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Während die Welt mit einer Pandemie und deren Nebenwirkungen kämpft, streitet die SPD darüber, ob zwei alte linke Galionsfiguren noch in die Partei passen. Für die Stammwählerschaft bleibt da keine Zeit mehr
Eigentlich ist es für Wolfgang Thierse gut gelaufen. Nachdem der langjährige Bundestagspräsident seine Parteivorsitzende Saskia Esken per Brief ersucht hatte, ihm mitzuteilen, ob sein „Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich“ sei, ging eine Woge der Entrüstung über die SPD-Führung nieder. Die Parteichefin ruderte daraufhin zurück, telefonierte am Mittwoch vergangener Woche mit dem 77-jährigen Thierse und versicherte ihm, sie sei keineswegs beschämt über ihn als Genossen. Auch andere Spitzenkräfte der Partei riefen bei Thierse an, Olaf Scholz etwa oder Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans versicherten dem Polit-Pensionär eilends ihre Solidarität.
Szenen einer Polit-Posse
Tage zuvor noch mussten sich Thierse und seine gleichaltrige Parteifreundin Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und zweimalige Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, noch von Esken und Parteivize Kevin Kühnert anhören, man sei „beschämt“ ob der „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD“, die ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zum Ausdruck brächten. Diese Worte standen in einer Einladung an Vertreter der schwul-lesbischen Queer-Community zu einem Gespräch mit der Parteispitze und sollten die Wogen glätten, die in den Tagen zuvor aufgebrandet waren.
Begonnen hat die Polit-Posse Mitte Februar bei einem von der SPD veranstalteten Online-„Jour fixe“, den Gesine Schwan moderierte und bei dem die Leiterin des „FAZ“-Feuilletons, Sandra Kegel, zu Wort kam. Anfang Februar hatte das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ eine Titelgeschichte mit dem Hashtag „#actout“ gebracht, in der sich 185 Schauspieler outeten, schwul, lesbisch, bisexuell oder transsexuell zu sein, und Diskriminierungen in ihrer Branche beklagten. Nicht nur die „FAZ“-Journalistin Kegel zeigte sich verwundert darüber, dass homosexuelle Menschen im Kunst- und Kulturbereich neuerdings benachteiligt sein sollten. In dem „Jour fixe“-Gespräch wurde Kegel dann von Aktivisten der Queer-Community angefeindet, sie wurde der „Homophobie“ bezichtigt und „rechten bis rechtsradikalen Sprechs“.
Schwan selbst machte sich bei dieser Veranstaltung unbeliebt, weil sie einen schauspielernden Menschen, der sich keinem Geschlecht zuordnet, also nicht binär ist, irreführenderweise aber auf den Namen Heinrich Horwitz hört, falsch angesprochen haben soll. „Ich bin kein Herr Horwitz!“, empörte sich der „Misgenderte“. Kevin Kühnert sah anschließend darin eine verletzende Gleichgültigkeit gegenüber einem geschlechtsneutralen Menschen.
Abkehr von den Stammwählern
Ein paar Tage später veröffentlichte Wolfgang Thierse in der „FAZ“ einen Gastbeitrag, in dem er sein Unbehagen ob der Eskalationen der sogenannten Identitätspolitik zu Protokoll gab. Unsere Gesellschaft, so Thierse, zerfalle immer mehr in Partikularinteressen einzelner Minderheiten. Eine grassierende Cancel Culture würde zunehmend den Meinungskorridor verengen: „Linke Identitätspolitik ist in der Gefahr, die notwendigen Durchsetzungs- und Verständigungsprozesse zu verkürzen und zu verengen.“ Dies werde für die Sozialdemokratie zu einem wachsenden Problem: „Themen kultureller Zugehörigkeit scheinen jedenfalls unsere westlichen Gesellschaften mittlerweile mehr zu erregen und zu spalten als verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen.“
Der bislang zu den linken Sozialdemokraten gerechnete Thierse, der auf einmal ein Reaktionär sein soll, hat damit einen wunden Punkt der Partei berührt. Tatsächlich hadern viele Genossen gerade an der Parteibasis damit, dass ihre Spitzenfunktionäre sich lieber um den Kampf gegen Rechts, die feministische Agenda, Migrationsthemen und Lifestyle-Anliegen von Homosexuellen kümmern als um die schnöde materielle Lage einer wenig schillernden Stammklientel. Denn dass die SPD stabil um die 15 Prozent dümpelt, hat vor allem damit zu tun, dass die Partei ihre traditionelle Wählerschaft nicht mehr erreicht – eine Zielgruppe, die aus Menschen von herzerweichender Normalität besteht, von provinzieller Einspurigkeit; der Gegenentwurf also zu den irisierenden Kulturkreativen in den Metropolen. Hier eine bodenständige, spezifisch sozialdemokratische, melodiöse Piefigkeit in der Provinz – dort eine sich weltläufig spreizende Funktionärskaste in den urbanen Zentren. Der Kulturbruch könnte kaum größer sein.
Entsprechend befremdlich ist es auch für viele Wähler, dass sich die Berliner Parteigranden lautstark für gegenderte Sprache, Notdurftkabinen für Transsexuelle, vegan produziertes Kinderspielzeug, Vielfalt der Lebensentwürfe und klimaneutrale Fernreisen engagieren, während die Politik für die breite Mehrheit vernachlässigt wird, weil bezahlbarer Wohnraum und Kita-Plätze fehlen, Krankenhäuser und Schulen kaputt gespart werden und der Armutsbericht der Bundesregierung jedes Jahr mehr Betroffene ausweist.
So mutet es eher als ein Verschleierungsmanöver an, wenn die Parteien links von der Mitte, also SPD, Grüne und Linkspartei, sich gerne auf den Schlachtfeldern der Identitätspolitik verkämpfen, als hätten wir keine größeren Probleme als die Frage, ob sich Frauen nach Jahrhunderten des praktizierten generischen Maskulinums auf einmal aus der deutschen Sprache ausgeschlossen fühlten. Oder ob im Personalausweis ein drittes Geschlecht eingepflegt werden müsse und ob jener Sammelbegriff „divers“ auch den Anforderungen jener Liste aus 60 verschiedenen Geschlechtern Genüge tue, die Facebook mit dem Lesben- und Schwulenverband zusammengetragen hat.
Lobbyarbeit für Minderheiten
Selbst für Beobachter, die ein entspanntes und herzliches Verhältnis zu Menschen verbindet, die ihr Leben jenseits heterosexueller Normativität führen, mutet es zunehmend gespenstisch an, was die Lobbyisten einschlägiger gesellschaftlicher Minderheiten an Forderungen erheben. So verwahren sich afrikanische Communities gegen den Gebrauch des „N-Worts“. Der Negerkuss darf deshalb nicht mehr so heißen, auch nicht der Mohrenkopf, die Mohrenstraße und die Mohren-Apotheke. Bei unseren schwarzafrikanischen Zuwanderern, so heißt es, würden diese Begriffe schlimmste Erinnerungen an die Kolonialzeit wachrufen, genauso wie die verbreiteten Bismarck-Denkmäler, die viele Aktivisten im vergangenen Sommer am liebsten gleich gesprengt hätten. Dass das Deutsche Reich unter den Kolonialmächten eher ein Zwerg war und der Machtpolitiker Bismarck ein Gegner von Kolonialpolitik, dürfte den Bismarck-Hassern kaum bekannt sein.
Auch das immer penetrantere Gendern der deutschen Sprache in sich progressiv wähnenden Medien offenbart nicht nur Bildungslücken, sondern mehr noch einen Mangel an ästhetischem Empfinden. Der Genderstern verunziert das Schriftbild, die inzwischen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesprochene Genderpause, das akustische Sternchen, ertönt als bemühte Albernheit. Die Absicht, der knappen Mehrheit weiblicher Menschen zu Erwähnung und mehr öffentlicher Teilhabe zu verhelfen, bleibt eine leere Behauptung. Der Psychologe Ahmad Mansour, Sohn arabischer Israelis, twitterte dazu: „In der arabischen Sprache wird seit ihrer Entstehung gegendert, sogar das Verb wird gegendert, an der Realität der Frauen, an Ungleichheiten hat sich nichts verändert. Sogar die schlimmsten patriarchalischen Regeln werden gegendert ausgesprochen.“
Ebenso wirklichkeitsfern wirkt der Hashtag „#actout“ im „SZ-Magazin“. Da forderten 185 Mimen „mehr Sichtbarkeit, Anerkennung und Diversität in Film, Fernsehen und Theater“. Sonderbarerweise sind darunter viele prominente Gesichter wie Maren Kroymann, Ulrich Matthes, Udo Samel und Jaecki Schwarz. Und die weniger bekannten Schauspieler? Sind die seltener zu sehen, weil sie nicht heterosexuell sind? Oder einfach nur deshalb, weil der Schauspielerberuf wie die Schriftstellerei ein tägliches Lotteriespiel um Engagements und Aufträge ist? Und ist es umgekehrt nicht eher ein Akt der Unfairness, dass ein unbekannter homosexueller Künstler sich durch seine geschlechtlichen Neigungen aufs Titelblatt des Magazins mogelt, was seinem unbekannten heterosexuellen Kollegen strukturell verwehrt ist? Oder steht uns demnächst die Coverstory bevor: „Ich bin heterosexuell und verlange ebenfalls Sichtbarkeit, Anerkennung und Diversität in Film, Fernsehen und Theater?“
Beleidigtsein als Volkssport
Derlei Gedankenspiele machen den infantilen Kern von Identitätspolitik deutlich. Noch in den sechziger und siebziger Jahren stand in der Jugendkultur, untermalt durch Rock'n'Roll und Protestbewegung, der Phänotypus des Außenseiters hoch im Kurs. Der „Outcast“ wurde in Musik und Literatur gefeiert und galt als eine Art säkulare Gestalt des Erleuchteten. Heranwachsende verschlangen die Bücher von Hermann Hesse, identifizierten sich mit seiner Romanfigur „Steppenwolf“ und wollten eines zu allerletzt: zur Masse gehören. Heute ist das Beleidigtsein zum Volkssport geworden, das Heischen nach Respekt hat sogar Eingang in die Wahlkampfrhetorik von Olaf Scholz gefunden. Offenbar sind in unserer Wohlfahrts- und Konsumgesellschaft wesentliche Reifungsprozesse auf der Strecke geblieben. Anstatt zu kraftvollen Einzelpersönlichkeiten heranzuwachsen, bleiben die Menschen heute lebenslang in Gruppen-Opportunitäten hängen – Phänomene, wie wir sie aus der Pubertät kennen.
„Ich halte diese kollektiven Identitäten für die Pest“, sagt denn auch Gesine Schwan gegenüber dem „Spiegel“ und beschreibt damit eine Weigerung, erwachsen zu werden. Ein ausgereifter Mensch ist anders, so Schwan: „Ich identifiziere mich partiell mit dem und partiell mit etwas anderem. Ich identifiziere mich ja noch nicht mal zu 100 Prozent mit meinem Mann oder der SPD. Das wäre doch Unsinn. Es ist falsch, sich so symbiotisch zu verstehen.“
Zum Erwachsensein gehört eben das Standhaltenkönnen bei Gegenwind. Wolfgang Thierse, Ostdeutscher und Linker, hat seine persönlichen Außenseitererfahrungen gemacht. Damit müsse man „umgehen lernen, und nicht nur leidend und klagend“. Sonst nämlich, fügt er an, „wird man klein und hässlich und bringt nichts zustande“.
• Holger Fuß ist freier Autor und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
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Franz Hegele am 13.04.21, 20:10 Uhr
Scharfsinnig analysiert, und mit spitzer Feder geschrieben. Chapeau !