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Das Geheime Staatsarchiv in Berlin – ein hundertjähriges Haus auf dem Weg in eine Digitalisierung ohne vor Ort präsente Nutzer?
Kein Ort Berlins bewahrt mehr Geheimnisse, mehr Verborgenes. Man ahnt nie, was einem der Tag an Unbekanntem oder Wunderlichem, an wirklichen Menschen und wirklichem Leben, an Antworten und neuen Fragen einbringt, wenn man hier eintritt und – eine Akte aufschlägt. Und so wirbt jener geheimnisvolle Ort, das tatsächlich nach wie vor so genannte „Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz“, seit Ende März mit dem Spruch „Auch Geheime Archive sehnen sich nach Licht“ für eine kleine Ausstellung zum hundertjährigen Bestehen seines Hauses in Berlin-Dahlem und damit zugleich für sich selbst.
Doch gibt es hier wirklich ein Sehnen nach Licht? Heißt Licht nicht auch freie Erkenntnis, Wahrheit, Bildung? Locken die Geheimnisse unserer Archive wirklich noch? Wohl kaum, glaubt man einem geradezu erschütternd Archiv-fernen, jedoch zeitgeist- und universitätskonformen Interview im Jahresheft 2024 desselben Archivs. Von der „gesunkene[n] Attraktivität von Archivalien“ wird da gesprochen, „einschüchternd“ könne das Archiv auf Geschichtsstudenten wirken, „wie eine Behörde“. Man solle „nicht mehr einfach davon ausgehen, dass die Studierenden zum Archiv kommen“, das Archiv müsse – natürlich digital – zu diesen kommen.
Aber ob sich die Schätze desselben und damit der Reichtum der Geschichte wirklich mit einer „sehr individuellen Perspektive [der Studierenden] auf die Geschichte“ oder mit „vorbereitete[n] Sequenzen“ von Schlüsseldokumenten finden lassen? Stecken die Geheimnisse nicht vielmehr in den zusammengeschnürten staubigen Aktenbündeln des Geheimen Rats, in den dicken Amts- und Hausbüchern unter den Ostpreußischen Folianten (wie der Autor dieses Beitrags es während der Arbeit seinem Buch zur Königsberger Königstraße erfahren durfte) oder den gleichsam in Schuhkartons verborgenen lebensvollen Schriftstücken des Herzoglichen Briefarchivs und sind erst beim eigenen, auch mal mühsamen, doch immer spannenden stillen Durcharbeiten zu entdecken?
Der Geschichte dieses Ortes, vor allem der Geschichte der Rettung der gewaltigen Aktenberge aus Berlin und Königsberg durch den Zweiten Weltkrieg hindurch, widmet sich derzeit eine schön gestaltete Jubiläumsausstellung im Foyer und Flur vor dem Forschungssaal des Archivs. Schriftstücke, Fotos und Pläne laden in acht Glasvitrinen und auf langen, doch sehr lesenswerten Tafeln zum Kennenlernen des Hauses ein. Knapp wird dabei an Direktoren und Mitarbeiter erinnert, die das Archiv durch turbulente Zeiten führten. Ein hübscher Einfall ist der Grundriss, auf dem sie in ihren Zimmern verortet werden. Die Besucher kommen gerne, einzeln oder zu den engagierten Führungen, etwa durch die Kuratorin Constanze Krause.
Errichtung, Auslagerung und Wiedereinrichtung
Jahrhundertelang waren die Archive im Berliner und im Königsberger Schloss untergebracht. Viele Akten wurden erst nach und nach im 19. Jahrhundert vom Staat der Forschung freigegeben, zuvor dienten sie der Verwaltung und waren oft tatsächlich geheim. Mehr und mehr traten erledigte Akten aus Behörden, aus Privatbesitz, aus Nachlässen hinzu. Immer enger wurde es in beiden Schlössern, immer notwendiger Neubauten hier wie dort. Aus dem Berliner Schloss zog man 1874 in ein Provisorium, ein Lagerhaus nahe dem Alexanderplatz, mitten in den Lärm der Großstadt.
Endlich wurde 1914 durch den Architekten Eduard Fürstenau ein neubarocker Neubau entworfen, draußen vor der Stadt in Dahlem. Hier war bereits seit 1897 unter Kaiser Wilhelm II. mit dem Bau erster Einrichtungen eines neuen Wissenschaftsstandortes der Anfang gemacht worden, der dann vor allem seit der Teilung der Stadt mit der Freien Universität seinen Ausbau erfuhr. Der Archivbau, begonnen 1915, ruhte bald. Erster Weltkrieg, Baustoffmangel und Inflation mit explodierenden Kosten erschwerten die Fertigstellung des Haupthauses mit seinem riesigen Magazingebäude und der Direktorenvilla. Und so konnte der Forschungssaal erst vor hundert Jahren, im März 1924, seine Tür öffnen. In Königsberg dauerte es mit der Fertigstellung des dortigen hochmodernen Staatsarchivs noch bis 1929/30.
Welche Herausforderungen hatte und hat das Staatsarchiv in den folgenden hundert Jahren bis heute zu meistern? Kaum eröffnet musste sich das Archivpersonal mit Luftschutzfragen und Modernisierungen befassen. Mit Beginn des Dritten Reiches begannen Einschränkungen und Ausgrenzungen auch in der Forschung – die Ausstellung streift das Thema. Und dann forderte die angloamerikanische Bombardierung Berlins den vollen Einsatz bei der Auslagerung des Archivguts. Einiges ging bis nach Schloss Sonnenburg in der Neumark und musste beim Herannahen der Roten Armee wiederum Richtung Westen verlagert werden. Vor allem die in den Salzbergwerken Straßfurt und Schönebeck eingelagerten Bestände überstanden weitgehend unbeschadet den Krieg. Fotos dokumentieren die Bombenschäden am Dach des Hauses durch den alliierten Luftangriff vom August 1943. Schließlich verursachte bei der Besetzung Berlins 1945 durch die Rote Armee ein Brand im Magazin die Vernichtung nicht ausgelagerter Archivalien.
Bald nach Kriegsende setzte an den Auslagerungsorten die schwierige Bergung ein. Die Angst vor einer bewussten Vernichtung preußischer Akten im Zuge der alliierten Auflösung Preußens ging noch 1947 um. Die Aufteilung des Deutschen Reiches in Besatzungszonen entschied über den Verbleib des Archivguts. Manches war in die Sowjetunion transportiert worden und kam größtenteils in den 1950er Jahren nach Sachsen-Anhalt. In Merseburg wurde eine Abteilung des Zentralen Staatsarchivs der DDR aufgebaut. Auch in West-Berlin wurde das Archiv alsbald mit wenigen Beständen neu eingerichtet, wobei nicht alle ehemaligen Mitarbeiter ins Archiv zurückkehren durften: Parteigenossen der NSDAP sollten nicht wieder angestellt werden.
Großes Glück im Unglück hatte das Königsberger Staatsarchiv. Vor allem seine so bedeutenden mittelalterlichen Bestände wie auch die herzogszeitlichen Akten waren noch bei Kriegsende in den Westen gelangt. In der Kaiserpfalz zu Goslar reihte sich Kiste an Kiste, türmten sich Aktenberge.
1957 wurde in der Bundesrepublik die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gebildet, der seit 1963 nicht nur das Geheime Staatsarchiv in Berlin angehört, sondern unter deren Verwaltung auch die mittlerweile nach Göttingen verbrachten Königsberger Bestände kamen. Im „Staatlichen Archivlager Göttingen“ sind bis in die 1970er Jahre zahlreiche grundlegende Studien zur ostpreußischen Landesgeschichte etwa von Walther Hubatsch, Jürgen Petersohn oder Iselin Gundermann entstanden. Nach langen Differenzen zwischen dem Land Niedersachsen und dem Bund wurden die Königsberger Bestände schließlich 1978/79 nach Dahlem gebracht.
Im Zuge der Deutschen Einheit von 1990 konnten endlich auch die Merseburger Akten – 25.000 laufende Meter – 1993/94 nach Berlin zurückkehren. Seither liegen die einst weit voneinander entfernt in Berlin und Königsberg, in Potsdam oder Gumbinnen entstandenen Schriftstücke nahe beieinander, ergänzen sich, auch mit vielen anderen Beständen wie dem Brandenburg-Preußischen Hausarchiv des Königshauses.
Auf dem Weg in die digitale Abwicklung?
Reichtum und Vielfalt der Bestände sind nicht Thema der Jubiläumsausstellung, werden aber durch einen bunten Stapel Verpackungsmaterial symbolisiert. Hingegen wird eine Vitrine einer schematischen Darstellung des „Digitalen Wandels“ geopfert. Nichts gegen Internetpräsenz und Aktendigitalisierung, aber ob dieser Wandel zu herausragenderen Forschungsergebnissen führen wird, ist noch nicht bewiesen.
Zu mehr Bürokratie und weniger Gespräch im Archiv führt er allemal schon jetzt. Ab wann auch zu mehr Kontrolle? Obgleich aus vermeintlichen Datenschutzgründen der EU die jahrzehntelang gepflegten Benutzerzettel in den Akten nicht mehr geführt werden dürfen, ja aus Akten entfernt werden, womit hilfreiche Dokumente der Wissenschaftsgeschichte verschwinden, soll der Benutzer jetzt von der Anmeldung bis zur Aktenbestellung und -ausgabe rundum digitalisiert werden – natürlich wird dies wiederum als „Chance“, „nutzerfreundlich“ und Fortschritt gepriesen. Erst heute wird so das Archiv zur anonymen „Behörde“. Und das stets griffbereite Smartphone führt sichtbar zu weniger Geduld mit den Akten. Doch laut genanntem Interview scheint erwartet zu werden, dass sich das Archiv auf derlei Konzentrationslosigkeit, schnell erhoffte Ergebnisse oder schlichte Faulheit etwa beim durchaus nicht so schwierigen Erlernen des Lesens der deutschen Schrift einzustellen habe.
Uns „alte“ Nutzer, die wir seit Jahrzehnten „unser“ Archiv kennen, verwundert da auch die letzte Vitrine: Mit Playmobilfiguren und Möblierungsplan wird ein neuer Forschungssaal vorgestellt Sind das Wünsche oder wirkliche Planungen? Für wen? Wir schütteln den Kopf, vor allem weil bekannt ist, dass seit Jahren nicht genügend Magazinraum für Akten und für die beengte Bibliothek vorhanden ist. Schick soll der Forschungssaal werden. Wohl auch weniger Tische haben? Denkt man – wer? –, dass mit zunehmender Digitalisierung ein wirklicher Arbeitssaal kaum noch gebraucht wird? Seit 2020 werden die Plätze reduziert, der zweite Lesesaal ist geschlossen, der Aufenthaltsraum für Benutzer – einst ein Ort des Kennenlernens und intensiven Austauschs mit anderen im Archiv Forschenden – ist ebenfalls beseitigt. Wer auch immer hier seine Ideen zu Papier gebracht hat, mit langjährigen Nutzern kann er oder sie nicht gesprochen haben.
So sinnfrei also zwei der acht Ausstellungskästen sind, so reizend sind die Kästchen, die gleich im großen Treppenhaus den Besucher anlocken: Hier wird zum Beispiel in einem Filmchen die Fertigung eines Aktenknotens erklärt, den man wohl auch nach Jahren nicht mit jener Perfektion ausführt, wie ihn die Mitarbeiter an der Aktenausgabe schnüren. Bis Ende 2027 soll die Ausstellung noch bleiben. Aufsätze zur Hausgeschichte kann, wer nicht nach Dahlem reist, in dem frei erhältlichen, abwechslungsreichen Jahresheft 3/2024 nachlesen.
Und vielleicht führt die Ausstellung manchen Besucher etwa zur eigenen Familien- oder Ortsforschung neugierig in den hellen Forschungssaal. Das Archiv ist nämlich gar nicht so geheim, es schüchtert nicht ein, es hat zahlreiche hilfsbereite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und es braucht, das zeigen Ausstellung und Jahresheft, zugewandte freie Historiker, um das Geheime wirklich in ein ergebnisoffenes Licht zu führen – überall.
b Dr. Wulf D. Wagner ist Architektur-historiker und Publizist. Zu seinen Arbeiten gehören eine zweibändige Geschichte des Königsberger Schlosses (Schnell & Steiner 2008 und 2011) sowie „Die Altertumsgesellschaft Prussia. Einblicke in ein Jahrhundert Geschichtsverein, Archäologie und Museumswesen in Ostpreußen (1844–1945)“ (Husum 2019). 2023 erschien „Die Königstraße in Königsberg i. Pr. Aus der Geschichte einzelner Grundstücke und ihrer Eigentümer vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert“ (fibre Verlag). www.fibre-verlag.de
Die Jubiläumsausstellung im Geheimen Staatsarchiv ist während der normalen Öffnungszeiten des Hauses zugänglich.