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Einst das Ende der Welt: Das Städtchen Reichenau hat sich zuletzt gemausert
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Östlich von Oder und Neiße

Jäger der Merkwürdigkeiten

Der Publizist Dawid Smolorz hat gemeinsam mit dem Fotographen Thomas Voßbeck deutsch-polnische Grenzkuriositäten gesucht

Till Scholtz-Knobloch
09.04.2023

Die Grenzziehung 1945 entlang der Neiße machte das sächsische Städtchen Reichenau [Bogatynia] zu einem Teil der Volksrepublik Polen. Dass der sogenannte Reichenauer Zipfel nach dem Krieg nicht einfach „rasiert“ wurde, hängt damit zusammen, dass hier der Tagebau die Republik Polen in den Besitz der wichtigen Kohle brachte. Zunächst war der Zugang aus der übrigen Volksrepublik jedoch durch darauf nicht ausgerichtete Verkehrswege ein riesiges Hindernis.

Zusammen mit dem Berliner Fotographen Thomas Voßbeck begab sich der oberschlesische Publizist Dawid Smolorz aus Gleiwitz in dieses Landstück. Er war auf den Geschmack gekommen, nachdem er in Oberschlesien bereits viele Sonderheiten einer kuriosen Grenze quer durch seine Heimatregion erforscht hatte. In Büchern und Filmen stellt er Straßenbahnverbindungen mit Grenzkontrollen in der Zwischenkriegszeit vor oder erläutert, wie die Grenzproblematik von Stollen unter Tage im Alltag behandelt wurde.

Einige filmisch aufgezeichnete Zeitzeugeninterviews aus dem Reichenauer Zipfel hat er auf einer Referatsreise zusammen mit Voßbeck und Ariane Afsari vom Kulturforum östliches Europa in Zehdenick bei Berlin, zweisprachig in Ost-Görlitz [Zgorzelec] vorgestellt. Seine Protagonisten, Grenzanrainer in dieser kuriosen geografischen Lage aus den Republiken Polen, Tschechien und Bundesrepublik, berichten davon, wie sie mit der Grenze aufwuchsen. Zwei Stimmen aus dem Zipfel berichten davon, dass in der Kindheit die Neugier zu schauen, wie es beim tschechischen Nachbarhaus aussieht so groß war, dass man es auf eine Grenzverletzung ankommen ließ. Ein Schulausflug ins deutsche Zittau habe nach einigen Jahren eine faszinierende Welt geöffnet. Auf einmal habe es eine Stadt um die Ecke gegeben, in der Leben sprühte und es doch ein Spielzeuggeschäft gab.

Zwar gehören das sächsische Reichenau und umliegende Dörfer zur Woiwodschaft Niederschlesien, der gänzlich verschwundene Teil des zwischen den Republiken Tschechien und Polen geteilten Ortes Weigdorf trug auf polnischer Seite nach 1945 jedoch den Namen Wigancice Żytawskie – übersetzt Weigsdorf im Zittauischen, womit seine historische Ausrichtung zum in der Bundesrepublik verbliebenen Zittau sogar betont wurde. Der Ort Grünau [Krzewina Zgorzelecka] bietet bis heute ein Eisenbahn-Kuriosum. Bis zur Stilllegung der polnischen Eisenbahnverbindung Görlitz-Moys [Zgorzelec]–Reichenau wurde der Bahnhof von der deutschen und der polnischen Eisenbahn genutzt, ohne dass hier jedoch ein Umstieg zwischen polnischen und deutschen Zügen möglich war. Beim Eisenbahnbau der Strecke Görlitz–Zittau, der 1875 abgeschlossen wurde, konnte natürlich niemand die spätere Grenze an der Lausitzer Neiße vorhersehen. So verläuft die 33 Kilometer lange Trasse nach wie vor zwölf Kilometer auf dem heute zur polnischen Republik gehörenden Ostufer und wird bis dato nur noch von bundesdeutschen Personenzügen befahren.

Die Bewohner von Ostritz können eine Fußgängerbrücke über die Neiße zum Bahnhof Krzewina Zgorzelecka nutzen, die einst nach Abfahrt des deutschen Zuges von Görlitz nach Zittau wieder geschlossen wurde. Um den Reichenauer Zipfel mit dem polnischen Teil von Görlitz zu verbinden, wurde eine neue Strecke aus Bruchstücken zusammengepuzzelt.

Die polnischen Personenzüge fuhren bis zum Jahr 2000 auf einem Stück der alten Strecke Görlitz–Lauban, um dann auf die frühere Privatbahn Nikolausdorf [Mikułowa]–Schönberg [Sulików] abzubiegen. Von Schönberg aus wurde eine Verlängerung in südwestlicher Richtung angeschlossen, die auf die von der Strecke Görlitz–Zittau abzweigende Strecke über Tschernhausen ins böhmische Friedland [Frydlant] führte. Von dieser Strecke wurden nur wenige Kilometer genutzt, da eine südlich von Radmeritz [Radomierzyce] errichtete Kurve zur hier östlich der Neiße verlaufenden und somit in polnischem Besitz befindlichen Strecke Görlitz–Zittau führte, um darüber Reichenau und die Kohlegrube zu erreichen.

Reichenau, das vor dem Krieg über die einen ost-westlichen Verlauf nehmende Strecke Zittau–Friedland sächsisch-böhmisch angeschlossen war, sah sich nun über Versatzstücke ausschließlich von Norden her angebunden. Um die Kuriosa zu vervollständigen – wurde das kleine Reichenau sogar von Kurs-Schlafwagen aus Warschau angesteuert.


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