27.07.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden

Heimat

Neues Leben in der Königsberger Straße

Museumsprojekt vermittelt Flair der 50er und 60er Jahre – Ein Flüchtlingssiedlungshaus weckt Erinnerungen an die „gute, alte Zeit“

Harald Tews/FLMK
15.07.2023

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in vielen neuen Siedlungen im Westen Deutschlands die Straßen nach Orten aus den Vertreibungsgebieten benannt. So wohnte man – oder wohnt noch heute – an der Sensburger Straße, an der Masurenallee oder am Stettiner Platz.

Relativ neu ist die Königsberger Straße im Freilichtmuseum am Kiekeberg, das im Landkreis Harburg an der südlichen Stadtgrenze Hamburgs liegt. Seit fünf Jahren werkelte man hier mit einem enormen Aufwand an einem Bauensemble, welches das Flair der 1950er und 60er Jahre vermittelt. Jetzt hat man Vollzug gemeldet: Die Königsberger Straße mit ihren Fertighäusern, einer Ladenzeile, einer Tankstelle und einer gelben Telefonzelle ist fertig und kann besucht werden.

Ein wie 1963 eingerichtetes Flüchtlingssiedlungshaus hat man als letztes fertiggestellt. Das fast sieben Jahrzehnte alte Haus in Tostedt im Landkreis Harburg, in dem drei Generationen wohnten, hatte das Freilichtmuseum 2021 als Ganzes an den Kiekeberg versetzen lassen. Nach umfangreichen Restaurierungs- und Einrichtungsarbeiten wurde das Gebäude und damit nun die komplette Königsberger Straße eröffnet. In der Baugruppe Königsberger Straße steht das Haus für das Ankommen von Flüchtlingen und Vertriebenen sowie für den Aufbau einer neuen Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das Erbauerpaar des Flüchtlingssiedlungshauses, Bruno und Herta Matz, stammte aus Ostpreußen. Die inhaltliche Projektleiterin Zofia Durda berichtete: „Das Haus ist vor allem fotografisch sehr gut durch die Familie Matz dokumentiert und enthielt noch Gegenstände aus den 1950er und 1960er Jahren.“

Sabine Stelzer, Tochter der Erbauer, übergab ihr Elternhaus und die Familiengeschichte dem Freilichtmuseum und resümierte zur Eröffnung: „Es ist gut, dass das Haus erhalten bleibt. Es abzureißen, wäre traurig gewesen.“ Vor allem der Selbstversorgungsgarten, in dem sie auch gern schaukelte und Federball spielte, und ihr Kinderzimmer seien ihre Lieblingsplätze gewesen.

Stelzer erinnerte sich auch daran, dass die Familie das Obst in der Sommerküche direkt weiterverarbeitete und Teile der Ernte zur Verbesserung der Haushaltskasse auch verkauft hatte. Rückblickend schätzte sie das einfache Leben, vor allem die Gemeinschaft mit vielen Besuchen und Festen. Ihre Eltern wohnten im Erdgeschoss des Wohnhauses und sie sowie die Großeltern im Obergeschoss.

Transloziertes Wohnhaus
2021 ließ das Freilichtmuseum am Kiekeberg das 170 Tonnen schwere, anderthalbgeschossige Massivhaus mit Satteldach translozieren, das heißt, ins Museum versetzen. Über vier Tage und eine Strecke von 32 Kilometern wurde das Haus ins Museum transportiert, wie die Museumsarchitektin und bauliche Projektleiterin Theda Boerma-Pahl verriet.

Ebenfalls an den Kiekeberg umgesetzt wurde der 1956 gebaute, freistehende Stall, in dem die Familie zwei Schweine, Hühner und Kaninchen hielt. In dem Stall, der sich neben dem Haus befand und nun auch am Kiekeberg zu sehen ist, waren außerdem eine Räucherkammer sowie eine Futter- und Waschküche.

Mit dem Projekt „Königsberger Straße – Heimat in der jungen Bundesrepublik“ hat das Freilichtmuseum am Kiekeberg bundesweit Einmaliges geschaffen: Fünf Häuser mit ihren Ausstellungen und Gärten, ein Spielplatz, Straßenlaternen, Verkehrsschilder und eine Telefonzelle erzählen Zeitgeschichte von 1949 bis 1979 auf dem Dorf. Zehn Jahre Planungs- und Forschungszeit sowie eine fünfjährige Bauphase liegen hinter dem Museumsteam.

Elf Institutionen haben das auf
6,14 Millionen Euro angelegt Projekt unterstützt. Der Förderverein des Freilichtmuseums, der stolze 13.500 Mitglieder zählt, beteiligte sich mit 72.000 Euro an dem Bau. André Novotny, Vorstand der Stiftung, erklärte: „Wir haben die Königsberger Straße gefördert, weil so den nachfolgenden Generationen ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts aus der Nachkriegszeit erlebbar nahegebracht wird.“

Die bundesweite Strahlkraft wurde auch durch die Förderung von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien in Höhe von 3,84 Millionen Euro deutlich. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die sich sonst gern bei solchen öffentlichkeitswirksamen Auftritten sonnt, blieb der Eröffnung der Königsberger Straße allerdings fern und ließ sich durch eine Referatsleiterin vertreten. Sie erklärte, dass Roth das Projekt gern unterstützt habe und es eines der schönsten Bauprojekte sei, die die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien fördere: „Die Königsberger Straße stellt informativ und eindrücklich die großen Fluchtbewegungen der Nachkriegszeit dar und hat in dieser Form eine bundesweit modellhafte Wirkung.“

Rekonstruierte Vergangenheit
Das Land Niedersachsen gab sich auch nicht knausrig und unterstützte das Projekt mit 600.000 Euro. Beim Festakt ließ Corinna Fischer, Abteilungsleiterin Kultur des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, wissen, dass sie selbst in so einem Siedlungshaus in den 1970er Jahren groß geworden sei. Die Geschichte nach 1945 sei „Teil unserer Landesgeschichte“, betonte sie, und die Erinnerung daran könne Vorbild sein für die heutige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.

Nadja Weippert, stellvertretende Landrätin des Landkreises Harburg und Mitglied des niedersächsischen Landtags, sieht im Freilichtmuseum ein Aushängeschild für den Landkreis Harburg: „Hier lässt sich Geschichte hautnah erleben.“ Das Projekt habe eine Bedeutung, die weit über den Landkreis hinausrage, da es ein Spiegelbild der bundesdeutschen Historie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 1970er biete. Auch sie berichtete von Fluchterfahrungen aus ihrer Familie: Ihre Großeltern hätten aus Bessarabien gestammt, und ein Kriegstrauma wie die Vertreibung sei auch an deren Küchentisch Themen gewesen.

Bei vielen Besuchern werden sicher ähnliche Erinnerungen an die eigene familiäre Herkunft aufkommen, wenn sie diese rekonstruierte Vergangenheit am Kiekeberg hautnah miterleben. Wenn jene auf diese Weise nicht in Vergessenheit gerät, dann hat die Königsberger Straße ihren Zweck erfüllt.

Freilichtmuseum am Kiekeberg, 21224 Rosengarten-Ehestorf, aktuell geöffnet täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Eintritt: 11 Euro, Telefon (040) 7901760, www.kiekeberg-museum.de


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS