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Über die Ukraine ist in den vergangenen Jahren viel geredet und geschrieben worden. Wie sehr dies zumeist am Selbstempfinden der Ukrainer vorbeigeht, konnte unser Autor während einer Tagung vor fünf Jahren in Galizien erleben. Eine Erinnerung
Von Europa nach Lemberg“ – An solchem Widersinn arbeitete sich eine große Tagung im Juni 2017 ab – „vor Ort“, in Lemberg, Europa. Die Literatur war damals das „Reflexionsmedium“. Über achtzig Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Journalisten und Studenten aus zahlreichen Ländern hatten sich in der westukrainischen Metropole versammelt.
Die Initiative für das Projekt „Literatur als Reflexionsmedium“ ging von der Kölner Literaturwissenschaftlerin Birgit Lermen aus. Das Erfolgsgeheimnis war eine kreative Mischung von Gesprächspartnern aus Politik, Wissenschaft und mit der Region vertrauten Autoren. Dazu kam das Lokalkolorit des Tagungsortes. So wurde die Lemberger Konferenz im bekannten Opernhaus des Architekten Zygmunt Gorgolewski (1845–1903) eröffnet, die einzelnen Sektionen fanden im Potozky-Palast des Architekten Louis Dauvergne (1854–1903) statt und eine festliche Abendveranstaltung im Haus der Wissenschaftler, ebenfalls einem repräsentativen Gebäude aus der Habsburger Zeit Ende des 19. Jahrhunderts.
Außerhalb der EU, aber deutlich erkennbar innerhalb Europas
Und doch war es diesmal in entscheidenden Aspekten anders als bei früheren ähnlichen Konferenzen. Erstmals tagte man in einem Land, das nicht zur EU, aber erkennbar zu Europa gehört. Ein verbreitetes Missverständnis beschreibt ein Reiseführer: den Weg von Europa nach Lemberg. So wird eine Stadt fehlinterpretiert, die zutiefst europäisch denkt und empfindet und mit ihrer jahrhundertealten Geschichte ein europäisches Zentrum repräsentiert.
Erstmals tagte man in jenem Sommer auch in einem Land, das von einem aufgezwungenen Krieg und der Annexion der Krim zerrissen wird und seit 2014 damals bereits über 10.000 Gefallene zu beklagen hatte. Folgerichtig befasste sich die Konferenz mit dem Thema „Krieg und Frieden“ und der europäischen Ordnung nach 1990. Die erträumte Friedensordnung nach dem Zerfall des Kommunismus hatte sich nicht eingestellt. Der Balkankrieg führte zu einer ersten Flüchtlingswelle in Europa, über 200.000 Menschen fanden den Tod. Die Staaten des 1991 aufgelösten Warschauer Paktes drängten in die NATO. Moskau fand sich mit Wladimir Putin nicht in die Rolle des „Juniorpartners“, sondern suchte nach Ausgleich für die in der Interpretation des Kreml „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, den Zerfall der Sowjetunion.
Den äußeren Instabilitäten stellte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert innereuropäische Asymmetrien an die Seite, insbesondere die zwischen Erweiterung und Vertiefung der EU, von der gerade die Ukraine als großes Land im Osten bis heute betroffen ist, weil in absehbarer Zeit an zusätzliche Erweiterungen nicht zu denken ist. Nüchtern wurde auch von anderen Referenten, wie Bernhard Vogel und Hans-Gert Pöttering, die Unmöglichkeit eines EU-Beitritts der Ukraine erläutert. Zugesichert wurde eine enge Zusammenarbeit, ähnlich der, wie man sie sich für Großbritannien nach dem Brexit vorstellte.
Brüssel-zentrierte Europasicht
Unbehagen verursachte die Perspektive, legten doch die Begriffe „Erweiterung“ oder gar „Osterweiterung“ dem Zuhörer nahe, wo das westliche Zentrum liegt, von dem aus die Erweiterung zu erfolgen habe. Der noch 2004 anlässlich des großen Beitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten verwendete Begriff der „Wiedervereinigung Europas“ fand keine Erwähnung.
Bernhard Vogel meinte, es sei gut, in einem Land zu sein, das nach Europa wolle – eine eher missverständliche Äußerung in einem europäischen Land. Von ukrainischer Seite wurde vermutet, die Ukraine sei wohl aus der Perspektive des Westens nicht so klar erkennbar. Von westlicher Seite wurde gar konstatiert, dass noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sei, wer sich nicht an Brüssel und dem Westen orientiere. Diese Brüssel-zentrierte Europasicht wird bis heute in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU nicht akzeptiert.
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder stellte eine „gehobene Ratlosigkeit“ angesichts der Trümmer fest, die von dem Versuch einer „Verwestlichung der Welt“ zurückgelassen wurden. Das Dilemma zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der östlichen EU-Mitglieder und dem Machtanspruch Moskaus ließe sich für die Ukraine in ihrer prekären Lage nur durch geduldige Verhandlungen und Kompromisse lösen.
Ukrainische Befindlichkeiten
Dieser operative Ansatz entsprach der von Norbert Lammert vorgebrachten Überlegung, dass auch labile Verhältnisse zur Stabilität beitragen könnten. Wie die jahrzehntelange Nicht-Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland sicher auch ihren Beitrag zur Einheit geleistet habe, so könnte die Nicht-Anerkennung der Krim-Annexion gegebenenfalls zu einer Lösung in der Zukunft führen. Dass sich diese Spekulation mit dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 zerschlagen hat, ist offenkundig.
Galizien stand ebenfalls im Zentrum der Betrachtung, jene Region um Lemberg und Czernowitz, in der es vor der Vernichtung durch den Nationalsozialismus ein fruchtbares Zusammenleben von Polen, Ukrainern, Russen, Deutschen und Juden gegeben hatte, wo Millionen Menschen das Jiddische sprachen und wo, wie es Birgit Lermen ausdrückte, eine „poetische Kraft“ wirkte, beispielhaft in Paul Celan, die nie wieder erreicht wurde.
Ein Höhepunkt war damals der Vortrag des Ukrainers Jurij Andruchowytsch (*1960), von dem auf Deutsch sein „Kleines Lexikon intimer Städte“ und „Mein Europa“ (mit Andrzej Stasiuk) erschienen sind. In Lemberg trug er eine „Kurze Geschichte der Mutationen“ vor. In fünf Gedankenschritten schilderte er seine und die ukrainischen Befindlichkeiten im Verhältnis zu Europa von der staatlichen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit Anfang der 1990er Jahre über die Befreiung von einem moskauhörigen Regime und die Revolution bis zur Euromajdan-Bewegung. Eine immer tiefere persönliche Depression des Autors kennzeichnet die Mutationen, ausgelöst von der Haltung des offiziellen Europa, die durch Desinteresse und dadurch geprägt ist, die Ukraine aus Europa herauszuhalten, obwohl das Land doch zu Europa gehört.
Mangelnde Brüsseler Sensibilität
Diese Unempfindlichkeit der EU brachte auch der frühere Präsident der österreichischen Nationalversammlung, Andreas Khol, zur Sprache. Die EU-Institutionen seien unsensibel und zentralistisch orientiert. Das Europäische Parlament könne mit Subsidiarität nichts anfangen und erstrebe eine Allzuständigkeit in einer zu schaffenden Sozialunion. Der Europäische Gerichtshof entscheide systematisch gemeinschaftsorientiert und zeichne sich durch unsensible Vorgehensweisen aus. Die Kommission praktiziere eine zentralistische Sprache und habe ihr Rollenverständnis verändert: von der Hüterin der Verträge und des Rechts zur Ausübung eines politischen Mandats gegen den Rechtsvollzug. Die Krise der EU sei eine Krise ihrer Institutionen. Die Verträge sollten wieder zur Richtschnur in der EU werden. – Man sieht: In den letzten fünf Jahren hat sich nichts geändert.
Die anwesenden Politiker versuchten, der Globalisierung und der sie bestimmenden Komplexität mit plausiblen Erklärungen beizukommen. Der Nationalstaat in Europa als „Gefäß der Souveränität“ habe sich überholt, stellte Norbert Lammert fest. Das blieb nicht unwidersprochen, sind doch die Staaten weiter für ihre inneren Angelegenheiten verantwortlich und in Europa mit ihrem Einigungswillen oder Widerstreben zuständig für die Zukunft der Union oder deren Erosion. Ein Staatenverbund mit selbstbewussten Nationen sei aber ein wirksames politisches Mittel gegen einen unkontrolliert wachsenden Nationalismus.
„Ich weiß selber nicht, welche Seele ich habe“
George Bernard Shaw wurde zitiert, der gesagt habe, auf jede komplexe Frage gebe es eine einfache Antwort, und die sei regelmäßig falsch. Dem setzte Andreas Rödder die Beobachtung entgegen, dass die neue „Leitkultur“ des Regenbogens und der Genderideologie in Europa eine bestimmte Richtung des Populismus geradezu provoziert habe. Auch die EU sei nicht frei von der Versuchung, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu praktizieren, die sich dann als falsch und verhängnisvoll erweisen. Die Einheitswährung Euro sei ein beklemmendes Beispiel dafür.
Andererseits würde Nikolaj Gogol (1809–1852), nach Alexander Puschkin (1799-1837) einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller, in der Ukraine geboren, aber russisch schreibend, heute sicher in einem Moskauer Gefängnis landen für seine Äußerung: „Ich weiß selber nicht, welche Seele ich habe, eine ukrainische oder eine russische.“ In Russland gibt es nur „Entweder-Oder“.
Eine Frage hat die Teilnehmer der Lemberger Konferenz sicher weiter begleitet: Warum erscheint das Christliche heute oft nur als „entferntes Echo“, als „Gedächtnisspur“? Ist eine christliche Literatur zu ertragen? Ist christliche Literatur überhaupt noch möglich? Navid Kermani reduziert Religion auf das Ästhetische mit der pikanten Perspektive, dass die Kunstbeflissenen sich in den Kirchen von den Christen mit ihrem Gesangbuch gestört fühlen. Kann es „Versöhnungsmodelle“ geben, die das Ästhetische hin zum Humanen, ja Religiösen überwinden?
Putins Krieg heute wird vom Kampf der orthodoxen Kirche, Patriarchat Moskau gegen Patriarchat Kiew, überlagert. Das Patriarchat Moskau steht an der Seite des Aggressors, wie bereits 2014. Auch im Balkankrieg stand die serbische Orthodoxie, unterstützt vom Patriarchat Moskau, an der Seite der Belgrader Aggressoren.
In Lemberg war der in der Religion wurzelnde ukrainische Patriotismus 2017 allerorten sichtbar in einer auffälligen, das städtische Leben durchwirkenden christlichen Volksfrömmigkeit und der Gebete in allen Kirchen für die zahllosen Gefallenen eines oktroyierten, ungerechten Krieges.
• Klaus Weigelt war unter anderem Gründer und Leiter der Politischen Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung auf Schloss Eichholz sowie Leiter des Europabüros der KAS in Brüssel. Er ist Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg e.V. Zu seinen Büchern gehört „Im Schatten Europas. Ostdeutsche Kultur zwischen Duldung und Vergessen“ (Westkreuz-Verlag 2019).
Siegfried Hermann am 06.03.22, 10:39 Uhr
Diese Sprüche unserer Elite-Experten hätte Ihr Euch schenken können!
Lemberg ist deshalb so faszinierend, weil über Jahrhunderte (!!) unter unterschiedlichsten Herrschaften Polen, Ukrainer, Deutsche, Galizier, Ungarn und Juden diese Stadt geprägt haben.
Und
alles andere, nur nicht diese Gott verfluchte "mültikülti" bei raus gekommen ist. Warum wohl!?
Wenn dieser elendige von den Kasaren angezettelte Oligarchenkrieg beendet und Kokolores in die Hölle gejagt ist, ist Lemberg immer eine Städtereise wert!