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Kultur

Mythos Kafka

Klassiker der Moderne aus Prag – Vor 100 Jahren starb der Autor des Romans „Der Prozess“

Harald Tews
01.06.2024

Zu Franz Kafka sollte es keine zwei Meinungen geben: ein Gigant der modernen deutschen Literatur. Aber einer, der erst nach seinem Tod vor 100 Jahren dazu gemacht wurde, von Bewunderern, Biographen, Literaturwissenschaftlern – und Deutschlehrern. Es gibt kaum einen Schüler, der nicht mit der Erzählung „Die Verwandlung“ oder dem Roman „Der Prozess“ im Deutschunterricht oder beim Abitur gequält wurde. Kafka wurde zum Heinrich Heine des 20. Jahrhunderts: viel gepriesen und zitiert. Die Tatsache, dass beide Aushängeschilder deutscher Dichtung jüdischer Abstammung waren, erwies sich nicht als Makel, sondern – besonders nach dem Schrecken des Holocausts – als ein Bonus.

Anders als der in seinem Pariser Exil lebende Heine war Kafka kein Globetrotter. Die meiste Zeit seines relativ kurzen, nur 40 Jahre währenden Lebens hat er in seiner Geburtsstadt Prag verbracht. Dort war er Teil der deutschsprachigen Minderheit, welche die böhmische Hauptstadt architektonisch, kulturell und wirtschaftlich entscheidend geprägt hat. Denn deren Vertreter hatten nahezu alle Spitzenämter der Stadt inne. Auch der promovierte Jurist Kafka besaß als Angestellter der renommierten Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag eine privilegierte Stelle.

Nur selten verließ er seine Geburtsstadt, und zwar für Dienstreisen, Liebesabenteuer, Kuraufenthalte – oder zum Sterben. Eine besondere Bedeutung für Kafka kam der preußischen Hauptstadt Berlin zu. Zweimal verlobte er sich hier. Einmal 1914 mit Felice Bauer, der er insgesamt zweimal das Eheversprechen gab und sich ebenso oft von ihr trennte. Beim ersten Mal kam es laut Kafka im Jahr 1914 im Hotel Askanischer Hof zu einem „Gerichtshof im Hotel“, der ihm nach Ansicht seines Biographen Reiner Stach zum Roman „Der Prozess“ angeregt haben soll.

Sein zweiter Berlin-Aufenthalt dauerte sogar ein halbes Jahr. Zwischen September 1923 und April 1924 lebte er mit der Schauspielerin Dora Diamant in Steglitz in der Grunewaldstraße 13. Er hatte sie im Ostseeheilbad Graal-Müritz kennengelernt. Sie war es auch, die den an einer Lungentuberkulose erkrankten Schriftsteller in ein Sanatorium nach Kierling in Österreich begleitete und pflegte. In dem nördlich von Wien gelegenen Ort starb Kafka am 3. Juni 1924.

Als Schriftsteller war Kafka zu der Zeit ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Seine wenigen bis dahin erschienenen Erzählungen kursierten vor allem unter Prager Schriftstellerkollegen wie Franz Werfel oder dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch, die Kafkas Talent als Erste wertschätzten.

Der größte Förderer und Bewunderer Kafkas aber war sein Jugendfreund Max Brod. Ihm allein ist es zu verdanken, dass Kafka posthum zum Literaturstar aufstieg und weltweit einer der am meisten gelesenen deutschen Schriftsteller wurde.

Kafka setzte Brod zu seinem Nachlassverwalter ein mit der Anweisung, nach seinem Tod alle Texte zu vernichten. Er selbst hielt nur seine Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „In der Strafkolonie“, „Der Landarzt“, „Der Hungerkünstler“ und „Der Heizer“ – eine Vorstufe seines Amerika-Romans „Der Verschollene“ – für erhaltenswert. Zusammen hätte das weniger als ein Achtel seines etwa 3000 Druckseiten umfassenden Gesamtwerks inklusive Briefen und Tagebüchern ausgemacht. Nachdem Brod den letzten Willen seines Freundes missachtet hatte und die Handschriften wie seinen Augapfel hütete, veröffentlichte er in den 1920er Jahren die bis dahin unveröffentlichten Werke, darunter die bedeutsamen Romanfragmente „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „Der Verschollene“.

Die Werke fielen in eine Zeit, als die Schlüsselwerke der Moderne erschienen: Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913–1927), Joyces „Ulysses“ (1922), Thomas Manns „Der Zauberberg“ in Kafkas Todesjahr vor genau 100 Jahren, Dos Passos' „Manhattan Transfer“ (1925), Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) und Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (1930). Die Geburtsstunde Kafkas als Klassiker der Moderne sollte aber noch auf sich warten lassen.

Ab den 1950er Jahren unternahm Brod einen erneuten Versuch, das Werk seines Freundes einem durch den Krieg verursachten drohenden Vergessen zu entreißen. Die von ihm beim S. Fischer Verlag herausgebrachten „Gesammelten Werke“ Kafkas gehörte zu den ersten Etappen, Kafka zum Mythos zu erklären.

Mit ein Grund war auch die Geschichte der Rettung der Manuskripte vor den Nationalsozialisten. Kurz bevor die Wehrmacht 1939 in Prag einmarschierte, stopfte Brod die Handschriften in einen Koffer und setzte sich mit diesem schweren Gepäckstück nach Palästina ab.
Obgleich nicht selbst von der physischen Vernichtung durch die Nationalsozialisten betroffen, wurde Kafka durch die Rettung seiner Schriften so etwas wie ein Überlebender der Schoa und damit zu einem Idol für eine vom Schuldkomplex belastete junge Bundesrepublik, in der Kafka entsprechend anders rezipiert wurde als in der DDR. Dort galt seine Prosa mit wenig vorbildlichen Helden, die sich in einen Käfer verwandeln, als zersetzend kapitalistische Anti-Arbeiter-Literatur.

Doch im Westen kam Kafka weiter groß heraus. Das lag auch daran, dass man sich an seinen Handschriften abarbeitete. Schnell war klar, dass die Brodschen Fassungen nicht der Weisheit letzter Schluss waren. Da Kafka nicht chronologisch arbeitete, sondern mit Kapiteln begann, ehe er alte abschloss und viele nicht beendete, kamen etappenweise neue Editionen heraus, die jedes Mal einen neuen Schub an Kafka-Euphorie entfachten.

In den 1960er Jahren wurde in Zürich dem Briten Malcolm Pasley ein Großteil der Kafka-Schriften anvertraut, der sie daraufhin in die Bodleian Library der Universität von Oxford verbrachte. Seine Herausgabe der „Kritische Ausgabe“ ab 1982 brachte eine in vielen Fällen völlig neue Anordnung der Romankapitel. Ab Mitte der 90er Jahre folgte eine „Historisch-kritische Ausgabe“ beim Verlag Stroemfeld, in der die Textvarianten herausgearbeitet wurden. Der Titel des Romans „Der Prozess“, dessen Handschrift 1988 für 3,5 Millionen D-Mark ersteigert wurde und sich seitdem im Deutschen Literaturarchiv von Marbach befindet, variiert je nach Ausgabe: mal „Der Proceß“, mal „Der Process“. In letzterer – Kafkas eigentümlicher – Schreibweise hat der Kafka-Biograph Reiner Stach den Roman jüngst neu herausgebracht und kommentiert.

Stach ist momentan der Kafka-Kenner schlechthin. In jahrzehntelanger Arbeit entstand von ihm bis vor zehn Jahren eine dreibändige Kafka-Biographie mit über 2000 Seiten, die ein ganz anderes Kafka-Bild lieferte als jenes Porträt, das noch Max Brod 1937 von seinem Freund zeichnete. Kafka erscheint bei Stach als Autor, dessen Modernität vom industriellen Prag und seinem dominanten Vater entscheidend geprägt wurde. Kafka selbst war stiller Teilhaber einer Asbestfabrik seines Schwagers und sollte diese auf Wunsch seines Vaters voranbringen, entschied sich jedoch für die Schriftstellerei.

Es war das familiäre Todesurteil, das Kafka in seiner Erzählung „Das Urteil“ von dem dort auftretenden Vater offen aussprechen lässt. Die Absurdität des Alltäglichen und die Mühlen der Bürokratie sind bei Kafka immer greifbar. In ihnen verlieren sich seine Helden auf der Suche nach ihrer Rolle in der modernen Gesellschaft. Sie bleiben, frei nach Robert Musil, Individuen ohne Eigenschaften.

Das Adjektiv „kafkaesk“, mit dem man die ausweglosen Situationen bezeichnet hat, in denen sich Kafkas Helden befinden, beschreibt die Lage ganz gut. Wenn der Landvermesser K. bis zuletzt im Roman „Das Schloss“ vergeblich auf Einlass in das gräfliche Schoss wartet, so nimmt dieses das Warten auf Godot in Becketts gleichnamigem absurden Drama vorweg.

Die Bedeutung Kafkas für die moderne Literatur brachte der englische Dichter W. H. Auden wie folgt zum Ausdruck: „Sollte man den Namen eines Künstlers nennen, der in ähnlicher Beziehung zu unserem Zeitalter steht wie Dante, Shakespeare und Goethe zu den ihren, so käme einem wohl zuerst der Name Kafka in den Sinn.“


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