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Musik unter einem guten Stern

Was mit Liedern begann, mündete in einem der führenden Musikverlage der Welt – Der Kasseler Bärenreiter Verlag wird 100 Jahre alt

Veit-Mario Thiede
14.09.2023

Der Jungverleger Karl Vötterle (1903–1975) schaltete in dem am 18. September 1923 erschienenen „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ eine Anzeige, welche die Veröffentlichung des ersten Heftes der „Finkensteiner Blätter“ meldete. Er charakterisiere sie als „lebendiges Liederbuch in monatlicher Folge“.

Seinen Verlag taufte er auf den Namen „Bärenreiter“. Das erste Verlagslogo entwarf der bekannte Graphiker Bruno Goldschmidt nach den Vorgaben Vötterles zum Freundschaftspreis von einer Goldmark. Der trabende Bär verkörpert die Welt. Auf ihm steht der junge Verleger und greift nach einem Stern, der das (scheinbar) Unerreichbare symbolisiert.

Trotz aller Widrigkeiten – zur Zeit der Verlagsgründung grassierte in Deutschland die Hyperinflation – hat Vötterle viel erreicht. Er machte Bärenreiter zu einem der führenden Musikverlage der Welt. Dieser hat Niederlassungen in Basel, Paris, London, Prag und New York. Heute leiten Vötterles Tochter Barbara Scheuch-Vötterle, ihr Mann Leonhard Scheuch und deren Sohn Clemens den Verlag.

Eine zentrale Figur der ersten Verlagsjahre war Julius Janiczek, der sich aus Verehrung für den Minnesänger Walther von der Vogelweide und den Nürnberger Meistersinger Hans Sachs den Namen „Walther Hensel“ gab. Der in Mährisch-Trübau geborene Musikwissenschaftler und Volksliedsammler gab in Vötterles Heimatstadt Augsburg einen Vortrags- und Liederabend. Den fand Vötterle so mitreißend, dass er unverzüglich eine Singgruppe gründete. Für die suchte er Lieder aus und vervielfältigte sie.

Daraus entwickelte er die Geschäftsidee, eine professionelle Liederzeitschrift zu verlegen und nahm deshalb Kontakt zu Hensel auf. Der nahm Vötterles Einladung zu einem weiteren Gastspiel in Augsburg an und versprach ihm Unterstützung bei der Verlagsgründung. Die Gelegenheit dazu bot sich auf der ersten Finkensteiner Singwoche. Sie fand vom 11. bis 18. Juli 1923 in der Tschechoslowakei statt. Etwa 80 junge Teilnehmer, überwiegend Sudetendeutsche, übten in der kleinen Waldsiedlung Finkenstein unter Anleitung Hensels und seiner Frau Olga den Chorgesang.

Gedruckte Noten sind unentbehrlich
Vötterle stellte den Teilnehmern seinen Plan vor, Liederblätter zu veröffentlichen. Die Sänger waren begeistert. Mit zahlreichen Vorbestellungen und Anzahlungen in der Tasche trat Vötterle die Heimreise an. Aus dem ersten Treffen entwickelte sich die Finkensteiner Singbewegung. Sie breitete sich schnell im ganzen Deutschen Reich aus.

Vötterles erster Verlagssitz war die Wohnung seiner Eltern in Augsburg. Da man seinerzeit erst mit 21 Jahren volljährig und somit geschäftsfähig wurde, musste Vötterle mit der offiziellen Verlagsgründung bis zu seinem Geburtstag am
12. April 1924 warten. Im Anfangsjahrzehnt waren die Finkensteiner Hefte mit den von Hensel ausgewählten Volksliedern ein wichtiger Bestandteil des Verlagsprogramms. Aber rasch erweiterte Vötterle das Sortiment des 1927 nach Kassel umgezogenen Bärenreiter Verlags.

Bereits 1925 veröffentlichte er die erste Ausgabe von Musik Johann Sebastian Bachs: „Acht Choräle für eine Singstimme“. Die erste Notenausgabe von Heinrich Schütz kam 1928 heraus: „Geistliche Chormusik“. Zum Kassenschlager entwickelte sich unverhofft eine Sammlung von Weihnachtsliedern aus dem Jahr 1930. Erweiterte Ausgaben folgten. Sie sind bis heute im Programm. Die Gesamtauflage beträgt über drei Millionen Exemplare. Ihr Titel klingt merkwürdig: „Quempas“. Er leitet sich ab vom lateinischen Lied „Quem pastores laudavere“ („Den die Hirten lobeten sehre“).

Viele Editionsprojekte des Bärenreiter Verlags ziehen sich über Jahrzehnte hin und werden in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Vereinigungen wie der in Halle an der Saale beheimateten Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft oder der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg verwirklicht. Ein weltweit benutztes Standardwerk ist „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“. Die erste Lieferung dieser Enzyklopädie erfolgte 1949. Sie wurde mit dem 17. Band 1987 abgeschlossen. In Kooperation mit dem Verlag J. B. Metzler kam 1994 bis 2008 die 27 Bände umfassende zweite Auflage heraus. Die von 1954 bis 2007 veröffentlichte „Neue Bach-Ausgabe“ umfasst alle Werke des Komponisten. Die 1955 begonnene „Neue Mozart-Ausgabe“ wurde erst 52 Jahre später vollendet.

An der Vervollständigung der Werkausgaben von Schütz, Händel und vielen anderen Komponisten wird noch gearbeitet. Sie alle tragen das Qualitätssiegel „Bärenreiter Urtext“. Es handelt sich um wissenschaftlich kommentierte Notenausgaben, die von renommierten Musikforschern herausgegeben werden. Diese von allen fremden Zugaben befreiten Noten geben den Komponisten, Musikern und Sängern die Gewissheit, das Werk dem Willen des Urhebers gemäß aufzuführen.

Neben Editionen alter und zeitgenössischer Musik bringt der Verlag auch an ein breites Publikum gerichtete Musikbücher heraus. Im Band „1923: Musik in einem Jahr der Extreme“ ist der Gründungsphase des Bärenreiter Verlags ein Kapitel gewidmet.
In Konzerten sieht man immer häufiger Musiker, die die Noten vom Tablet ablesen. Wie ist es denn um die Zukunft des Notendrucks bestellt? Johannes Mundry, Pressesprecher des Bärenreiter Verlags, macht sich da keine Sorgen: „Gedruckte Noten wird es immer geben, auch wenn mehr und mehr Musiker Tablets nutzen. Oft haben sie die gedruckten Noten zum Üben zu Hause und nehmen die digitalen mit auf Reisen. Dass einmal ganze Orchester im Konzertsaal oder im Orchestergraben ausschließlich elektronische Geräte nutzen, ist zumindest in der näheren Zukunft nicht zu erwarten.“

Lektüretipp Tobias Bleek: „Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Ex­treme“, Bärenreiter/J.B. Metzler, Kassel/Berlin 2023, 315 Seiten, 29,99 Euro, Internet: 100.baerenreiter.com


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