06.10.2025

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete Emil Wiechert (1861–1928) mit anderen Wissenschaftlern auf dem Hainberg bei Göttingen eine Erdbebenwarte. Es ist die älteste noch voll funktionsfähige der Welt.
Bild: epd-bild/Swen Pfoertner/WikimediaZu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete Emil Wiechert (1861–1928) mit anderen Wissenschaftlern auf dem Hainberg bei Göttingen eine Erdbebenwarte. Es ist die älteste noch voll funktionsfähige der Welt.

Emil Wiechert

Knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt

Der geniale Tilsiter Physiker entdeckte das Elektron und erzielte Quantensprünge beim Messen seismischer Wellen

Wolfgang Kaufmann
06.10.2025

Ostpreußen brachte beachtliche drei Nobelpreisträger hervor (PAZ 33/25). Und wenn es in der Welt der Wissenschaft immer gerecht zugehen würde, wäre Emil Wiechert sicherlich die verdiente Nummer Vier gewesen.

Der Sohn eines Tilsiter Kaufmanns kam am 26. Dezember 1861 in der Stadt an der Memel zur Welt. Trotz des frühen Todes seines Vaters konnte er an der Albertus-Universität in Königsberg Physik studieren, worauf bis 1890 sogar Promotion und Habilitation folgten. Sechs Jahre später berichtete Wiechert bei einem Treffen der Königsberger Physikalischen Gesellschaft von der Existenz eines Partikels, das noch kleiner als ein Wasserstoffatom sei. Dem folgte am 7. Januar 1897 ein weiterer Vortrag, in dessen Verlauf der damals 35-Jährige die Masse dieses Teilchens mit rund zwei Tausendsteln der Masse des Wasserstoffatoms bezifferte. Damit kann er faktisch als Entdecker des Elektrons gelten. Allerdings ging der Ruhm dafür an den Briten Joseph John Thomson, dessen Bericht über den Nachweis des ersten subatomaren Teilchens bereits vom 30. April 1897 stammt. Statt Wiechert erhielt daher Thomson 1906 den Nobelpreis für Physik. Zu dem Zeitpunkt hatte Wiecherts Karriere jedoch schon eine abrupte Wendung genommen.

Wirksam bis Deutsch-Samoa
Durch seine beeindruckenden Leistungen in Königsberg waren namhafte Physiker der Universität Göttingen auf den Ostpreußen aufmerksam geworden. Daraus resultierte der Ruf an die renommierte Alma Mater, welche für den Neuankömmling im Januar 1898 den weltweit ersten Lehrstuhl für Geophysik schuf. Wiechert machte sich daraufhin mit Feuereifer an die Errichtung der bis heute betriebenen Erdbebenwarte auf dem Hainberg oberhalb der Stadt. Um die seismischen Wellen im Inneren unseres Planeten aufzuzeichnen, brauchte es entsprechende Messgeräte, welche der Physiker vielfach selbst konstruierte und die später auch in anderen Erdbebenwarten rund um die Welt zum Einsatz kamen. Mit den Wiechertschen Horizontal- und Vertikalseismographen gelang unter anderem die komplette Erfassung der Wellen des verheerenden Erdbebens von San Francisco im Jahr 1906 mit über 3000 Toten. Einige der Geräte standen dabei auch in der 1902 auf Wiecherts Initiative hin eröffneten Außenstelle der Göttinger Forschungseinrichtung auf der Halbinsel Mulinun in der Kolonie Deutsch-Samoa.

Das Studium der seismischen Wellen führte unter anderem zur Entdeckung der Wiechert-Gutenberg-Diskontinuität, also der Grenze zwischen dem Erdmantel und dem Erdkern, an der die Geschwindigkeit der Wellen drastisch zurückgeht.

Mit Einstein und Planck
Diese Übergangszone verorteten Wiechert und dessen Doktorand beziehungsweise Kollege Beno Gutenberg in rund 2900 Kilometern Tiefe. Außerdem schlussfolgerte Wiechert gemeinsam mit dem schwedischen Chemie-Nobelpreisträger Svante Arrhenius aus seinen Beobachtungen, dass der Kern der Erde aus Eisen bestehe.

Wiechert, der stets in engem fachlichen Austausch mit wissenschaftlichen Größen auf dem Gebiet der Physik wie Albert Einstein und Max Planck stand, gehörte 1904 zu den Gründern der Association Internationale de Séismologie (AIS), aus der später die International Association of Seismology and Physics of the Earth's Interior (IASPEI) hervorging.

Wellen um das Zweimillionenfache
Des Weiteren gab er den Anstoß zur Gründung der Deutschen Seismologischen Gesellschaft (DSG), die ihn dann auch am 19. September 1922 auch zu ihrem ersten Vorsitzenden wählte. Zwei Jahre später wurde die DSG in Deutsche Geophysikalische Gesellschaft (DGG) umbenannt, wobei Wiechert erneut an deren Spitze stand, bis er 1925 von seinem Stellvertreter Oskar Hecker, dem Direktor der Reichsanstalt für Erdbebenforschung in Jena, abgelöst wurde.

Zu dieser Zeit analysierte Wiechert mit Unterstützung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, also der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Ausbreitung von Explosionswellen im Boden und in der Luft, was sowohl für die Geologie als auch die Meteorologie von eminenter Bedeutung war. Dafür konstruierte er weitere innovative Messgeräte, die in dem 1925 errichteten „Neuen Erdbebenhaus“ auf dem Hainberg Platz fanden. Manche der Instrumente erlaubten nun eine Verstärkung der Wellen um das Zweimillionenfache. Daher dienten die Apparaturen in der Göttinger Erdbebenwarte lange nach Wiecherts Tod auch dem Nachweis von Kernwaffentests rund um die Welt.

Medaille in Wiecherts Namen
Der Geophysiker erhielt im Laufe seiner Göttinger Jahre immer wieder diverse Rufe an andere Universitäten wie Rostock, Königsberg, München und Potsdam, denen er allerdings nie folgte. Wiechert zog es vor, an der ehemaligen Wirkungsstätte von Carl Friedrich Gauß und weiterer Vorreiter seines Fachs zu verbleiben und dort auch dann noch an wissenschaftlichen Projekten zu arbeiten, als ihn eine heimtückische Krankheit schwer beeinträchtigte. Sein Kampf gegen dieses Leiden endete am 19. März 1928 im Alter von 66 Jahren.

Heute gilt der verhinderte Nobelpreisträger mit den ostpreußischen Wurzeln als Gründungsvater der Geophysik und einer der bedeutendsten Seismologen aller Zeiten. Deshalb verleiht die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft seit 1955 für besondere wissenschaftliche Leistungen die Emil-Wiechert-Medaille.


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