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Johann Georg Eisen: Impfpionier, Theologe, Autodidakt, Agrarökonom und Kämpfer gegen die Leibeigenschaft
Vor 250 Jahren veröffentliche der evangelische Pastor, Landwirt und Professor für Ökonomie, Johann Georg Eisen aus dem livländischen Torma, seine wegweisende Schrift „Die Blatternimpfung erleichtert und hiermit den Müttern selbst übertragen“ erstmals in deutscher Sprache.
Johann Georg Eisen wurde 1717 als Sohn des lutherischen Pfarrers Gottfried Eisen von Schwarzenberg in Polsingen (Franken) geboren. Er studierte von 1737 bis 1740 an der Universität Jena und unterrichtete während dieser Zeit an den Armenschulen der Stadt, wodurch seine Moral und Sozialanschauungen bereits frühzeitig geprägt wurden. Den selbstgewählten Namenszusatz seines Vaters „von Schwarzenberg“, kein Adelstitel, sondern eine Herkunftsbezeichnung, lehnte er für sich stets ab. Eisen widmete sich während seines Studiums einer Vielzahl von Fachgebieten, die seine späteren Arbeiten und Schriften prägen sollten. Dazu zählten unter anderem Moral, Kirchengeschichte, kanonisches Recht, Metaphysik, Kameralistik, Medizin sowie Arznei- und Kräuterkunde. Die Suche nach einer befriedigenden Tätigkeit führte den jungen Theologen schließlich 1741 nach Torma im damals zum Russischen Reich gehörenden Livland.
Neben der Ausübung seines Pfarramtes ab 1745 betrieb Eisen hier eine eigene Landwirtschaft, in der er unter anderem von ihm selbst freigekaufte Leibeigene beschäftigte. Seit Anfang der 1750er Jahre befasste er sich leidenschaftlich mit der Frage der Pockeninokulation, eine frühe Form der Impfmethode, die über den Orient 1721 auch nach Europa gelangte und in englischen Medizinerkreisen seit einiger Zeit getestet wurde. Die Pocken, auch Blattern genannt, galten weltweit als die für Kinder tödlichste Infektions-krankheit, von der aber auch Erwachsene betroffen waren.
Eisen beobachtete den Arzt Schulinus, der in den Niederlanden an Pockeninokulationen teilgenommen hatte, als dieser auf seine Bitte hin seine beiden Kinder durch einen Schnitt unter die Haut mit Pockeneiter infizierte. Die nach einigen Tagen entstehenden Pocken heilten rasch ab und es bestand dadurch ein Immunschutz gegen diese Erkrankung. Eisen wandte jetzt die gleiche Methode zunächst bei seinen Nachbarn und in seiner weiteren Umgebung an. Als der Erfolg seine Vermutungen bestätigte, dass auf diese Weise das Leben unzähliger Menschen in Russland und im Baltikum gerettet werden konnte, verwandelte er sein Pfarrhaus in ein Hospital.
Livländische Bauern als „Impfärzte“
Innerhalb von zwei Jahren führte der Pastor nahezu fünfhundert Impfungen durch. Eisen war dieser zwar notwendigen, aber auch anstrengenden Arbeit nach gewisser Zeit überdrüssig und beauftragte seine beiden Küster daraufhin, fortan die Vakzinationen an der Landbevölkerung vorzunehmen. Doch als auch seine beiden Gehilfen dieser Tätigkeit müde wurden, unterwies Eisen die Bauern in der Pocken-impfkunst. Nachrichten vom Erfolg Eisens im Kampf gegen die tödlichen Pocken erreichten auch die Hauptstadt des Zarenreiches. Der Präsident des Kaiserlich Medizinischen Kollegiums beauftragte den Pastor damit, einen Plan für das Russische Reich zur praktischen Massenanwendung der Inokulation zu erarbeiten, der schließlich von Katharina II. gerühmt und gebilligt wurde.
Eisen entwickelte seine Impfpraktiken auf die Weise fort, dass er Mütter darin unterrichtete und ihnen gleichzeitig erklärte, wie sie ihre Kinder unmittelbar nach der Impfung zu behandeln hätten. Die ständige Fortentwicklung seiner Impfanwendungen unter den unterschiedlichsten Bedingungen brachte Eisen schließlich dazu, Ende Juli 1774 eine Art Ratgeber zu veröffentlichen: „Die Blatternimpfung erleichtert und hiermit den Müttern selbst übertragen“, erschienen vor 250 Jahren, 1774, im renommierten Rigaer Verlag J. F. Hartknoch. Mit der Schrift beabsichtigte Eisen zu erreichen, dass „jede Bauersfrau“, vor allem die Leibeigenen, in die Lage versetzt werden sollte, die Impfung selbst vorzunehmen: „Die Blatternimpfkunst muss das Werk der Mütter selbst werden und bleiben, damit so viele Menschen, die bei den natürlichen Blattern Gefahr laufen, ein Raub dieses fürchterlichen Übels zu werden, bei Leben und Gesundheit erhalten werden mögen.“
Es überrascht nicht, dass Eisen damals auch von „Impfgegnern“ zu berichten weiß: „Ist es Wunder, dass ich zwei Jahre ... die Bauernweiber mit Gewalt zur Impfung ihrer Kinder habe bringen lassen müssen? Sie suchten die Ansteckung beim Brunnen wieder auszuwaschen, so als sie es vor 600 Jahren in der Düna mit der Taufe gemacht hatten.“
Von Eisens Impferfolgen gegen die Blattern berichteten die Zeitungen von Hamburg bis St. Petersburg. Karl Gottlieb Wagler, Professor am Collegium Carolinum, der damaligen Braunschweiger Universität, herzoglicher Leibarzt und Philanthrop, würdigte Eisens Arbeit, der mittlerweile sogar Leibeigene zum Impfen einsetzte und hoffte, dass auch die Landprediger und Schulmeister in seiner Gegend diesem Beispiel folgen würden.
Katharina II. bevorzugte einen Engländer
Noch im selben Jahr berief man Eisen in das St. Petersburger Waisenhaus, um hier die Impfungen an den Kindern vorzunehmen. Die Leitung auch noch zu übernehmen, wie Eisen es gehofft hatte, versagte man ihm trotz einer anfänglich ausgesprochenen Zusage. Es war bereits ein Signal dafür, dass man Eisen als Autodidakt beargwöhnte und abkanzelte, ihn auch in seiner Tendenz zur Selbstüberschätzung kritisch wahrnahm. So war es nicht Eisen, für den sich die Kaiserin Katharina II. 1778 entschied, als sie sich und ihren Sohn, den Thronfolger Paul, öffentlichkeitswirksam impfen ließ, sondern der bekannte englische Arzt Dimsdale, der dafür eine fürstliche Entlohnung und eine lebenslange Apanage erhielt, obwohl er sich weigerte, in Russland zu bleiben. Eisen durfte dennoch triumphieren. Seine Kampagne für die Massenimpfungen in Russland wurde auch von den Kanzeln der Kirchen aus unterstützt und setzte sich bis nach Sibirien durch.
„Die Leibeigenschaft verheert die Staaten“
Doch nicht allein das damals drängende Thema der Massenimpfung beschäftigte den umtriebigen Pfarrer aus Torma. Eisen entwickelte ausgefeilte Methoden zur Lebensmittelkonservierung, für die sich vor allem das Militär interessierte. Einen leidenschaftlichen Kampf aber führte er gegen die allgegenwärtige Misere der Leibeigenschaft. Eisen, der sich in Jena vor allem dem Studium der Kameralistik widmete, befasste sich schon frühzeitig mit ökonomischen sowie staatstheoretischen Fragen. Dass die Volksbildung dem Wohlstand und der Fortentwicklung des Staates zugute kam, war für ihn keine rein akademische Erkenntnis. In seinem Pfarrbezirk gelang ihm die Reduzierung der weitverbreiteten Analphabetenquote um 50 Prozent. Vor allem aber der erbärmliche Zustand der livländischen leibeigenen Landbevölkerung, die unter den baltischen Baronen noch weniger Rechte besaßen als ihre russischen Leidensgenossen unter der zaristischen Aristokratie, ließ Eisen keine Ruhe.
Als Seelsorger und praktizierender Landwirt, in Kameralistik geschult, verfasste er ab 1751 eine Reihe von Schriften, in denen er die Leibeigenschaft anprangerte und sie als die erste Ursache aller Unvollkommenheit des Staates benannte. Eisen erklärte darin, dass das Eigentum der Bauern an ihrem Land „der einzige Grund sei, worauf alle mögliche Glückseligkeit eines Staates gebauet werden kann“. Trotz vielfältiger Schwierigkeiten, die ihm die livländischen Adeligen in seinem Engagement für die Bauernbefreiung immer wieder bereiteten, gelang es Eisen, seine Schriften dem russischen Großfürsten und Thronfolger Peter vorzulegen, der die darin enthaltenen fortschrittlichen, fast revolutionären Ideen mit Begeisterung und Zustimmung las und ihn nach seiner Thronbesteigung als Zar Peter III. sogar an seinen Hof berief. Mit dem Sturz Peters III. endete allerdings auch für Eisen der Aufenthalt am Zarenhof. Auch Katharina II. ließ sich von Eisens Plänen zur Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland informieren und zog ihn in der Frage der Neuansiedlung der nach Russland angeworbenen Deutschen zu Rate. Zunächst signalisierte die neue Zarin Interesse an seinen Vorschlägen zur Bauernbefreiung, eine innerhalb des russischen Feudalsystems gefährliche Haltung, von der Katharina II. alsbald aus diesen Gründen auch wieder Abstand nehmen sollte.
Kirche als „fürchterlichstes Ungeheuer der Welt“
Nachdem er im russischen Zarenreich mit seinen Forderungen zur Bauernbefreiung auf immer stärkeren Widerstand gestoßen war, besann sich Johann Georg Eisen fürs Erste wieder seiner ursprünglichen Bestimmung als Theologe. Er begann seine schon vor Jahrzehnten gefassten kritischen Gedanken über das Christentum, die Bibel und die Kirche in zwei Schriften zu verarbeiten, in denen er unter anderem der Kirche vorwarf, sich zum „fürchterlichsten Ungeheuer von der Welt“ gewandelt zu haben. Das Christentum, so Eisen, hätte über zwölf Jahrhunderte Finsternis über die Erde gebracht und das Bewusstsein der Völker verschleiert. Und noch bevor Kants Schriften über die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und die „Metaphysik der Sitten“ (1797) erschienen, verkündete Eisen 1778 ganz im Geiste der Aufklärung, der Sinn des Lebens eines jeden Individuums bestehe darin, sich zur moralischen Persönlichkeit zu erheben. „Rechtschaffenheit als die wirtschaftliche Tüchtigkeit zum ewigen Leben ist es, welche sich aus dem durch Gesetz und Übertretung entstandenen sittlichen Gefühle in unserer Vernunft als dem anerkannten Keime entwickeln soll.“
„Ein in ganz Europa geehrter Mann“
Mittlerweile vom Herzog als Professor für Ökonomie an die Akademie nach Mitau in Kurland berufen, verfasste Eisen seine letzte Schrift. In „Der Philanthrop“ befand sich erneut das Übel der Leibeigenschaft im Mittelpunkt einer provozierenden Abhandlung, obwohl Herzog Peter von Kurland ihm unmissverständlich mitteilen ließ, er wünsche keine agrar-theoretischen, staatswissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen oder philosophisch-theologischen Schriften des von ihm dotierten Professors mehr. Doch Eisen mochte sich nicht fügen. Vielleicht spielte ein gewisses Maß an persönlicher Eitelkeit und eine daraus resultierende Fehleinschätzung seiner Lage mit, dass er gewisse bedrohliche Entwicklungen in seiner Umgebung nicht wahrnehmen wollte. „Noch sind wohl über 60 Millionen leibeigener Menschen in Europa: die Sache ist daher sehr groß; sie ist die Sache der Vorsehung.“
Eisen wandte sich ebenso gegen die Idee einer vom Liberalismus geprägten Gesellschaftsordnung und betrat mit dieser Kritik gefährliches Terrain. Sein Missionseifer, der einem braven Pfarrer in seiner Gemeinde wohl angeraten wäre, einem Professor mit revolutionärem Tatendrang aber die Stellung kosten würde, wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Nach der Publikation seiner letzten Schrift versagte ihm der Herzog von Kurland über fünf Monate jegliche Einkünfte. Eisen musste in seiner Notlage Frau und Kinder zu Verwandten wegschicken. Wenn er auch von seinem Freund, dem Historiker und von Katharina II. hoch geschätzten Juristen Friedrich Konrad Gadebusch als ein „in ganz Europa geehrter Mann“, gelobt wurde, so hatte Eisen mit seinen letzten drei Schriften seinen bisherigen Gönner, den Herzog, sowie den baltischen Adel so gegen sich aufgebracht, dass er zu seinem Freund und Schutzpatron Iwan G. Tschernitschew auf dessen Gut nach Jaropolec – nahe Moskau gelegen – fliehen musste, wo er dann als dessen Gutsverwalter 1779 starb.
In einem Nachruf würdigte man Eisen schließlich doch als „einen denkenden Kopf, der nicht bloß in den engen Schranken eines Landgeistlichen blieb, sondern sich auf vielfältige Weise um die Menschheit verdient gemacht hat.“