12.12.2024

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Thermalbad

Neugeboren im Onsen

Dem Trubel in Tokio leicht entfliehen – Ein Ausflug ins grüne Herz Japans mit Nacktbaden in 40 Grad heißem Quellwasser

Harald Tews
13.09.2024

Es heißt, wenn man in Japan einen Stock in den Boden schlägt, blubbert heißes Wasser aus dem Loch empor. Auch wenn das übertrieben ist und keineswegs auf alle Landesteile zutrifft, so soll das mancherorten tatsächlich der Fall sein. Japan liegt in einer vulkanisch sehr aktiven Region, weshalb an vielen Stellen heißes Quellwasser aus dem Boden sprudelt. Die Japaner nutzen das, um in Thermalbädern, die sie Onsen nennen, Leib und Seele baumeln zu lassen.

Natürlich will auch der weitgereiste Europäer solch ein Bad einmal kennenlernen. Tokio, diese von unbändigem Leben erfüllte Megastadt, kann ganz schön fordernd sein für einen Besucher, der so viel Trubel nicht gewohnt ist (siehe PAZ vom 23. August). Stressabbau ist angesagt, und das lässt sich ziemlich gut in den Bergen unweit der Hauptstadt bewerkstelligen.

Dazu muss man Tokio gar nicht verlassen. Zumindest nicht die Präfektur Tokio. Denn die zieht sich geographisch als langes Band hin: beginnend mit flachen Inseln, die weit entfernt im Pazifischen Ozean liegen, und endend mit hohen Gebirgszügen, die westlich im Landesinneren aufragen. Tokio, das ist Stadt – und Land. Verlässt man das urbane Gebiet, ist man nach kurzer Zeit mitten im Grünen. Viele Tokioter nutzen an Wochenenden eine der Regionalbahnen, um zum Beispiel nach Okutama zu fahren, einem kleinen Dorf im Kreis Nishitama, von wo aus sich im hügeligen Terrain entspannte Wandertouren unternehmen lassen.
Für die ungefähr 70 Kilometer lange Strecke vom wuseligen Tokioter Bahnhof Shibuya nach Okutama benötigt man knapp über zwei Stunden. Sobald man mit der Ōme-Linie, die ab dem Ort Ōme den Spitznamen „Abenteuer-Linie“ trägt, den Beton- und Asphaltdschungel der Stadt hinter sich gelassen hat, erlebt man wilde Natur. Die spektakuläre Fahrt für 2200 Yen hin und zurück (rund 14 Euro) führt über viele Brücken und durch Tunnel hinauf ständig am Fluss Tama entlang, der dem Gebiet den Namen gegeben hat und der am Internationalen Flughafen Haneda in die Bucht von Tokio mündet.

Links und rechts der Bahnstrecke erhebt sich eine bewaldete Bergwelt in bis zu 1000 Metern Höhe. Man könnte sie als das Mittelgebirge der Präfektur bezeichnen, die sogar einen alpinen Teil mit Seen, Wasserfällen und Kalksteinhöhlen hat. Die höchste Erhebung Tokios ist nicht etwa – wie man denken könnte – der 3800 Meter hohe, stets schneebedeckte Gipfel des Vulkanbergs Fuji, den man bei gutem Wetter von der Hauptstadt aus sehen kann. Denn der liegt außerhalb der Präfektur. Doch auch der etwas über 2000 Meter hohe Kumotori als höchster Gipfel Tokios kann sich sehen lassen.

Von Okutama bis zum Kumotori sind es noch gut 20 Kilometer. Die nehmen erprobte Höhenwanderer in Angriff inklusive Hüttenübernachtungen. Wer es leichter haben will und mit Kindern unterwegs ist, für den empfehlen sich leichte bis mittelschwere Wandertouren um Okutama herum. Direkt am Bahnhof informiert ein Tourismusbüro über die verschiedenen Touren und händigt Wanderkarten aus.

Erste Überraschung: Organisatorisch unterscheidet dieses verschlafene Nest nichts von der Hauptstadt. Der Verkehr wird genauso stringent geregelt wie beim großen Stadtnachbarn. Wegen Straßenarbeiten sorgt ein Trupp eifriger Ordnungshüter für den reibungslosen Verkehr in der Ortsmitte, in der pro Minute vielleicht zwei oder drei Fahrzeuge vorbeischleichen. Als gut erzogener Passant wartet man natürlich solange, bis man die Erlaubnis zum Überqueren der schon lange unbelebten Straßenkreuzung erhält.

Zweite Überraschung: Es unterscheidet sich doch alles von der Hauptstadt. Kaum ist man auf den Wanderwegen angelangt, ist es menschenleer. Welch ein Kontrast zum Gewusel an Menschen in den Zentren Tokios! Hier gibt es solch eine Fülle an Wegen, dass man an Wochentagen stundenlang wandern kann, ohne einem anderen Menschen zu begegnen. Empfehlenswert ist der „Therapieweg“, der über eine wackelige Hängebrücke über den Tama hinweg moderat hinauf auf eine Anhöhe führt. Unter mächtigen Kiefer- und Bambusgehölzen befinden sich Ruhestationen, in denen Japaner Entspannungsübungen wie Yoga oder die Sitz-Meditation Zen praktizieren.

Nach einer am Ende doch schweißtreibenden Tour bei sommerlich hoher Luftfeuchtigkeit steht der Sinn des Wanderers aus dem Ausland nach einer anderen Entspannungsmethode: dem Onsen.

Das einen halben Kilometer vom Zentrum Okutamas oberhalb des Tama gelegene Moegi no Yu Onsen ist nach einem kleinen Aufstieg leicht zu erreichen. Ausländische Besucher müssen aufpassen: Gleich am Eingang muss man die Schuhe ausziehen und in Schließfächer stecken. Die Holzpaneele kurz danach darf man nur noch in Socken oder barfuß betreten. Hat man die 950 Yen (6 Euro) Eintritt gezahlt, kommt es noch „schlimmer“: Man muss sich in den Umkleiden vollständig entkleiden. Stoff am Körper ist in den Bädern nicht erlaubt. Man badet nackt im 40 Grad heißen Quellwasser, wobei es zwei nach Geschlechtern getrennte Bäder gibt. Vorher und hinterher duscht man sich ab. Das geschieht jedoch im Sitzen, indem man sich mit einer Schüssel sauberes Wasser über Kopf und Körper gießt.

Für die Japaner ist das Onsen das, was für uns die Sauna ist: man schwitzt. Lange hält man es weder in dem einen noch dem anderen aus. Nach maximal 20 Minuten steigt man aus dem heißen Wasser. Und nach zwei oder drei Gängen stellt sich der Hunger ein. Im Onsen-Restaurant genießt man an den niedrigen traditionellen Tischen knieend oder – aus sittlichen Gründen nur für Männer erlaubt – im Schneidersitz erst eine leckere Mahlzeit für relativ wenig Geld, ehe man der wohligen Müdigkeit nachgibt. Man tut es den Einheimischen nach, die sich an den Tischen auf den mit weichen Tatami-Matten ausgelegten Fußböden im leisen Restaurant, in dem man sich höchstens flüsternd unterhält, für ein Nickerchen flach hinlegen.

Hinterher fühlt man sich tatsächlich wie neugeboren. Japan, das nächste Abenteuer kann kommen!


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