27.04.2024

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„Ich frage danach, wie Diktatur wird“

Über den verdrängten Terror des SED-Staats, die Mechanismen einer totalitären Gesellschaft sowie Parallelen zwischen der Nationalen Front der DDR und „der Einheit aller Demokraten“ in der Gegenwart – Teil 3 der PAZ-Sommerinterviews 2023

Im Gespräch mit Klaus-Rüdiger Mai
30.07.2023

Seit dem Ende der DDR hat die Auseinandersetzung mit der Geschichte des SED-Staats und seinen Hinterlassenschaften ihre Konjunkturen. Gerade erleben wir wieder eine Welle intensiverer Beschäftigung. So legte die Publizistin Katja Hoyer eine „Ideengeschichte“ der DDR vor, und der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann widmete sich der Identität der einstigen DDR-Bürger im vereinten Deutschland. Von Klaus-Rüdiger Mai erschien soeben ein Buch über die Frühphase des Arbeiter-und-Bauern-Staates, aus der sich auch für die Entwicklung der Gegenwart einiges lernen lässt.

Herr Mai, in Ihrem neuen Buch widmen Sie sich den Anfangsjahren der DDR. Der Titel könnte manche Leser irritieren: „Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde“. Hatte der SED-Staat überhaupt Phasen der Freiheit, oder war er nicht von Beginn an eine Diktatur?
Das Buch erzählt von jungen Menschen, in der Hauptsache Studenten, deren Schicksale eingebettet sind in die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der frühen DDR bis zum 17. Juni 1953. Man kann auch sagen, dass die Zeit von 1945 bis 1953 im Gleichnis des Lebens widerständiger Studenten geschildert wird. Bereits mit Gründung der DDR war jede andere Perspektive für Ostdeutschland als die einer Diktatur ausgeschlossen, doch mit dem 17. Juni geriet dann auch der Traum von der Freiheit unter die Ketten der sowjetischen Panzer. Allerdings hätten die zehn Studenten, die später vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst zur Gruppe Belter zusammengefasst wurden, 1950 nicht Widerstand geleistet, wenn sie nicht diesen Wunsch nach Freiheit und Demokratie verspürt hätten.

Herbert Belter, einer der wichtigsten Protagonisten meines Buches, sagte vor dem sowjetischen Militärtribunal, dass er tätig geworden sei, „weil ich mit der Lage an der Universität Leipzig unzufrieden war, wir hatten keine Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit. Die Universität Leipzig ist eine Volksuniversität und sie ist Teil der DDR, und wenn die Studenten keine Freiheit hatten, waren wir dann mit der Lage in der DDR selbst unzufrieden. Wir haben in der Universität für die Verfassungsrechte gekämpft, da die Universität eine akademische Hochburg der DDR ist.“ Man muss, was die Stilistik betrifft, berücksichtigen, dass Belters Worte von einem Militärdolmetscher ins Russische übersetzt und für das Buch aus dem Gerichtsprotokoll zurück ins Deutsche übertragen wurden. Auch wenn die Freiheit nicht mehr existierte, so lebte doch noch der Traum von ihr.

Dieser Traum begann für die Studenten, von denen ich anhand von Originalquellen aus den Archiven erzähle, im Mai/Juni 1945, also im Sommer. Definitiv endete der Traum am 17. Juni 1953, für einzelne bereits früher. Werner Ihmels, der im Gefängnis Bautzen verstarb, war da schon tot, Wolfgang Natonek in Haft, die Studenten und der Tischlergeselle der Belter-Gruppe bereits nach Workuta verschleppt und die Asche Herbert Belters, der am 28. April 1951 in Moskau von den Schergen des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes erschossen wurde, bereits auf dem Donskoi-Friedhof verscharrt.

Sie stellen zu Beginn des Buches das Schicksal des NS-Opfers Sophie Scholl dem Schicksal des KGB-Opfers Herbert Belter gegenüber. Nun riskiert jeder, der nach den Ähnlichkeiten der braunen und der roten Diktatur fragt, den Vorwurf der Relativierung der NS-Verbrechen. Warum gehen Sie trotzdem so an Ihr Thema heran?
Ich frage nicht nach den Ähnlichkeiten der braunen und der roten Diktatur. Diese Diskussion ist mir fremd. Ich frage danach, wie Diktatur wird, wie Menschen indoktriniert werden, wie sie sich aber auch der Indoktrination entziehen oder gar erwehren, wie sie Widerstand leisten oder sich de-indoktrinieren. Für eine Demokratie ist es grundlegend zu wissen, wie Diktatur wird.

Zur Gegenüberstellung von Sophie Scholl und Herbert Belter: Mich hat erstaunt, dass die eine so bekannt ist, was ich richtig finde, und der andere so unbekannt, was eine Schande ist. Äußerlich haben sie einiges gemeinsam. Beide hatten ihr Studium gerade begonnen, beide leisteten Widerstand, beide wurden verhaftet, beide wurden zum Tode verurteilt und zählten zum Zeitpunkt ihrer Ermordung 21 Jahre, beide hatten noch ein Leben vor sich – und beide hatten nichts getan, was eine Verurteilung, geschweige denn eine Hinrichtung auch nur entfernt rechtfertigt.

Als sich die FDJ-Hochschulgruppe der Universität München 1950 den Namen „Geschwister Scholl“ gab, insistierte die Schwester Inge Scholl darauf, dass sie den Namen ihrer Geschwister ablegte. Sie schrieb: „Selbst wenn ich all das abstreichen würde, was über die politische Linie der FDJ in der westlichen Presse steht, würden mir die persönlichen Berichte von Freunden aus der Ostzone genügen, um festzustellen, dass der Name meiner Geschwister mit diesen Gruppen unvereinbar ist.“ Sie endet mit den Worten über ihre Geschwister, die auch für Herbert Belter und seine Freunde stehen könnten: „Sie sahen in der Diktatur einen Feind des Lebens und die Bedrohung jeder lebendigen Entwicklung, sie misstrauten tief jeder Weltanschauung und jedem Staat, der um scheinbar höherer, gemeinschaftlicher Ziele willen auch nur ein Menschenleben bewusst zerstört.“

Erst dann, wenn Herbert Belter so bekannt ist wie Sophie Scholl, können wir wirklich in Deutschland von einer vollständigen Erinnerungskultur reden.

Die Literatur zur DDR-Geschichte ist durchaus umfangreich. Daneben gibt es unzählige Fernsehproduktionen zum Thema. Und mit „Das Leben der Anderen“ erhielt ein Spielfilm über die Machenschaften der Stasi sogar den Oscar – mitsamt der damit verbundenen internationalen Aufmerksamkeit. Warum ist das kommunistische Unrecht trotzdem so wenig präsent?
Sie hatten eingangs Katja Hoyer erwähnt, die Anstoß daran nimmt, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Ob die flotte Formulierung wirklich so stimmt, daran hege ich Zweifel. Doch natürlich ist da auch etwas Wahres dran.

Nur, wer hatte denn letztlich gesiegt? Es war das linksliberale Juste Milieu, zum ersten Mal im Historikerstreit in den achtziger Jahren, schließlich die reichen Erben der 68er Generation, die sich eine Art grün lackierten Salonsozialismus leisteten. Viele von ihnen fanden es toll, dass es die DDR gab, auch wenn sie selbst nicht in ihr leben wollten. Für sie war es wunderbar, im Wohlstand zu leben und die Landsleute im Osten stellvertretend für die gesamtdeutsche Schuld in Sack und Asche gehen zu lassen. Deshalb empfanden sie die Friedliche Revolution und die Einheit von 1989/90 als Super-GAU und als narzisstische Kränkung. Sie haben die DDR nie wirklich als totalitäre Diktatur gesehen, weil Linke ja nicht totalitär sein können, und wenn doch ein bisschen, dann wenigstens exkulpiert als Diener des Fortschritts. Deshalb hatten sie kein Interesse daran, dass das wirklich aufgearbeitet wird.

Noch immer herrscht bei westlichen Linken und Linksliberalen die Vorstellung, dass der Sozialismus eigentlich eine gute Sache war, die lediglich von den Ossis falsch umgesetzt wurde. Jetzt will man unter dem Begriff „klimaneutrale Gesellschaft“ zeigen, wie es richtig geht. Da hat man kein Interesse daran, das gezeigt wird, dass der Sozialismus, dass eine Kommandowirtschaft, auch eine klimaneutrale Wirtschaft, die mit starken Mitteln der Planwirtschaft durchgesetzt wird, nicht funktionieren kann.

Und wie lässt sich der Missstand der mangelnden Präsenz des SED-Unrechts im Alltag beseitigen?
Durch Arbeit, durch beharrliche Analyse und Erzählung des Geschehenen. Aber dazu bedarf es auch der Unterstützung durch die Medien. Ins Bild passt, dass ein Buch wie das von Hoyer, das uns einreden will, wie schön es doch eigentlich im Sozialismus war – also „Keine Angst vor dem Sozialismus!“ – so hochgejubelt wird.

Welche Relevanz hat die Erinnerung an die Frühphase der DDR für die Gegenwart?
Totalitäre, das heißt von Ideologien ausgehende Diktaturen werden immer ins Werk gesetzt durch den Akt der Selbstermächtigung, damit, dass der Rechtsstaat ausgehebelt, die Demokratie suspendiert und vor allem die Freiheit des Individuums reduziert wird aufgrund höherer Interessen, höherer Ziele oder Notwendigkeiten. Die Rettung der Menschheit, vor was auch immer, die Errichtung einer gerechten Gesellschaft rechtfertigt jede diktatorische, illiberale Maßnahme – und rechtfertigt dann auch Gewalt und Ungerechtigkeit dem einzelnen gegenüber. So wird Gerechtigkeit zur Begründung von Ungerechtigkeit, wird der Kampf für die angeblich wahre Demokratie zum Mittel zur Abschaffung der Demokratie, wird der Kampf gegen Diskriminierung zur Diskriminierung und das Panier der Freiheit zur bloßen Nostalgie in unfreien Zeiten.

Die SED hat immer davon gesprochen, Kämpferin für die wahre Demokratie zu sein, wohingegen ihre politischen Gegner als undemokratisch, als Feinde der Demokratie hingestellt wurden. Der Höhepunkt der Demokratie bestand für die SED in der von ihr beherrschten Nationalen Front der demokratischen Parteien und Massenorganisationen, die zur Wahl einen gemeinsamen Wahlvorschlag vorlegten, in dem vorher festgelegt worden war, wie viele Mandate welche Partei und welche Massenorganisation bekam. Die Wähler konnten nur ablehnen oder annehmen. Doch schon der Gang in die Wahlkabine galt als staatsfeindlich. Wählen galt nicht als Wahl im Sinne einer Auswahl, sondern als Bekenntnis zur Partei, zum Staat, zum Sozialismus.

Doch Parteien, die sich selbst als demokratisch preisen und anderen absprechen demokratisch zu sein, haben die Demokratie nicht verstanden.

Und was denken Sie heute, wenn es in bestimmten Fragen heißt, dass „die demokratischen Parteien“ zusammenstehen sollen?
Nationale Front. Zumal, wenn man sich als Zensor aufspielt und Noten vergibt. Parteien haben in einer Demokratie nicht zusammenzustehen, sondern sie haben unterschiedliche Interessen zu vertreten und den Wählern verschiedene Angebote zu unterbreiten – und es ist allein Sache des Souveräns, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Parteien, die zusammenstehen, bilden letztlich eine Einheitspartei. Die Landsleute im Osten der Republik haben ein feines Gespür für diese Mechanismen.

Das heißt: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR ist keinesfalls nur etwas für Nostalgiker – und schon gar nicht nur etwas für Ossis?
Nein. Es ist nicht so, dass man aus der Geschichte lernt, weil sich Geschichte nicht wiederholt. Aber was man kann und was ungemein wichtig ist, ist, dass man ein Gespür, eine Sensibilität für Mechanismen erwirbt. Denn diese ändern sich nicht. Diktaturen beginnen immer mit dem Akt der Selbstermächtigung.

Das Interview führte René Nehring

Dr. Klaus-Rüdiger Mai ist Schriftsteller, Dramaturg und Publizist. Zu seinen Büchern gehören „Geht der Kirche der Glaube aus? Eine Streitschrift“ (Evangelische Verlagsanstalt 2017) sowie „Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand“ (Bonifatius 2023).


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