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Eine schmackhaft-zähe Angelegenheit von größter Beliebtheit: Als das Baumharz der Mayas als „cooles“ Kulturgut Nachkriegsdeutschland eroberte
Man stelle sich mal vor, man wäre ein Maya im dichten Dschungel Mittelamerikas, irgendwann so etwa um 200 n. Chr. Die Sonne brennt erbarmungslos vom blauen Himmel, die bunten, wilden Vögel kreischen aus den Kronen der gigantischen, dichten Baumkronen, und man kaut währenddessen gedankenversunken auf einem Stück zähem, milchigem Dicksirup aus dem Sapodillabaum herum. Es schmeckt zwar nicht besonders, aber es hält zumindest die Zähne sauber und vertreibt außerdem die Langeweile. Genau das war der absolute Ur-Kaugummi.
So, und damit fing einst alles an: Chicle, das schlichte, beinahe geschmacksneurale Harz des besagten Sapodillabaums. Die Maya und später auch die Azteken kauten dieses Naturprodukt nicht nur zur Zahnpflege im Dschungel, sondern nutzten es auch als Geschenk oder sogar als Zahlungsmittel. Chicle war schlicht und einfach eine praktische Entdeckung, ein Geschenk der Natur, aber niemand hätte damals auch nur annähernd gedacht, dass so ein ödes Gummi einmal die Welt erobern würde.
Also wurde im südamerikanischen Urwald weiter gekaut und gekaut, geschmatzt und geschnalzt, und die Jahrhunderte vergingen Tag um Tag, bis das Ende des 19. Jahrhunderts erreicht war. Denn genau dann begann die moderne Geschichte des Kaugummis, wie wir es heute kennen. Sie beginnt mit einem Mann namens Antonio López de Santa Anna – ja, genau, der mexikanische General, der für die Schlacht von Alamo in Texas berüchtigt ist, dessen Fort bis heute in San Antonio besichtigt werden kann.
Vom Reifen zum Kaugenuss
Santa Anna war seit dem Jahr 1860 im Exil in den USA und hatte rein zufällig was dabei? Richtig, eine Ladung Chicle. Er hoffte, daraus einen Ersatz für Gummi herstellen zu können. Allerdings nicht zum Kauen oder um Zähne zu reinigen, sondern beispielsweise für Reifen. Daher beauftragte er den smarten Tüftler und Erfinder Thomas Adams, einen stets neugierigen, an allem und jedem interessierten New Yorker, mit diesem merkwürdig anmutenden, zähen, leicht klebrigen Zeug etwas Nützliches zu machen. Doch Adams' zahlreiche Experimente zur Herstellung von Reifen schlugen fehl. Bis ihm Santa Anna nebenbei erzählte, dass man früher auf dem Harz rumgekaut habe. Adams wollte das anfangs gar nicht glauben. Warum bitte sollte man auf einem nahezu geschmacklosen Gummi herumkauen? Aber eines Tages probierte er es dann doch selbst aus und steckte sich ein Stück Chicle in dem Mund – und während er eher etwas erstaunt und verwundert vor sich hinkaute, dabei immer wieder versuchte, einen Geschmack zu ergründen, hatte er plötzlich eine Idee.
Wenn es nach etwas schmecken würde, kämen sicherlich viele andere Menschen auch auf den Geschmack. Und so ein Kaugummi würde lange halten, da man es ja nicht runterschluckt, sondern permanent kaut. Zudem befand Adams, dass es eine unglaublich beruhigende Wirkung auf ihn hatte – leicht verträumt vor sich hinzukauen statt zu Essen, ein wunderbares Gefühl. Im Jahr 1869 war es schließlich soweit. Der clevere Erfinder Adams, der auch einen Riecher für gute Geschäfte hatte, brachte den ersten kommerziellen Kaugummi auf den Markt: kleine, bis dahin ungewürzte, lediglich leicht gesalzene Chicle-Klumpen, die in Papier gewickelt waren. Der Name? „Adams New York Chewing Gum“.
Bingo! Seine Idee wurde zwar kein sofortiger Volltreffer, doch die Idee setzte sich langsam, aber sicher mehr und mehr durch. Adams erkannte, dass die Menschen das Kauen mochten – es war entspannend, machte Spaß und war irgendwie, um es Amerikanisch auszudrücken, „cool“. Also begann er, den Kaugummi mit Geschmacksrichtungen wie Lakritze oder Zitrone zu versehen und gründete die erste Kaugummifabrik. Der Grundstein war gelegt.
Aber Adams war nicht ganz allein mit seiner Verkaufsidee. Denn schon bald erkannte ein anderer Pionier das Potential des Gummis – William Wrigley Jr., ein Seifenverkäufer aus Chicago. 1891 bot dieser seinen Kunden Kaugummi als Gratisbeigabe an – und stellte fest, dass die Leute den Kaugummi mehr mochten als die Seife. Schlau wie er war, wechselte er daraufhin abrupt ins Kaugummigeschäft und brachte 1893 den legendären „Wrigley's Spearmint“ auf den Markt. Mit cleverem Marketing, wie Zeitungsanzeigen und Probepäckchen, machte er Kaugummi zu einem echten Massenprodukt und absoluten Verkaufsschlager. Wrigley verstand, dass Kaugummi nicht nur ein Produkt war, sondern ein Lebensgefühl: Es war erschwinglich, tragbar und machte Spaß.
Warum ist Kaugummi so beliebt?
Da fragt man sich doch, was Kaugummi eigentlich so unwiderstehlich macht? Erstens ist es ein multisensorisches Erlebnis. Der Geschmack – ob Minze, Frucht oder Zimt – explodiert im Mund, während das Kauen eine rhythmische, fast meditative Bewegung ist. Medizinische und psychologische Studien zeigen, dass Kauen Stress reduziert, die Konzentration fördert und sogar den Appetit zügelt (wenn auch nur kurzfristig). Zweitens ist Kaugummi sozial: Ein Päckchen teilen, eine Blase machen, dann das Knallen hören – das verbindet. Drittens ist es billig und überall schnell und einfach verfügbar, von der Tankstelle bis zum Kiosk.
Und dann ist da noch der „X-Faktor“, die Aura der Coolness, die einen Kauer umgibt. Diese Lässigkeit, die manchmal aber auch zu einer eher doofen Attitüde verkommt, wenn die Kaubewegung zu übertrieben rüberkommt. Kaugummi wurde schnell zum Symbol für Jugend, Rebellion und Nonchalance. man denke nur an die 1950er Jahre: James Dean, Lederjacke, Kragen hoch, ein Kaugummi im Mund. Es war, als würde man die pure Freiheit kauen. Marken wie Wrigley, Bazooka oder später Hubba Bubba verstärkten diesen Nimbus mit bunten Verpackungen und lustigen Extras wie Comics in der Packung.
Die Reise nach Deutschland
Und auch in Deutschland erlebte das Gummi einen Siegeszug, wenn auch erst viel später und unter eher traurigen Umständen. Dennoch darf man heute sagen: den amerikanischen GIs sei Dank. Denn als die Alliierten 1945 in Deutschland einmarschierten, brachten sie nicht nur Waffen, Befreiung von der NS-Diktatur, Freiheit und lebenswichtige Lebensmittel, sondern auch Kaugummi mit.
Für die deutsche Bevölkerung, die nach Jahren der Entbehrung hungerte, war Kaugummi wie ein Stück Amerika: bunt, süß, exotisch. GIs verteilten Kaugummis an Kinder, die dafür „Chewing Gum!“ riefen und die Soldaten mit großen Augen umringten, bejubelten und liebten. Marken wie Wrigley's und Dubble Bubble wurden zum Symbol für die neue Freiheit und den Wiederaufbau. „Hatte man einen Streifen abbekommen, fühlte man sich wie ein König. Nichts war schöner in der Zeit, als ein Stück Kaugummi zu besitzen. Wir alle gingen extrem sparsam damit um, denn wir Kinder wussten ja nicht, ob und wann wir die Chance bekamen, nochmal ein Stück Chewing Gum, was übrigens mein erstes Wort auf Englisch war, das ich lernte, zu ergattern!“, berichtet Zeitzeuge Alfons Fuchser (88) aus Nürnberg im Gespräch mit der PAZ.
Auch nach dem Krieg spielte Kaugummi eine überraschend wichtige Rolle im Wirtschaftswunder. Es war eines der ersten Konsumgüter, die in Deutschland produziert und vertrieben wurden. Die Firma Wrigley eröffnete nämlich 1950, also vor 75 Jahren, eine Niederlassung in München, und bald kauten die Deutschen, was das Zeug hielt. Kaugummi war erschwinglich und stand für den neuen Wohlstand. Kinder sammelten die bunten Verpackungen, Teenager übten Blasenmachen, und sogar Erwachsene genossen die kleinen Momente der Leichtigkeit, die ein Kaugummi bot.
In den 1950er und 60er Jahren wurde Kaugummi in Deutschland zu einem kulturellen Phänomen. Es war nicht nur ein Snack, sondern ein Zeichen des Wandels. Die Jugend begann, amerikanische Trends zu übernehmen: Rock' n' Roll, Jeans – und Kaugummi. In Schulhöfen und auf Tanzflächen war das Kauen ein Statement: „Ich bin modern und frei.“ Gleichzeitig gab es Kritik konservativer Kreise, die das Kauen als „unanständig“ oder „amerikanisch dekadent“ ansahen. Doch die Jugend ließ sich – zum Glück – davon nicht beirren.
Kaugummi spielte auch eine Rolle in der sozialen Interaktion. In den Trümmern der Nachkriegszeit waren kleine Gesten der Großzügigkeit wichtig. Ein Kaugummi zu teilen, war eine einfache Art, Freundschaft oder Solidarität zu zeigen. Für viele Kinder war es das erste „Luxusgut“, das sie besaßen. Marken wie Bazooka Joe, mit ihren kleinen Comics in der Verpackung, wurden Kult. Die unterhaltsamen Geschichten von Bazooka Joe waren simpel, aber sie brachten ein Stück Humor in den tristen, oft traurigen deutschen Nachkriegsalltag.
Gesellschaftspolitische Bedeutung
Heute, im Jahr 2025, ist Kaugummi mehr als nur ein Konsumprodukt – es ist ein globales Phänomen mit gesellschaftspolitischen Facetten. Erstens ist da die Umweltdebatte. Herkömmlicher Kaugummi besteht oft aus synthetischen Polymeren, die nicht biologisch abbaubar sind. Die klebrigen Flecken auf Gehwegen sind ein ständiges Ärgernis, und in Städten wie Singapur ist er inzwischen verboten.
Und dennoch darf man davon ausgehen, dass er nie aus der Mode kommen wird. Gekaut wird immer. Und weil das so ist, feiern wir jedes Jahr am 30. September den „Tag des Kaugummis“ – für alle Deutsche auch ein Tag der Freiheit.