Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Über den Fall des österreichischen Serienmörders Jack Unterweger, der in den 1980er Jahren als „Knastpoet“ zum Liebling des Feuilletons wurde – und nach seiner Freilassung elf Frauen tötete
Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle der jüngeren Geschichte. 1990 kam der zu lebenslanger Haft verurteilte Mörder Johann „Jack“ Unterweger, der sich im Gefängnis zu einem gefeierten Schriftsteller gewandelt hatte, auf Druck prominenter Autoren wie Günter Grass, Elfriede Jelinek und Erich Fried frei – und ermordete kurz darauf elf Frauen in Europa und Nordamerika. Der Schriftsteller Malte Herwig widmet sich in seinem neuesten Buch sowohl den Verbrechen Unterwegers als auch jenem kulturellen Milieu, das diese Taten durch das Engagement für seine Freilassung erst ermöglicht hatte. Ein Gespräch über zwei höchst unterschiedliche Welten, die in diesem Fall auf verhängnisvolle Weise zusammenfanden.
Herr Herwig, Sie haben sich bislang mit Thomas Mann und Peter Handke befasst, mit Picassos Muse Françoise Gilot und dem Zauberer Kalanag sowie mit der Generation der „Flakhelfer“. Nun widmen Sie sich in „Austrian Psycho“ dem Serienmörder Jack Unterweger. Wie kam es dazu?
Ich komme zwar aus dem Feuilleton und den Geisteswissenschaften, habe mich aber immer schon für Verbrechen sowie für deren Täter und Ursachen interessiert. Spannend finde ich unter anderem, warum sich Menschen immer wieder von Verbrechern täuschen lassen. Darum interessieren mich an einem Fall wie dem des Jack Unterweger weniger die Morde, über die es bereits Bücher gibt, als vielmehr die Hochstapelei, die diese Morde erst ermöglichte.
Wer das Buch in die Hand nimmt, stellt schnell fest, dass es keine klassische Biographie ist und auch keine Schilderung von Unterwegers Kriminalfällen.
Richtig. Stilistisch ist es ein erzählendes Sachbuch. Alles darin beruht auf Fakten, was auch an den Quellenverweisen am Ende ersichtlich ist. Trotzdem wollte ich mir die erzählerische Freiheit nehmen, mich diesem Thema auf andere Art zu nähern als ich es zuvor in dem NDR-Podcast „JACK. Gier frisst Schönheiten“ getan habe.
Beim Schreiben des Buches ging es mir vor allem um die Menschen, die von Unterweger hinters Licht geführt, manipuliert und instrumentalisiert wurden, namhafte Personen aus dem Kultur- und Literaturbetrieb, die sich für seine Freilassung eingesetzt haben. Es ging mir darum, mich ihren Beweggründen zu nähern, ohne sie bloßzustellen und im Nachhinein als Richter aufzutreten. Deshalb habe ich auch einen Erzähler erfunden, der sich zusammensetzt aus vielen realen Vorlagen, aber keiner bestimmten Person entspricht.
Dieser fiktive Erzähler beklagt sich mehrfach darüber, von Herwig – also Ihnen – zur Niederschrift seines Textes genötigt worden zu sein. Warum haben Sie diesen Weg gewählt?
Weil diese Einstellung den Erfahrungen entspricht, die ich in der Begegnung mit Zeitzeugen gemacht habe. Für viele Gesprächspartner ist es noch immer unangenehm, über den Fall und ihre Rolle darin zu erzählen. Außerdem bin ich als fragender Journalist in einer Rolle, die durchaus etwas Aufdringliches hat. Deshalb habe ich meinen fiktiven Erzähler gelegentlich die Empörung über meine Arbeit zum Ausdruck bringen lassen.
Was macht den Fall Unterweger so besonders? Es gibt ja Mörder, die weitaus mehr Frauen getötet haben als er.
An Unterweger besonders ist, dass er ein Psychopath war, der die Talente eines Psychopathen – andere Menschen manipulieren zu können und schnell zu erfassen, wie diese Menschen manipulierbar sind – auf einem für Verbrecher ganz ungewöhnlichen Feld eingesetzt hat, nämlich der Literatur.
Allerdings konnte ich durch meine Recherchen nachweisen, dass Unterwegers Werke, für die er gefeiert wurde, zum großen Teil aus Plagiaten bestanden, während die Texte, die wirklich von ihm selbst geschrieben waren, einfach nur schlecht sind. Morden konnte er, schreiben nicht. Unterwegers ehemaliger Deutschlehrer, der ihn nach der ersten Verurteilung in der Justizvollzugsanstalt Stein unterrichtete, bestätigte mir, dass der später so gefeierte „Häf'npoet“ (Hochdeutsch: Knastpoet) kaum einen korrekten Satz schreiben konnte, geschweige denn literarisch.
Wie also gelang es jemandem, der kaum Bildung hatte, sich in der Haft in jemanden zu verwandeln, der vermeintlich einen Roman schreibt, der allerorts bejubelt wird? Der 1983 in der Haft eine eigene Lesung – die erste dieser Art im österreichischen Strafvollzug – veranstalten durfte, zu der Busladungen von Literaten und Journalisten und sogar der Abt des benachbarten Klosters kamen? Wie kam es dazu, dass so viele kluge Köpfe hereinfielen auf einen Betrüger?
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Zunächst einmal sind diese klugen Köpfe Opfer ihres guten Willens sowie ihres Glaubens an die Kraft der Literatur geworden. Die Vorstellung, dass Menschen durch Kultur zu besseren Wesen werden können, geht ja bis in die Weimarer Klassik zurück. Und wenn dann jemand auftaucht, der das scheinbar verkörpert und sich mit Hilfe der Literatur am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat, dann ist es durchaus verständlich, wenn große Geister davon angetan sind.
Allerdings glaube ich auch, dass die Beschäftigung mit Unterweger und seinen angeblichen Werken vor seiner Freilassung einfach zu oberflächlich war. Wobei wir aus heutiger Sicht natürlich schlauer sind. Ich hatte bei meinen Recherchen den Vorteil, dass es längst Indizien dafür gab, dass Unterweger eigentlich nicht schreiben konnte. Deswegen konnte ich gezielt in diese Richtung weiterforschen und bin entsprechend fündig geworden. Hinzu kommt, dass die technischen Möglichkeiten für das Aufdecken von Plagiaten heute andere sind als in den achtziger Jahren.
Das Fatale am Fall Unterweger ist, dass er das völlig falsche Aushängeschild für die Resozialisierung von Strafgefangenen war – mit furchtbaren Folgen für mindestens elf ermordete Frauen. Und so wurde der ganze Fall getragen von guten Absichten auf allen Seiten – außer bei demjenigen, dem diese Absichten galten.
Hat sich jemand von denen, die sich für Unterwegers Freilassung eingesetzt haben, hinterher um ihn gekümmert?
Es gab direkt nach seiner Haftentlassung eine Lesung und Pressekonferenz in der „Alten Schmiede“, einem bekannten Wiener Kulturhaus.
Dort hat er übrigens einem Reporter des Österreichischen Rundfunks (ORF) auf die Frage, was er denn in all den Jahren der Haft gelernt habe, geantwortet: „Gelernt? Im Grunde genommen bin ich gefährlicher als zuvor. Denn ich habe das Denken gelernt und wie man Worte als Waffen verwendet.“ Wer das hörte dachte, er spräche als Literat und in Metaphern. Doch leider waren diese Aussagen die Wahrheit. Diese Dreistigkeit, offen zu sagen, was er meint, und darauf zu setzen, dass alle denken, er spräche im übertragenen Sinne, findet man immer wieder bei Unterweger. So kam es, dass ausgerechnet er, als er seine Mordserie beginnt, vom ORF als Reporter auf den Wiener Straßenstrich geschickt wurde, um Sexarbeiterinnen zu interviewen. Und er hatte keine Skrupel, diese Aufgabe zu übernehmen.
Es gibt davon einen bezeichnenden ORF-Beitrag, in dem Unterweger eine Sexarbeiterin anspricht und sagt, sie habe ja eine Kollegin gekannt, die unweit von dort, wo sie jetzt stehen, ihrem „M-Mörder“ begegnet ist. Der eloquente Jack Unterweger stolpert beim Wort „Mörder“. Denn er ist der Mörder. Ein wahrer Freudscher Versprecher, der allerdings niemandem aufgefallen ist.
Schon bald nach der Entlassung ließ das mediale Interesse an Unterweger nach. Warum?
Der damalige Chef der „Alten Schmiede“, Kurt Neumann, sagte mir: „Der Unterweger taucht hier auf in einem weißen Anzug mit einer roten Stoffblume am Revers.“ Und da haben die Leute aus der Kulturszene schnell gemerkt, dass das keiner von ihnen ist, sondern eher ein Lude, ein Zuhältertyp, weshalb auch schnell das Interesse für ihn nachließ.
Umso bemerkenswerter, wie viel Post Unterweger von Frauen bekam! Schon in der Haft waren es körbeweise Briefe. Zuerst von Frauen aus seinem Milieu, dann aus allen gesellschaftlichen Schichten. Wobei die Frauen aus seinem Milieu ihn viel besser durchschauten. Eine von denen, die ihm schon während der Haft geschrieben hatten, sagte ihm in einem letzten Brief nach seiner Freilassung: „Im Gefängnis warst du interessant, weil du ungewöhnlich warst durch das Schreiben. Wenn du nun draußen bist, dann ist das nicht mehr so was Besonderes.“
Und das stimmt auch. Unterweger hatte sich vom schreibenden Häftling zum inhaftierten Schriftsteller gewandelt. Doch als er dann nicht mehr inhaftiert war, war er einfach nur noch ein Schriftsteller, der nicht besonders gut schreiben konnte. Psychopathen sind oft bösartige Narzissten. Als bei Unterweger dieser Narzissmus nicht mehr durch Aufmerksamkeit für seine Literatur und seine Auftritte befriedigt wurde, hat er sich anders befriedigt und wieder mit dem Morden angefangen.
Gab es nach dem Bekanntwerden der Mordserie bei Intellektuellen, die sich für Unterweger eingesetzt hatten, so etwas wie öffentlich gezeigte Reue?
Ja, vor allem bei Journalisten, die ihm in der Haft Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Peter Huemer, der ein halbes Jahr vor seiner Entlassung ein langes Interview mit ihm geführt hatte, schrieb nach Bekanntwerden der Mordserie sehr kritisch darüber. Gleiches gilt auch für Günther Nenning.
Aus literarischen Kreisen ist mir derlei Selbstkritik nicht bekannt. Ich kann jedoch verstehen, dass vielen Fürsprechern ihr Engagement für Unterweger im Nachhinein peinlich ist. Sie haben sich in guter Absicht für einen Verbrecher eingesetzt, von dessen Läuterung sie überzeugt waren – und mussten dann erkennen, wie schrecklich schiefgegangen die Sache ist. Bei Elfriede Jelinek, mit der ich in Kontakt stehe, habe ich wirklich das Gefühl, dass ihr der Fall und ihre Rolle darin noch immer zu schaffen macht.
Der von ihrem Erzähler zitierte Herwig äußert sich wiederholt sehr hart über Unterweger, was angesichts der Verbrechen nicht verwundert. Haben Sie dennoch in seiner Biographie etwas gefunden, zum Beispiel Gewalterfahrungen in der Kindheit, das diese Taten zwar nicht entschuldigt, aber zumindest erklärt, warum er so geworden ist wie er geworden ist?
Nein. Und bei allem Verständnis für den großen Einfluss, den die frühen Jahre für die Bestimmung eines Lebensweges haben, glaube ich nicht, dass eine schwere Kindheit allein einen Menschen zum Mörder macht.
Unterweger war ein Psychopath. Das ist bei beiden seiner Prozesse klinisch diagnostiziert worden. Das heißt, er war ein kranker Mensch. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt, dass da eine Persönlichkeitsstörung vorlag, die nichts mit einer schweren Kindheit zu tun hatte.
Hinzu kommt, dass Unterweger seine Kindheit geradezu verzerrt geschildert hat, um sich als Opfer zu inszenieren. Er hat zum Beispiel seine Mutter als Prostituierte dargestellt, was sie nicht war. Auch die Behauptung vom saufenden und prügelnden Großvater stimmt sehr wahrscheinlich nicht. Ich habe im Wimitztal in Kärnten, wo Unterweger aufgewachsen ist, alte Nachbarn ausfindig gemacht, die sagten, der Großvater sei sicherlich kein mustergültiger Erzieher gewesen, aber er habe seinen Enkel trotzdem geliebt.
Was hat Sie während der Befassung mit dem Leben Jack Unterwegers, mit seinen Opfern, seinen Förderern und seinem Publikum am meisten gewundert – oder eben auch verstört?
Der Fall Unterweger ist die Geschichte eines Mörders, der das Schreiben für sich entdeckte, aber das Morden nicht lassen konnte. Das ist schon mal furchterregend. Er war als Mörder gnadenlos, aber eben auch ein „Würschtel“. Denn er hat seine Opfer ja nicht einfach so erdrosselt, sondern hat den Sexarbeiterinnen vom Straßenstrich zunächst mehr Geld geboten, damit sie mit ihm in den Wienerwald fuhren, und hat ihnen noch mehr geboten, wenn er sie mit Handschellen fesseln durfte. Erst als sie wehrlos waren, hat er sie gequält und getötet.
Unterweger gelang es jedoch nicht nur, seine Opfer zu täuschen, sondern auch so viele Unterstützer, die diesen Fall erst zu einem besonderen machen. Das ist einerseits unheimlich, macht es andererseits aber auch zu einem Fall, über den nachzudenken auch nach über dreißig Jahren noch lohnt.
Das Gespräch führte René Nehring.
Dr. Malte Herwig ist Schriftsteller und Journalist. Er ist Verfasser mehrerer Biographien, unter anderem über den Schriftsteller Peter Handke, die Künstlerin Françoise Gilot und den Zauberer Kalanag. www.publicorum.com