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Gehören zur Lebenskultur Singapurs: Hawker-Stände in einem Wohnkomplex in Chinatown
Foto: twsGehören zur Lebenskultur Singapurs: Hawker-Stände in einem Wohnkomplex in Chinatown

Esskultur

In Singapurs Speisesaal

Die Hawker Center gehören jetzt zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe – Manche der Garküchen haben fast Haute-Cuisine-Qualität

Harald Tews
10.01.2021

Josh Lau hat als Neujahrsgruß über Instagram ein Foto geschickt. Es zeigt ihn mit seiner Familie fröhlich winkend vor Imbissbuden. Darunter die Information: „Endlich können wir in Singapur wieder im Hawker Center an Tischen sitzen und essen.“

Kaum etwas ist den Singapurern wichtiger als das gemeinsame Speisen im öffentlichen Raum. Wer in dem südostasiatischen Stadtstaat war, bevor der weltweite Ausnahmezustand auch diese Metropole mit ihren 5,7 Millionen Einwohnern ergriffen hat, der konnte sich über die Esslust der – gleichwohl schlanken – Bürger nur wundern. Ständig und überall wurde gekocht, gebrutzelt, gebraten; morgens, mittags, abends; Frauen, Männer, Kinder – alle waren am Essen. Aber nicht zu Hause, sondern in Hawker-Zentren.

In Deutschland würde man diese öffentlichen Kantinen abschätzig als „Fressmeilen“ bezeichnen. In Singapur, einem der reichsten Staaten der Erde, gehören diese billigen Garküchen jedoch ebenso zur Lebenskultur wie hierzulande die Currywurst mit Pommes. Weil den Singapurern diese Hawker Center heilig sind, hat die UNesco sie kurz vor Weihnachten in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Das „Esszimmer der Stadt“, wie es der Premier Lee Hsien Loong bezeichnet hat, blieb allerdings bis vor Kurzem leer. Unter Einhaltung aller Hygieneregeln war nur die Mitnahme von Gerichten erlaubt, das gemeinsame Speisen vor Ort, das dort auch als sozialer Kit fungiert, jedoch lange Zeit nicht. Da aber Singapur schon sehr früh mit rigiden Maßnahmen und einer wirksamen Warn-App gegen Corona vorgegangen ist, konnte man seit Juni phasenweise Lockerungen durchführen. Die dritte Phase wurde am 28. Dezember eingeläutet. Seitdem dürfen bis zu acht Personen an einem Tisch mit ausreichend Abstand zum nächsten Platz nehmen.

Die sechsköpfige Familie Josh Laus hat das gleich am ersten Tag genutzt, um wieder günstig essen zu gehen. Lau haben wir bei einem früheren Besuch in Singapur zufällig in einem Hawker Center am Bencoolen Link getroffen. Hier reihen sich etwa 50 Schnellimbisse aneinander, Sitzgelegenheiten befinden sich zwischen den Standreihen. Um einen herum ein Gewusel an Menschen, die nach Essen anstehen oder sich einen Platz suchen. Lau saß an einem dieser Tische, diesmal allein. Weil aber die Straßenküchen auch ein Ort sozialer Interaktion sind, beginnt sogleich ein Gespräch. Wo man denn herkomme, was man in Singapur so treibe.

Gespräch bei einem Teller Laksa

Er selbst, erzählt Lau, sei Hausverwalter, arbeite in der Nähe und esse hier immer zu Mittag. Dem Europäer sagt er, dass er selbst erst einmal im Ausland war: in Malaysia. Dazu muss man mit dem Auto eigentlich nur über eine Brücke fahren, welche die Insel Singapur mit dem Nachbarstaat Malaysia verbindet. Aber sein Sohn, berichtet er stolz, habe als Investmentberater schon die halbe Welt gesehen. Und er zählt auf: Indien, China, Vietnam, Hongkong. Ebenso stolz ist er auf seine ältere Tochter, die als „Office Managerin“ in einem der hohen Türme im Finanzbezirk arbeitet. Zwei weitere Kinder sind noch schulpflichtig, die Frau ist zu Hause und kocht abends, wenn man einmal nicht zu den Hawkern geht, für die Familie.

Die Laksa, eine traditionelle Nudelsuppe mit Kokosnuss und Shrimps, die man für umgerechnet drei Euro erhält, ist bei solcher Unterhaltung schnell ausgelöffelt. Bis in die 1950er Jahre haben Straßenköche solche Gerichte draußen verkauft. Man nannte sie Hawker wie Höker oder Hausierer. Weil sie ihre Waren unter grauenhaften hygienischen Zuständen anboten, schuf man die Center, wo sie unter sauberen Bedingungen arbeiten konnten. Inzwischen schuften 16.000 Hawker in 114 Centern sowie in Kleinstständen in Einkaufsmärkten oder Wohnblocks. Oft stehen sie bis zu 14 Stunden am Tag in dem nur drei oder vier Quadratmeter kleinen Stand, in dem von der Kühltruhe, den Vorratsschränken, dem Herd bis hin zur Spüle und der Kasse alles seinen Platz finden muss.

Michelin-Sterne für zwei Hawker

Außer einer Standmiete haben die Hawker keine Abgaben zu entrichten, auch keine Steuern. Deshalb ist der Beruf für viele so attraktiv, selbst wenn sie bei Außentemperaturen von 30 Grad den ganzen Tag am Herd oder Grill schwitzend mit flinker Hand die Menüs zubereiten. Trotzdem ist Nachwuchs rar. Den Kindern wurde ein Studium ermöglicht, die dann in den Finanztürmen das ganz große Geld verdienen.

Ihre Hawker-Eltern spezialisieren sich zumeist auf ein nationaltypisches Gericht. Der eine bietet „Bak kut teh“ an, Schweinerippe in Brühe, der Nächste Singapurs Nationalgericht „Haianese Chicken Rice“, Huhn mit Reis in dunkle Sojasoße getunkt, ein Dritter das indisch-muslimische „Rojak“, einen Gemüsesalat, oder „Kwai Chap“, dünne Reisnudeln in Brühe, und Fischgerichte mit Schlauchpilzen. Am Nachbarstand gibt es die Getränke, meist Obstsäfte wie den für europäische Gaumen gewöhnungsbedürftigen magentafarbenen Drachenfruchtsaft.

Viele Rezepte sind so ausgefeilt, dass sie Haute-Cuisine-Qualität haben. 2016 erhielten zwei Hawker sogar je einen Michelin-Stern: einer in einer öden Einkaufshalle in Chinatown für sein „Chicken Rice“ und ein anderer im Untergeschoss eines trostlosen Wohnsilos nördlich des muslimischen Viertels für sein Schweinefleisch mit Nudeln. Und das zu Preisen von umgerechnet drei oder vier Euro. Nirgends sonst gibt es eine günstigere Sterneküche. Dass die Gerichte in Kunststoffgeschirr serviert werden, stört keinen. Servicepersonal räumt es später von den Tischen ab.

Die Hawker Center sind auch ein Spiegelbild von Singapurs Gesellschaft. Hier findet sich alles unter einem Dach: Arm und Reich, Alt und Jung sowie alle hier vertretenen Ethnien wie Malaien, Inder, Tamilen, Chinesen. Entsprechend groß ist das babylonische Sprachwirrwarr an den Imbissständen. Englisch spricht in dieser früheren britischen Kronkolonie, die 1965 unabhängig wurde, aber fast jeder.

Wer als Tourist nach Singapur kommt, bewundert meist die glitzernden Hochhausfassaden, besucht das Marina-Bay-Sands-Hotel mit der an ein Surfbrett erinnernden Dachkonstruktion, flaniert durch den futuristischen botanischen Erlebnispark Gardens by the Bay oder kehrt in das frisch renovierte Nobelhotel Raffles ein, an dem in Corona-freien Jahren die Formel-1-Boliden bei ihrer Jagd nach dem Titel auf dem Stadtkurs dicht vorbeirasen. Das wahre Singapur versteckt sich jenseits davon. Man findet es bei den Hawkern.

Dort schließt man schnell Freundschaften. Josh Lau werden wir noch einen guten Sprung ins neue Jahr wünschen. Glatt und rutschig kann es in der knapp oberhalb des Äquators gelegenen Stadt nicht werden. Und, ach ja: Das chinesische Neujahrsfest, das Lau wie viele andere Singapurer entsprechender Abstammung zelebriert, ist erst am 12. Februar.


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