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Novi Sad in Serbien taucht als Europas Kulturhauptstadt 2022 mit einer Vielzahl an kreativen Impulsen aus der Deckung hervor
Im Restaurant „Veliki“ in der Kürschnergasse liegt die DNA der Woiwodina auf dem Tisch. Die dekorative Papierunterlage unter dem Teller gibt mit vielen Beispielen einen lockeren Einblick in den multikulturellen und multinationalen Charakter von Serbiens nördlichster Provinz in der Pannonischen Tiefebene.
So erfährt man, dass es hier ein tschechisches Dorf gibt und mehrere ukrainische Dörfer, im 9. Jahrhundert der bulgarische Herzog Salan die Region beherrschte, 1690 die ersten Albaner zusammen mit Serben in die Woiwodina kamen, im 18. Jahrhundert Siedler aus dem Elsass und Lothringen mehrere Dörfer gründeten, Immigranten aus Italien und Katalonien sich in Seidenfabriken und beim Bau der Eisenbahn verdingten, die Stadt Bečkerek, heute Zrenjanin, von den katalanischen Neubürgern Neu-Barcelona genannt wurde, nach der Oktoberrevolution viele Russen, meist Intellektuelle, in der Woiwodina Zuflucht suchten und 1946 rund 5000 Griechen, Mali Idjoš die einzige Stadt in Serbien ist und in der Montenegrinisch als offizielle Sprache anerkannt ist.
Die Provinz an Save, Donau und Theiß umfasst etwa ein Viertel von Serbiens Staatsfläche und ist damit etwas größer als Hessen. Novi Sad, Neusatz auf Deutsch, ist mit rund 300.000 Einwohnern ihre Hauptstadt.
Von den rund zwei Millionen Einwohnern der Woiwodina stellen die Serben mit etwa 65 Prozent die absolute Mehrheit. Daneben leben hier als anerkannte Minderheiten 29 ethnische Gruppen, darunter an zweiter Stelle Ungarn (15 Prozent), danach Slowaken, Russinen (Ruthenen) und Rumänen, weiter Deutsche, Juden, Armenier, Kroaten, Bunjewatzen (Bunjevci), Schokatzen (Šokci), Tschechen, Italiener, Russen, Franzosen, Bulgaren, Roma, Slowenen, Türken, Albaner, Goraner und Zinzaren.
Wer jetzt ein buntes ethnisches Durcheinander auf den Straßen der Provinzhauptstadt erwartet, wird eines Besseren belehrt. Novi Sads Einwohnerschaft gibt sich modern. Der Sprachunkundige merkt genauso wenig, dass es fünf Amtssprachen gibt: Serbisch, Ungarisch, Slowakisch, Ruthenisch, Rumänisch. Erst der zufällige Blick auf das Schild der Stadtbibliothek in kyrillischer und lateinischer Schrift offenbart die Mehrsprachigkeit.
Geschlossen präsentiert sich genauso die hübsche Altstadt mit ihrer vertrauten europäischen Architektur aus Barock, Historismus und Klassizismus bis hin zum Bauhaus. Sie ist heute eine mit Terrassen-Cafés und Restaurants gespickte einladende Fußgängerzone. Rund um den zentralen Freiheitsplatz geht die Homogenität sogar so weit, dass selbst die orthodoxe St.-Georgs-Kathedrale kein typischer Kuppelbau ist, sondern im Stil einer katholischen Barockkirche erbaut wurde. Tolerant gab man sich nur bei der orthodoxen Innenausstattung.
Verstecke, Fallen, Hinterhalte
Nicht nur Brautpaare zieht es zum Hochzeitsfoto auf die Festung Peterwardein. Das „Gibraltar an der Donau“ ist eine der komplexesten, größten und am besten erhaltenen Festungen Europas. Österreichische Militäringenieure folgten bei dem Bau von 1692 bis 1780 dem System des französischen Festungsbaumeisters Sébastien Vauban. Dessen ganze Raffinesse offenbart die Führung durch die unterirdischen Galerien. Auf dem einen Kilometer langen Gang durch das komplizierte Kampf-, Kommunikations- und Minensystem – Gesamtlänge 20 Kilometer auf vier Etagen – kann man die ausgeklügelten Verstecke, Fallen und Hinterhalte nur bestaunen.
Die Festung ist die Keimzelle von Novi Sad. Zu ihren Füßen entstand erst die barocke Unterstadt, dann als Brückenkopf das heutige Novi Sad, das bis 1918 Teil des Habsburgerreichs war. Die Varadin-Brücke schafft die Verbindung über die Donau. Sie ist die erste der drei Donau-Brücken, die schon ein Jahr nach dem NATO-Angriff wieder aufgebaut war. 2005 folgte die Freiheitsbrücke und 2018 die Žeželjev Most, eine kombinierte Straßen- und Eisenbahnbrücke. In Novi Sad endete Europas Kriegsgeschichte nicht im April 1945, sondern im Juni 1999. Alle Schäden sind beseitigt. Nur die Betonstützen der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Eisenbahnbrücke ragen mahnend aus dem Wasser.
Seit dem 1. März 2012 gilt Serbien offiziell als Beitrittskandidat der EU. Ein Status, der die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt ermöglichte. Im Vorfeld schon wurde ihr Programm mit dem prestigeträchtigen Melina-Mercouri-Preis für die Erhaltung von Kulturlandschaften ausgezeichnet. Bereits 2019 war Novi Sad zur Europäischen Jugendhauptstadt gekürt worden. Nicht unwesentlich war dafür das Exit-Festival. Zu diesem „besten großen europäischen Festival“ pilgern jeden Juli tausende junge Menschen auf die Festung.
Im aktuellen Krieg in der Ukraine verhält sich das traditionell russlandfreundliche Serbien offiziell neutral. Dass es damit als Europäische Kulturhauptstadt zwischen allen Stühlen sitzt, hat das Konzept nicht geschmälert. „Wir haben trotz des Krieges unser Programm wie geplant durchgeführt“, erklärt Nemanja Milenković, Chef der Foundation Novi Sad ECoC, und hofft, „auch das Vermächtnis des Projekts leiten zu dürfen.“
So entstanden für das Kulturhauptstadtjahr neun neue Kulturstätten, zum Beispiel in alten Fabriken wie der einstigen Seidenmanufaktur. Nach Milenković ist es das größte Investment der letzten 50 Jahre. Potential für die Nachnutzung ist vorhanden. Allein die Universität von Novi Sad besuchen 50.000 Studenten. Schon jetzt nimmt die IT-Branche einen wichtigen Platz ein. Das Kulturhauptstadt-Projekt, so hofft man, wird die Kultur- und Kreativwirtschaft weiter stärken.
Auch die bestehenden 35 Kulturinstitutionen dürften vom diesjährigen Aufsehen profitieren. Das Museum der Woiwodina will seine eindrucksvolle Schau zur Frühgeschichte der Region „Ein neolithischer Nachttraum“, die am 15. Oktober endet, virtuell ins Netz stellen (www.muzejvovojdine.org.rs). Und die Ausstellung „Parallelen Timişoara / Novi Sad“ in der Galerie Matica Srpska, einem der reichsten Kunstmuseen in Serbien, weist schon jetzt auf die Nähe zu Rumäniens Kulturhauptstadt 2023, Temeswar, hin (siehe dazu auch Seite 21).