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Politik

In Bullerbü gehen die Lichter aus

Gut ein Jahr ist die neue Bundesregierung im Amt. Vor allem die Grünen vermochten es, der Ampelkoalition ihren Stempel aufzudrücken. Angesichts einer vielfachen Problemlage scheint es jedoch, als habe der grüne Zeitgeist seinen Zenit überschritten

Reinhard Mohr
09.12.2022

Zwei politische Schlagwörter hat das Jahr 2022 hervorgebracht: Zeitenwende und Doppelwumms. Auf den Wumms warten wir bis heute, doch den Beginn einer neuen Ära verspüren wir jeden Tag, spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Dabei geht es längst nicht nur um militärische und sicherheitspolitische Fragen, um fehlende Soldatenunterhosen, Panzerhaubitzen und Raketen: Vor allem die Wirkungen auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sind durchschlagend.

Plötzlich wird überall SOS gefunkt, selbst beim zuständigen Katastrophenschutz: bedrohliche Energieengpässe, Rekordinflation, Arbeitskräftemangel, Schuldenberge und eine Infrastruktur nicht nur bei der Bahn, die an die Wiederaufbaujahre nach dem Krieg erinnert. Dazu eine neue Flüchtlingswelle auch jenseits der ukrainischen Tragödie, drohende Blackouts und ausgesprochen fatale Ergebnisse einer Bildungsstudie, derzufolge immer mehr Kinder nicht mehr richtig lesen und schreiben lernen. So droht eine Generation chancenloser Analphabeten heranzuwachsen.

Ein grünes Himmelreich auf Erden

Es ist, als sei nach 16 Merkel-Jahren der Schleier gelüftet worden, der über dem Land lag. Nun liegen viele Dinge ziemlich nackt vor unser aller Augen. Manch einer könnte verzweifeln, wäre da nicht unser unerschütterlicher Bundeskanzler mit seiner fürs ganze Jahr geltenden Weihnachtsbotschaft „You'll never walk alone!“ (Du gehst niemals allein!). Das hat zwar nicht einmal Jesus Christus versprochen, aber das rotgrüne Himmelreich liegt ja auch schon auf Erden. Um genauer zu sein: Eigentlich ist es ein ur-grünes Himmelreich, ein irdisches Paradies im Hier und Jetzt.

Es hört auf den Namen „Bullerbü“, Inbegriff eines idyllischen Gesellschaftszustands mit schwedischem Migrationshintergrund – Astrid Lindgrens idealtypische Kindheitsutopie ihres Geburtsortes Vimmerby. „Bullerbü“ auf deutsch, das ist ein Traumland voller Windräder, Hüpfburgen und Lastenfahrräder, harmonisch, naturnah, konflikt- und plastikfrei, eine bunte, diverse, klimaneutrale, gender- und LGBTIAQ+-gerechte, ebenso grenzenlose wie weltoffene Gesellschaft, achtsam und tolerant gegenüber jederfrau. Über die Einhaltung der Regeln wachen die Antidiskriminierungs- und der Queer-Beauftragte, in voller sprachlicher Pracht: „Der Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“.

Selbstverständlich ist der Mann im Rang eines Parlamentarischen Staatssekretärs (Besoldungsgruppe B11) ein Grüner. Hier wird auch karrieremäßig niemand zurückgelassen, und in der autofreien Berliner Friedrichstraße laufen derweil die Planungen für eine TÜV-geprüfte Kopie von Ephraim Kishons legendärem Blaumilchkanal, dazwischen biologisch abbaubare Sitzbänke aus regional angebautem Bambus, gentechnikfreie Blumenkübel und gendersensible Werbetafeln für Willkommenskultur und vegane Unterwäsche. Über allem thront die Regenbogen-Moral mit eingenähter „One Love“-Armbinde, eine Art permanent tagender Ethikrat urbi et orbi – für den Kiez und den Erdball.

Dominanz eines Zeitgeists

Auch wenn dieses Genrebild eher an das Gemälde „Paradiesgärtlein“ eines unbekannten oberrheinischen Malers aus dem frühen 15. Jahrhundert erinnert: Die geradezu unheimliche Dominanz des grünen Zeitgeists seit zehn, fünfzehn Jahren ist offenkundig. Die Entwicklung einer Partei, die bei den ersten Wahlen nach der Vereinigung 1990 noch aus dem Bundestag flog und heute im Bundesdurchschnitt bei etwa 20 Prozent der Wählerstimmen liegt, ist atemberaubend. In der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem in der Berichterstattung von Radio, Fernsehen und Online-Medien überwiegen die grünen Themen, Motive und „Narrative“ bei Weitem alle anderen politischen Positionen. Bei ARD und ZDF etwa wird man unterdessen nicht einen einzigen prominenten Journalisten finden, der liberal-konservative Haltungen vertritt.

Im jüngsten Sonntagsgespräch des Deutschlandfunks mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, zur Reform des Einbürgerungsrechts erweckten die Fragen des Moderators geradezu den Eindruck, das einzige Integrationshindernis in Deutschland sei die reaktionäre Starrköpfigkeit von CDU und CSU. Sonst scheint es keine größeren Probleme zu geben. Aber klar: Die notorische Weigerung, sich den Realitäten „draußen im Lande“ zu stellen, dort, „wo es laut ist, da, wo es brodelt“ (Sigmar Gabriel), gehört zum Lifestyle-Kern des grünen Zeitgeists.

Wenn Ideologie auf Wirklichkeit trifft

Das aber könnte sich bald ändern: Zeitenwende auch hier. Die Versuchsanordnung angesichts multipler Krisen lautet: Was passiert, wenn Ideologie auf Wirklichkeit trifft? Könnte es sein, dass der Zenit des grünen Zeitgeists bereits überschritten ist? Dass die realen, ganz praktischen und unausweichlichen Herausforderungen das Traumland von Bullerbü in eine einzige große Baustelle verwandeln?

Es sind gleich mehrere große gesellschaftspolitische Felder, auf denen eine für die Grünen ziemlich unangenehme Konfrontation von Wunsch und Wahrheit bevorsteht: in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, bei Migration und Integration, Energiewende und Klimaschutz und im Blick auf die Zukunft eines Sozialstaats, der längst an seine finanziellen Grenzen gekommen ist. Nicht zu vergessen: die schleichende Verwandlung von immer neuen Schulden in milliardenschwere „Sondervermögen“, die kommende Generationen zurückzahlen müssen. Der Weg in eine Planwirtschaft light scheint vorgezeichnet.

Plötzlich muss – ganz gegen den antimilitaristischen Reflex vieler Grüner – jene Bundeswehr aufgerüstet werden, die eben noch, etwa beim Auslandseinsatz in Afghanistan, allenfalls als Truppe harmlos-friedliebender Brunnenbauer geduldet wurde. Plötzlich sind Geparden und Leoparden keine schützenswerten Wildtiere in der afrikanischen Savanne mehr, sondern allseits begehrte Kampfpanzer, die man an die russische Front schicken will. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck schließt mit Katar einen langjährigen Liefervertrag über Erdgas ab, was der „wertebasierten feministischen Außenpolitik“ ebenso grotesk zuwiderläuft wie den Klimaschutzforderungen der selbstklebenden „Letzten Generation“, mit denen man eigentlich sympathisiert.

Festhalten an alten Illusionen

Derweil wird der Weiterbetrieb von alten Kohlekraftwerken, denen jetzt auch noch der Kohlenachschub auszugehen droht, einem längeren Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke vorgezogen, die nahezu CO₂-frei Strom produzieren. So nimmt man ohne Not Stromausfälle im Winter in Kauf. Der Ausbau der „regenerativen“ Technologien wie Windkraft und Solarenergie stockt aus vielen Gründen, und wenn wie zuletzt frühwinterliche Dunkelheit und Windflaute herrschen, beträgt ihr Anteil an der Stromerzeugung gerade mal zehn bis fünfzehn Prozent (Kohle: fast 50 Prozent). Alle Warnungen von Wissenschaftlern vor einer solchen Situation, die die klimafreundliche „Energiewende“ ad absurdum führt, werden von den Grünen buchstäblich in den Wind geschlagen – zu schweigen von der Tatsache, dass Strom aus Wind und Sonne eben nicht „grundlastfähig“ ist, also nicht zu jeder Sekunde die benötigte Elektrizität liefern kann.

Dennoch wird weiterhin die Illusion verbreitet, das Weltklima mit einer flächendeckenden Verspargelung deutscher Kulturlandschaften retten zu können.

Vergleichbare Illusionen herrschen in der Flüchtlings- und Integrationspolitik. „Deutschland schlafwandelt gerade in eine neue Migrationskrise hinein“, prophezeit Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament, und alle Zahlen sprechen dafür. Kommunal- und Landkreispolitiker schlagen Alarm, die Kapazitäten sind erschöpft, die Konflikte nehmen zu, Parallelgesellschaften wachsen.

Doch im Deutschen Bundestag wird ein neues „Chancen-Aufenthaltsrecht“ verabschiedet, das eigentlich ausreisepflichtigen Migranten ein dauerhaftes Bleiberecht verspricht. Auch die Pläne für schnellere und erleichterte Einbürgerungen von Flüchtlingen sind nicht gerade dazu angetan, die Einwanderung zu steuern und zu begrenzen. Im Gegenteil. Die unausgesprochene Botschaft lautet: Wer es irgendwie nach Deutschland schafft und ein gewisses Durchhaltevermögen an den Tag legt, kann bleiben. Die verschwindend geringe Zahl rechtmäßiger Abschiebungen unterstreicht die schlichte Wahrheit: Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist de facto zum allgemeinen Einwanderungsrecht geworden – mit all seinen Folgen für die deutsche Gesellschaft.

Vehement bestreiten vor allem die Grünen, dass die hohen Standards des Sozialstaats in Deutschland ein „Pull-Faktor“ für die illegale Einwanderung sind. Doch allein die Tatsache, dass etwa zwei Drittel aller syrischen Flüchtlinge, die seit 2015 ins Land kamen, trotz 1,6 Millionen offener Stellen immer noch von Hartz-IV-Leistungen (demnächst „Bürgergeld“) leben, gibt einen klaren Hinweis auf die Sachlage. Weder in Italien noch in Griechenland, weder in Frankreich noch in Spanien oder Holland existieren vergleichbare Versorgungsleistungen ohne zeitliche Begrenzung. „Deutschland baut sich ein rot-grünes Luftschloss: den Wohlfahrtsstaat mit offenen Grenzen“, resümiert Dorothea Siems in der „Welt“.

Der Druck der Verhältnisse

Doch auch hier scheint das Ende der Fahnenstange erreicht. Man wird über schärfere Grenzkontrollen, Zuzugsbegrenzungen und Kürzungen von Sozialleistungen reden müssen: Mehr Geld für die, die arbeiten, weniger für die, die nicht arbeiten. Das zentrale Hindernis für eine grundsätzliche Veränderung bei der Betrachtung der Wirklichkeit ist jedoch nach wie vor die grüne A-priori-Moralisierung aller Debatten, die zum Beispiel verhindert, dass über muslimische Frauenverachtung, israelfeindlichen Antisemitismus arabischer Flüchtlinge und ihren intoleranten Machismo ebenso offen diskutiert werden kann wie über sächsischen Rechtsradikalismus und die mangelhafte antirassistische „Awareness“ sogenannter alter weißer Männer. Nota bene: Drängende Probleme, die nicht angesprochen werden – von Kriminalität in Brennpunktkiezen bis zum absehbaren Drama einer verlorenen Generation ohne Bildung und Aufstiegschancen – können nicht in Angriff genommen oder gar gelöst werden.

Doch wie oft in der Geschichte sorgt der massive Druck der Verhältnisse für Veränderung. Die entscheidende Frage lautet: Wie groß muss er werden, damit sich die Grünen endgültig von Bullerbü verabschieden?

• Reinhard Mohr war bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Er schreibt heute unter anderem für „Die Welt“ und „Neue Zürcher Zeitung“. 2021 erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag).
www.europa-verlag.com


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Kommentare

Gustav Leser am 09.12.22, 06:01 Uhr

Habeck und Baerbock auf verlorenem Posten seit dem Terroranschlag auf Nordstream

Die beiden Transatlantiker erhalten ihre Befehle von denen, die Nordstream in die Luft gejagt haben.
Und müssen weiterhin so tun als wären das unsere Freunde.
Und das kann nicht funktionieren.

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