und Russlands sowie über russische und russisch-sowjetische Literaturgeschichte.


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Kommentare

David L am 30.03.25, 08:39 Uhr

Vielen Dank für Ihren Bericht, Herr Toerner. Ich bete heute Abend für Sie und alle überlebenden Wolfskinder.

David
Australien

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