18.04.2024

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Im Gespräch mit Klaus von Dohnanyi

„Mehr Selbstbewusstsein ist gefragt“

Über nationale Interessen in einer globalen Welt, die unterschiedlichen Ausgangslagen von Europäern und US-Amerikanern sowie die Notwendigkeit, trotz aller Unterstützung für die Ukraine zu einem Verhandlungsfrieden mit Russland zu kommen

Bernd Kallina
26.06.2022

Der Russland-Ukraine-Krieg, vor dem er gewarnt hatte und der seiner Meinung nach zu verhindern gewesen wäre, bereitet ihm schlaflose Nächte. Als ernsthafte Chance zur Beendigung des Krieges verweist er unter anderem auf eine international garantierte Neutralitätslösung für die Ukraine. In seinem neuen Buch „Nationale Interessen“ erläutert der „Elder Statesman“ grundsätzliche Überlegungen zur Orientierung für deutsche und europäische Politik im Zeitalter globaler Umbrüche. Die Rede ist von Klaus von Dohnanyi, Ex-Bundesbildungsminister und Staatsminister im Auswärtigen Amt sowie ehemaliger Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg – und angesichts seiner Lebenserfahrung und stets besonnenen Analyse der Zeitläufte noch immer einer der gefragtesten Beobachter der deutschen Politik.

Herr von Dohnanyi, Ihr Buch erschien vor Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges. Sie benannten in vorausschauender Gefahrenanalyse die Eckpunkte der drohenden Eskalation. Erklärt das den Verkaufserfolg Ihres Werks?

Vielleicht, aber vor allem habe ich wohl die neue Weltlage für die deutsche Öffentlichkeit ungewohnt ehrlich beschrieben: Globalisierung, die wachsenden Spannungen zwischen den USA und Russland sowie der Aufstieg Chinas zur Weltmacht haben gravierende Folgen für die deutschen Wirtschaftsinteressen und für die europäische Sicherheitslage. Wie können wir Deutsche nun auch als Mitglied der EU unsere „nationalen“ Interessen erfolgreich vertreten? Um eine nüchterne Analyse und eine ehrliche Debatte darüber geht es mir in diesem Buch.

Sie sprechen von „nationalen Interessen“: Im Gefolge der NS-Herrschaft scheint diese Begrifflichkeit heutzutage stark kontaminiert. Ein großer Teil unserer zeitgenössischen Eliten schwelgt doch eher in globalpolitischen Perspektiven unter dem Motto: „Ich bin Europäer, gar Weltbürger, aber kein Deutscher!“ Lassen sich diese Divergenzen auflösen?

Es geht eigentlich immer um regionale politische Identitäten, die sprachlich, kulturell, politisch gemeinsame Interessen haben. Auch die EU hat als Gemeinschaft „Interessen“, aber eben auch jeder der heute 27 Mitgiedstaaten. Das zeigt sich doch täglich. Und je mehr Mitglieder, desto mehr divergierende Interessen. Sie zu vertreten und Kompromisse zu ermöglichen ist Verpflichtung jeder Regierung. Natürlich gilt das auch für Deutschland. Der Missbrauch des Wortes „Nation“ im Nationalsozialismus hat doch die deutsche Nation und ihre nationalen Interessen nicht aufgehoben.

Von Egon Bahr stammt die Meinung, dass es in der internationalen Politik nie um Demokratie und Menschenrechte geht, sondern vielmehr um die Interessen von Staaten, was insbesondere im links-grünen Politik-Milieu oftmals übersehen würde, wie Kritiker meinen. Dort grassiere eher das Gestaltungsmotto: „Weltweit das Gute erzwingen“.

Sicher gibt es idealistisch gesinnte Politik-Milieus, auch utopische Tendenzen. Aber wenn immer nur über das heute Mögliche nachgedacht würde, käme die Welt ja auch nicht voran. Im „Kalten Krieg“ war es ja auch fast „utopisch“, durch deutsche Entspannungspolitik für die Bewohner Berlins die konkreten Lebensverhältnisse zu erleichtern. Egon Bahr und Willy Brandt glaubten dennoch an diese „Utopie“. Und ihre „neue Ostpolitik“ bahnte dann sogar den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas.

Interessant ist der aktuell zu beobachtende Umschlag vom Radikalpazifismus in erbitterten Bellizismus. Frühere Wehrdienstverweigerer, die noch nie ein Gewehr in der Hand hatten, verwandelten sich flugs in laienhaft wirkende Waffen- und Militärstrategie-Experten. Wie nehmen Sie diese Veränderung wahr?

Mit großem Erstaunen und auch mit Sorge. Natürlich muss die Ukraine als souveränes Land verteidigungsfähig sein, auch mit unserer Hilfe. Aber wir müssen doch immer zugleich bemüht sein, den Krieg so bald wie möglich durch Verhandlungen zu beenden. Denn je länger der Krieg dauert, desto mehr Tote wird es geben, desto größer die Zerstörungen und desto bedrohlicher werden auch die Gefahren, die von dort auch für uns, für Deutschland und Europa ausgehen könnten. Unsere Hilfe zur Verteidigung sollte zum Frieden führen und nicht zu einer Ausweitung der Kriegsgefahren.

Realpolitisch betrachtet, Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dominieren die USA das westliche NATO-Bündnis. Zwar gebe es gemeinsame Schnittmengen, zum Beispiel in Teilen der Sicherheitspolitik, gleichwohl seien die Interessen von Europäern und US-Amerikanern nicht identisch. Wie können wir unsere Spielräume erweitern?

Die USA haben geopolitisch und sicherheitspolitisch eine völlig andere Ausgangslage als Europa: Sie sind vom Ukrainekrieg durch den 6000 Kilometer breiten Atlantik getrennt –und geschützt. Die NATO entstand im Kalten Krieg zum Schutz Europas, aber die Strategie des Bündnisses bestimmen die USA mit ihren schon geografisch vollständig anderen Sicherheitsinteressen.
Darüber müssten Deutschland und die EU offen mit den USA sprechen: Nicht alles, was im Interesse der USA sein mag, muss auch im Interesse Europas sein. Das gilt heute auch für die US-Politik gegenüber China. Mehr europäisches Selbstbewusstsein und mehr US-Ehrlichkeit sind gefragt!

Welche Rolle spielt bei einer verstärkten deutsch-europäischen Selbstbehauptung die militärische Komponente? Müsste nicht an den Aufbau eines eigenen atomaren Abschreckungspotentials gedacht werden, wie das zum Beispiel Christian Hacke vor einigen Jahren schon forderte, eventuell in enger Abstimmung mit Frankreich – oder im Alleingang?

Zwei Gegenargumente: Erstens ist das Ziel der „Nichtverbreitung“ atomarer Waffen in der Welt ein bedeutendes Sicherheitsziel der Menschheit und zweitens ist die US-atomare Abschreckung für Europa wohl ohnehin eher eine Illusion: Eine Atommacht, die zum sogenannten „Erstschlag“, also zu einem „Präventivschlag“ gegen eine andere Atommacht greift, muss heute damit rechnen, dass die andere Seite dennoch zu einem Zweitschlag fähig bleibt. Seit Jahrzehnten haben deswegen alle amerikanischen Administrationen erklärt, sie würden strategische atomare Waffen nur einsetzen, wenn sie selbst direkt atomar bedroht würden.

Wenn sich also der Krieg jetzt über die Ukraine hinaus nach Westen ausdehnen würde, wissen beide Parteien – Amerikaner und Russen – strategische, atomar bestückte Raketen kämen nicht zum Einsatz; „flexible response“, also blutiger konventioneller Krieg, bliebe die Antwort der USA.

Von vielen Kritikern der NATO-Osterweiterung wird vor allem die US-Option einer Mitgliedschaft der Ukraine im nordatlantischen Bündnis als auslösender Kriegsgrund gesehen. Nicht nur Wladimir Putin warnte seit fast 20 Jahren vor Schritten in diese Richtung angesichts russischer Sicherheitsinteressen. Sogar Altkanzler Helmut Schmidt erhob diese Bedenken in deutlichen Worten. Warum verhallten sie?

Spätestens seit 1997, als der einflussreiche US-Politikberater Zbigniew Brzezinski sein berühmtes Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ veröffentlichte, war klar: Eine Ost-Erweiterung der NATO sollte die amerikanische Position auf dem eurasischen Kontinent festigen und so die US-Vorherrschaft in der Welt stabilisieren. Russland konnte zwar davon ausgehen, dass die USA 1990 im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung vesprochen hatte, die NATO nicht über die deutschen Grenzen hinaus auszudehnen, aber die Ukraine und Georgien sind als frühere Staatsgebiete Russlands dann für jede russische Regierung noch einmal ein besonderer Fall.

Selbst Brzezinski ruderte deswegen in Beiträgen für die „New York Times“ (2014) und in einem Artikel für „Die Welt“ (2015) zurück. Er warnte, dass diese von ihm selbst zunächst entwickelte Strategie zu einem heißen Krieg in Europa führen könne, und schlug für die Ukraine Sicherheitsalternativen vor, wie auch ich sie in meinen Buch befürworte. Aber der „Westen“ beachtete nicht, dass es sich hier, wie der heutige CIA-Chef William Burns noch 2019 schrieb, um die Überschreitung einer „hellroten Linie russischer Interessen“ handeln würde.

Auch Herfried Münkler mahnte in diesem Zusammenhang an, dass so genannte Pufferzonen dem Frieden dienen und davon auszugehen sei, dass es Einflusszonen gebe, die die Bündnisfähigkeit von Ländern beschränke. Das liefe dann bei erfolgreichen Friedensverhandlungen mit der Ukraine auf eine international garantierte „Neutralität“ des Landes hinaus, oder?

Ja, auch ich halte das für einen möglichen Weg, um den Krieg zu beenden. Auch der bekannte US-Politikberater Jeffrey Sachs, der in der zusammenbrechenden UdSSR eine große Rolle gespielt hat, äußerte kürzlich diese Meinung: Er schlägt eine Erklärung der NATO vor, wonach die Ukraine und Georgien nicht in die NATO kämen, aber ihre Neutralität von der UNO mit Garantien von Seiten der USA, Russlands und Europas gesichert würde. Hätte man das im Jahre 2021 bei den von Putin vorgeschlagenen Verhandlungen ernsthaft in Erwägung gezogen, würden wir heute vielleicht keinen Krieg haben und wären nicht in dieser fast ausweglosen Lage.

Sie meinen also, dass durch eine Politik der vorbeugenden Konfrontationsverhinderung man den Ukraine-Russland-Krieg hätte verhindern können?

Ob man den Krieg durch solche Verhandlungen hätte wirklich verhindern können, lässt sich natürlich im Nachhinein nicht mit Sicherheit beantworten. Aber man hätte es doch mindestens versuchen müssen! Präsident Biden drohte stattdessen mit härtesten Sanktionen, aber erklärte dann, als Putin den Krieg begonnen hatte, er selbst habe nicht damit gerechnet, dass die Androhung von Sanktionen den Krieg verhindern würde: „sanctions never deter“ (Sanktionen schrecken nie ab). Das war keine NATO-Politik im Interesse Europas und ein weiterer Beweis dafür, wie gefährlich für uns die Abhängigkeit von der Innenpolitik der USA und ihren geopolitischen Interessen sein kann.

Das Interview führte Bernd Kallina.

• Klaus von Dohnanyi war von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestags sowie von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Zuletzt erschien „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ (Siedler Verlag 2022).
www.penguinrandomhouse.de


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Kommentare

N. Kriegsmüsli-Werden am 03.07.22, 12:25 Uhr

Das Hauptproblem bei der Beurteilung der Chancen im Ukraine-Konflikt liegt m. E., wie schon mehrfach in der Geschichte, in den mangelnden Geographiekenntnissen der Bevölkerung im Allgemeinen, vor allem aber der Entscheidungsträger im Besonderen! Da lacht man herzlich über Putins langen Tisch, macht sich aber nicht klar, daß selbst wenn man es bis nach Moskau schafft, man erst knapp die Hälfte der Strecke bis zum Ural zurückgelegt hat. Die wirtschaftliche und damit auch die militärische Hauptschlaggkraft Russlands liegt aber jenseits dieses Horizonts und ist damit für einen europäischen und amerikanischen Zugriff schlicht unerreichbar!

sitra achra am 01.07.22, 14:45 Uhr

Leider sieht man an Dohnanyi, Alter schützt vor Torheit nicht.Denn die russische Föderation fällt systemisch voll aus dem Rahmen internationalen Rechts. Sie ist eine erheblich zerstörererische Kraft, die die Völkergemeinschaft und den Rechtsfrieden insgesamt bedroht.
Es ist dringend geboten, sie mit allen dafür verfügbaren Mitteln in die Knie zu zwingen.
Die Gefahren des politischen Ausweichens, Bagatellisierens oder Schönredens haben schon vor geraumer Zeit zur Menschheitskatastrophe geführt. Wollen wir es etwa wieder dazu kommen lassen?
In Bezug auf die Ukraine heißt das: tua res agitur!

E. Berger am 28.06.22, 10:50 Uhr

Naja, was Herr von Dohnanyi vermutlich weiss, aber nicht so deutlich ausspricht: Die Ukraine ist nur ein Bäuerchen auf dem geopolitischen Schachbrett der USA, ein Mittel zum Zweck, Russland dauerhaft und entscheidend zu schwächen, im besten Falle zu ruinieren (Baerbock).
Menschenleben spielen da keine Rolle, wie bei allen amerikanischen Operationen dieser Art. Wer das bezweifelt, erinnere sich an die Äusserung von Madeleine Albright zu den 500000 toten Kindern im Irak als Folge der US-Sanktionen.

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