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Kaukasus

„Jeder Tag kann der letzte sein“

Interview mit Viktor Wuchrer, deutschstämmiger Oberstleutnant i.R. der armenischen Streitkräfte, zum Krieg um Bergkarabach

16.10.2020

Viktor Wuchrer wurde 1949 während der Deportation der Russlanddeutschen in Tscheljabinsk in Sibirien geboren. Der Vater war Katharinenfelder aus dem Kaukasus, die Mutter Wolgadeutsche. Mit ihnen zog er 1956, da sie nicht mehr in ihre Heimat Katharinenfeld in Georgien zurück durften, nach Noyemberyan in Armenien. Er ist mit einer armenischen Germanistin verheiratet und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte des Kaukasus und der dortigen Deutschen. 1983 hat er an der Lomonossow-Universität in Moskau in Chemie promoviert. Nachdem Armenien die Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde er nicht nur Vorsitzender der Vereinigung der Armeniendeutschen „Teutonia“, er begann 1998 auch noch eine Karriere in der Armee Armeniens, wo er es bis zum Oberstleutnant brachte. Als solcher war er bis zu seiner Pensionierung vor einigen Jahren auch an Missionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in seinem Land beteiligt.

Herr Wuchrer, weshalb kommt gerade jetzt dieser Krieg um Bergkarabach, nachdem der Waffenstillstand 26 Jahre mehr oder weniger gut oder schlecht gehalten hatte?
Der Konflikt um Karabach ist schon sehr alt. Er stammt aus der Stalinzeit, als es in der Sowjetunion erstmals eine Teilrepublik Aserbaidschan gab, Armenien gibt es ja als Staat schon seit 4000 Jahren. Stalin hat Aserbaidschan Karabach geschenkt, obwohl dort fast keine Aserbaidschaner leben. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sich erstmals ein unabhängiger Staat Aserbaidschan gebildet hatte, proklamierten die Karabach-Armenier auch den Staat Karabach. Diesen Unabhängigkeitswillen der Karabacher hat Aserbaidschan nicht anerkannt. Aserbaidschan allein hätte es jedoch nicht gewagt, jetzt allein militärisch gegen Karabach und Armenien vorzugehen, denen steckt noch die Niederlage von 1994 in den Knochen. Erst die unkonditionierte Beistandszusage der Türkei und die enorme technische Aufrüstung durch Israel und Russland haben die Aserbaidschaner dazu verleitet, jetzt mit Rückendeckung Erdoğans loszuschlagen.

Was könnte Erdoğan veranlasst haben, gerade jetzt, nach vier anderen Konflikten, auch seinen vielleicht heißesten und gefährlichsten mit Armenien zu riskieren?
Die Türkei fühlt sich, nachdem sie bei vielen Konflikten die Oberhand behalten hat, in Syrien, Irak, Libyen, Zypern und gegen Griechenland, sehr stark. Deshalb hat Erdoğan jetzt das totale Beistandsversprechen an den Präsidenten Aserbaidschans Älijew und somit grünes Licht gegeben. Die Türkei war sehr erschrocken, als sie 1991 plötzlich einen Staat Armenien und nicht mehr die Sowjetunion als Nachbarn hatte. Ein Staat kann sehr viel besser auf internationaler Ebene Gerechtigkeit für das Menschheitsverbrechen, das den Armeniern 1915 von den Osmanen angetan wurde, einfordern. Für Erdoğan war es auch eine Art Entlastung, jetzt die Aserbaidschaner loszuschicken, denn diese, mit denen die Armenier in der Sowjetzeit eigentlich gut zusammengelebt haben, müssen nicht das Trauma eines uneingestandenen Völkermords verarbeiten, das die Gewissen unbewusst zerfrisst. Seine Gewissensbisse bekämpft Erdoğan mit weiteren Drohungen, bis hin zu der Drohung, den Genozid von 1915 zu vollenden. Aserbaidschaner und Türken sprechen zwar dieselbe Sprache, aber die Aserbaidschaner sind Schiiten und die Türken Sunniten. Die alevitischen Schiiten in der Türkei zum Beispiel hatten sich 1915 nicht am Völkermord beteiligt, sie haben sogar Armenier gerettet.

Erdoğan hat seinen Einsatz an der Seite Aserbaidschans auch mit dem Vorhandensein kurdischer PKK-Kämpfer in Armenien begründet. Ist da etwas dran?
Dies war ein Ablenkungsmanöver. Hier in Armenien leben viele Überlebende von Völkermorden, darunter sind neben Assyrern und Aramäern und Pontosgriechen auch die kurdischen Jesiden, also keine Muslime, die vor den Verfolgungen im Osmanischen Reich schon vor 200 Jahren hierher geflüchtet sind und sich heute auch als Staatsvolk fühlen und ihren armenischen Militärdienst leisten. Aus ihnen hat Erdoğan jetzt PKK-Terroristen herbeiphantasiert.

Wer sind die radikal-islamischen Söldner, die Erdoğan vor allem aus Syrien an die Front nach Karabach schickt? Welche Rolle spielen sie im derzeitigen Krieg?
Die irregulären islamistischen Hilfstruppen der Aserbaidschaner aus Syrien, Libyen und die Uiguren aus China sind leider keine Einbildung. Die ersten sind bereits gefallen und identifiziert worden. Auch Macron hat sie erwähnt. Zwei französische Journalisten an vorderster Front haben sie selbst gesehen. Erdoğan, der sie vermittelt hat, wie in Syrien und Libyen, hat damit sein wahres Gesicht gezeigt, dass er nämlich im Grunde der große Förderer des islamistischen Terrors ist, der dabei ist, die ganze Welt zu befallen. Wir Armenier kämpfen im Grunde jetzt nicht mehr bloß für unser Land, sondern auch für eine Zivilisation der Menschlichkeit gegen die Herrschaft des menschenverachtenden islamistischen Terrors, der dank Erdoğan die ganze Menschheit bedroht. Deshalb hat der heutige Kampf der Armenier eine ganz andere Dimension als 1915. Aber auch damals haben irreguläre Hilfstruppen, die Basi Bozuk („Halsabschneider“) der osmanischen Armee, die aus Kriminellen bestand, bereits die Drecksarbeit beim Genzoid an den Armeniern gemacht.

Wie gut ist Armenien jetzt auf einen monatelangen Abnutzungskrieg vorbereitet?
1994 war die Kampfkraft der aserbaidschanischen Armee sehr schwach. Viele Soldaten des jungen Staates sind einfach weggelaufen, weil auch sie von der hohen Moral und Kampfkraft der Armenier nach dem Genozid wussten. Im jetzigen Krieg spielt jedoch Technik die Hauptrolle. Da ist das kleine Armenien Aserbaidschan fast eins zu zehn unterlegen. Noch viel mehr, wenn man die Türkei dazuzählt, die ja faktisch schon mitkämpft. Armenien hat alte meist sowjetische Waffen und Aserbaidschan moderne Waffen aus Russland, Israel und der Türkei, und von dort auch Waffen aus Deutschland. Armenien hat außerdem keine Verbündeten. Wenn Russland nicht hilft, kann jeder Tag der letzte sein.

Welchen Rückhalt hat Premierminister Nikol Paschinjan, und warum nimmt er die Vermittlungsbemühungen anderer Staaten nicht an?
Paschinjan will Armenien weg von Russland führen. Obwohl Armenien zusammen mit Russland und vier weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken zur „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ gehört, einer Verteidigungsunion wie die NATO, hat Paschinjan bisher, anders als Lukaschenko, keine russische Hilfe angefordert. Paschinjan ist sehr träge. Er hat zwar seinen Vorgänger Koscharjan, der wegen Korruption im Gefängnis saß, entlassen, aber er wartet zu lange ab, obwohl es jeden Tag hohe Verluste gibt.

Wie wird in Armenien die Tatsache wahrgenommen, dass die Nachkommen der Völkermörder von 1915 jetzt wieder das armenische Volk angreifen und aus historischen Siedlungsgebieten vertreiben?
Die Armenier haben ein langes Gedächtnis. Der Genozid von 1915 prägt auch heute noch das Land und seine Erinnerung. Fast alle verlorenen armenischen Städte und Orte vom heutigen Staatsgebiet der Türkei wurden in Armenien an anderer Stelle neu aufgebaut. Vor allem der Ort „Musa Dagh“ bei Eriwan, benannt nach dem Mosesberg bei Antiochia, wo Armenier monatelang einer hundertfachen Übermacht von osmanischen und deutschen Militärs beim Völkermord standgehalten haben, ist zu einem nationalen Symbol für den legendären Durchhaltewillen der Armenier geworden.

Viele setzen sich jetzt für Armenien ein, vor allem Russland, Frankreich und auch die USA. Welche Hilfe sehen die Armenier als die wichtigste?
Amerika hat die Kurden in Syrien im Stich gelassen, obwohl diese ihnen geholfen hatten beim Kampf gegen den IS. Das hat man hier in Armenien nicht vergessen. Frankreich hat zwar beim ersten Genozid viele Armenier aufgenommen, Macron spricht zwar manchmal als einziger EU-Politiker auch Klartext mit Erdoğan, aber verlassen können sich die Armenier nur auf Russland, weil Russland als einziger Staat hier auch Militärstützpunkte hat. Aber auch Moskau wird nur eingreifen, wenn es sonst nicht mehr geht und wenn es genügend Gegenleistungen von Armenien bekommt.

Zu denjenigen, die Aserbaidschan mit modernen Waffen ausgerüstet haben, die jetzt zum Einsatz kommen, gehört auch Israel, ein Volk, das selbst einmal Opfer eines Völkermords war. Wie sieht man das in Armenien?
Von Israel sind die Armenier am meisten enttäuscht, weil durch die israelischen intelligenten Drohnen und israelische Raketen der meiste Schaden angerichtet wird. Dadurch, dass Israel solche Waffen an Staaten liefert, die sich im Kriegszustand befinden, hat es sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Die Erinnerung, dass Israel und Armenien bereits Opfer eines Völkermords waren, steht da zurück, denn Israel hat daraus wohl nichts gelernt. Armenien hat seinen Botschafter bereits aus Israel abgerufen.

Wie könnte ein Waffenstillstand zustande kommen, welche Rolle spielt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eigentlich noch?
Die OSZE sollte eigentlich den Waffenstillstand kontrollieren, aber deren Beobachter an der Demarkationslinie sind bereits nach dem ersten Schuss geflüchtet. Sie konnten nicht sagen, wer den ersten Schuss abgegeben hat. Deshalb behaupten jetzt sogar die Aserbaidschaner, Armenien hätte den Krieg angefangen, obwohl Armenien überhaupt kein Motiv oder Grund hatte, ihn zu beginnen.

Das Interview in deutscher Sprache perSkype führte Bodo Bost.


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Kommentare

Wolfgang E. am 19.10.20, 18:58 Uhr

Nikol Paschinjan, ein Lakaj, von Georg Soros, den EU Deppen. Das wird nicht gut gehen

sitra achra am 17.10.20, 10:32 Uhr

Ich bin fassungslos.

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