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Hans-Lukas Kieser zeichnet ein fesselndes Porträt über den letzten türkischen Großwesir, der die Vernichtung von 1,5 Millionen armenischen Bürgern in ihrer Heimat Anatolien und der europäischen Türkei betrieb
Der Historiker Hans-Lukas Kieser legt erstmals eine wissenschaftliche Biographie über den eigentlichen Gründer der modernen Türkei vor, den letzten osmanischen Großwesir Talât Pascha (1874–1921), der vor 100 Jahren, am 15. März 1921, in Berlin erschossen wurde.
Der letzte osmanische Regierungschef war gleichzeitig auch Chef einer jungtürkischen Untergrundorganisation, die sich „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (CUP) nannte. Damit lieferte er das Vorbild für viele staatliche Doppelstrukturen, die bis heute ein prägendes Paradigma der halbdemokratischen Parteienkultur im gesamten Nahen Osten sind.
Als Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg hatte er zwei Kriegsziele: einen Sieg gegen die Alliierten und die Ausrottung der Armenier und anderer Christen im Osmanischen Reich. Der 25. April 1915 ist nach Ansicht Kiesers das entscheidende Datum hierzu.
An jenem Tag wurde mit deutscher Hilfe der Vorstoß der britischen, französischen und australischen Marine an den Dardanellen erfolgreich abgewehrt. Nach der desaströsen Niederlage im Kaukasus ein Jahr zuvor löste das einen Siegesrausch bei den Türken aus. Gleichzeitig markiert dieser Tag den Beginn von Talâts „Lösung der armenischen Frage“. Die nahezu vollständige Entfernung von 1,5 Millionen armenischen Bürgern aus ihrer historischen Heimat Anatolien und der europäischen Türkei sowie ihre Deportation zum Sterben in die syrische Wüste entwarf Talât ganz allein, so Kieser.
Nicht überall gehorchten die Gouverneure Talâts Vernichtungsbefehlen. Einer von ihnen war Ali Mazhar Bey, der Vali von Angora, einer damals zur Hälfte armenischen Stadt, die 1923 als Ankara die neue Hauptstadt unter Atatürk werden sollte. Dem Stadtrat erklärte Mazhar im Frühjahr 1915: „Ich kann das nicht tun, ich bin ein Gouverneur, kein Bandit.“ Um seinen Willen durchzusetzen, schickte Talât einen jungen Mann namens Atif nach Angora, der Ali Mazhar ersetzte und in nur sechs Wochen alle Christen aus Angora deportierte und ermordete. Ali Mazhar wurde später Vorsitzender des osmanischen Gerichts, das 1919 in Konstantinopel Talât zum Tode in Abwesenheit verurteilte.
Laut Kieser betrachtete Mustafa Kemal den nach Berlin geflüchteten Talât als seinen Vorgänger, das beweist er mit der Korrespondenz der beiden in den Jahren 1919 bis 1920. Talât hätte eigentlich den Titel Atatürk (Vater aller Türken) als Erster verdient, denn Kemal Pascha folgte Talâts Vermächtnis und handelte gemäß dessen Logik. Die Republik Türkei basiere auf den von Talât gelegten Fundamenten und dem turanisch/pantürkischen Messianismus von Gökalp, schreibt Kieser. Deutsche, Briten und Russen umwarb Talât gleichermaßen und spielte sie, wie Erdoğan heute, gegeneinander aus. Talât stellte die Weichen für ein Jahrhundert, das politischen Terror und ethnische Säuberungen in einem nie geahnten Ausmaß erleben sollte.
Die Gründung der Republik im Jahr 1923 durch seinen Weggefährten Kemal Atatürk sollte er jedoch nicht mehr erleben. Am 15. März 1921 wurde er wegen seiner Verbrechen an den Armeniern in seinem Berliner Asyl von einem armenischen Studenten gerichtet, der seine gesamte Großfamilie unter Talât verloren hatte und deswegen von einem Geschworenengericht freigesprochen wurde.
Kieser zeichnet ein fesselndes Porträt des gerissenen und gnadenlosen Politikers, der seine Macht durch eine starke Mischung aus islamisch-türkischem Nationalismus und der Bereitschaft zu gewaltsamen „Lösungen“ steigerte. Diese Biographie ist ein unverzichtbares Werk, um das Umfeld zu verstehen, in dem ein völkermörderisches Programm von einer kleinen Gruppe radikalisierter Individuen erdacht und geplant wurde. Nach Talât Pascha, dem Völkermörder, der 1941 zu einem Staatsbegräbnis von Berlin nach Istanbul überführt wurde, sind in der heutigen Türkei viele Straßen, Plätze und sogar Moscheen benannt.