27.07.2024

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Neustart der deutschen Linken

Mit der aus dem „Modell Deutschland“ unternommenen „Reise nach Tunix“, einem Treffen von „Unorganisierten“ in der Technischen Universität Berlin, begann vor 46 Jahren der Weg an die Macht

Stefan Piasecki
21.01.2024

Im Jahre 1978 in West-Berlin: Demo vor dem Gefängnis Moabit, Tausende Studenten auf den Straßen, Gäste aus europäischen Ländern an der TU Berlin, überfüllte Hörsäle, Initiativgruppen greifen in die Stadtteile aus. Wissenschaftssenator Peter Glotz von der SPD befreit durch die Polizei eingekesselte Studenten, die zuvor Rettungswagen blockierten und die Polizei angriffen. Was sich ausnimmt wie ein erneuter Besuch des Schahs von Persien, der noch zehn Jahre zuvor in West-Berlin zu Massenkrawallen geführt hatte, war tatsächlich das Ergebnis einer Sinnsuche der linken Szene am Ende eines Jahrzehntes von RAF-Terror, Hausbesetzungen und staatlicher Repression.

Vom 27. bis 29. Januar entfaltete sich an der Technischen Universität der Kongress „Reise nach Tunix“. Studenten der Freien Universität realisierten die Idee einer Zusammenkunft über oft ideologisch hart verteidigte Grenzen verschiedener Gruppen des links-alternativen Spektrums und der Spontiszene hinweg, um der teils zerschlagenen, sich zerfasernden und nicht selten mittels staatlicher Unterdrückung marginalisierten außerparlamentarischen Linken zu neuen Operationsmöglichkeiten zu verhelfen.

Das Potential einer gesellschaftlichen Wirkung schien auf den bislang beschrittenen Wegen ausgeschöpft. Die Hausbesetzerbewegung schuf keine neuen Inspirationen mehr, sie besetzte nur noch immer neue Gebäude. Die Gewalttaten der Rote Armee Fraktion (RAF) im „Deutschen Herbst“ 1977, der Bewegung des 2. Juni sowie der Revolutionären Zellen (RZ) waren längst nicht vergessen und die Angst vor linker Radikalität so präsent wie nie zuvor. Die Regierung schränkte zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Freiheitsrechte ein. Mit der neuen Methode der sogenannten Rasterfahndung gerieten auch Unschuldige in die Fahndungsnetze. Der RAF-Terrorismus seinerseits überdeckte das breite Spek­trum linker Bewegungen mit brutaler Gewalt, die in der großen Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen nur von wenigen gerechtfertigt wurde. Das Spektrum linken Aktivismus reichte von undogmatischen Linken über Umweltaktivisten, Kriegsdienstverweigerer, Kirchenkritiker und Homosexuelle bis zu den sogenannten Stadtindianern, einem Teil der deutschen Sponti-Szene, die sich an den Motiven der außerparlamentarischen Opposition (APO) der 68er-Bewegung orientierte. Ihre Kraft hatte sich auch in ideologischen Auseinandersetzungen miteinander zunehmend erschöpft.

Ziele und Ursachen
Das Ziel der Tunix-Organisatoren war nun eine Neujustierung der politischen Linken. Gewalttätigen Versuchen des revolutionären Umsturzes wurde eine Absage erteilt, frei von theoretischen oder ideologischen Zwängen und Festlegungen erschien es dringend notwendig, mit intelligenten und kreativen Ansätzen zu neuen Potenzialen zu finden.

Die sichtbare Aufrüstung der Polizei, der sich wehrhaft gebende und zu Repressionen wie dem sogenannten Radikalenerlass greifende Rechtsstaat, der Kalte Krieg und dessen anhebende Nachrüstungsdebatte sowie insbesondere die Berichte des Club of Rome, die erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Folgen und Zusammenhänge wirtschaftlichen Wachstums mit Umweltkatastrophen, Ressourcenknappheit und Bevölkerungswachstum verdeutlichten, beunruhigten viele Menschen und führten widerständigen Gruppen neue Anhänger und Inhalte zu.

Dass die wohlfahrts- und wachtstumsverwöhnte Bundesrepublik anfällig für Einflüsse von außen war, hatte sich schon 1973 gezeigt, als der Yom-Kippur-Krieg die Ölkrise auslöste und Energiepreise sich massiv verteuerten. Die oft noch nach dem Gesellschaftsmodell der Adenauerzeit strukturierten Einverdienerfamilien waren in besonderem Maße durch Arbeitslosigkeit und Inflation gefährdet. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) der Regierung Brandt hatte Hochschulbildung für breitere Gesellschaftsschichten möglich und attraktiv gemacht, gleichzeitig kamen dadurch immer mehr Menschen mit dem akademisch geprägten Potential von Gesellschaftskritik in Berührung, konnten dies aber nicht frei von Repression ausleben. Die 1970er wirkten für viele Menschen bewusstseinsverändernd. Alte Gewissheiten galten nicht mehr. Die Bundesrepublik als Frontstaat im Kalten Krieg war auch wirtschaftlich und gesellschaftlich sowie strukturell keine Nische wohlfahrtsstaatlicher Windstille mehr.

Was geschah konkret?
Was geschah nun an der TU Berlin im Januar 1978? Die titelgebende „Reise nach Tunix“ war zunächst ein Widerspruch in sich. Es ging nicht darum, nichts zu tun. Ganz im Gegenteil schien Aktion nötig und an eine reale Auswanderung an die „Strände von Tunix“, wie es hieß, war schon einmal gar nicht gedacht. Es ging um Vernetzung, die Verabredung von Aktionen, darum, sich kennenzulernen. Kennzeichnend für die linke Szene war damals eine geradezu impulsive Kreativität. Die Konferenz war nicht, was angesichts des Anlasses und der Thematik zu erwarten gewesen wäre, von Depression oder Negativität geprägt. Das Gegenteil war der Fall. Vielgestaltig boten sich Informationsstände dar, ein Rahmenprogramm machte Künstler wie „Trotz und Träume“ oder „Mobiles Einsatzorchester“ und Initiativen zur juristischen Aufarbeitung der Stammheim-Prozesse einem überregionalen Publikum bekannt. Unter dem Untertitel „Rosa glänzt der Mond von Tunix“ organisierten und präsentierten sich Initiativen zum Kampf um Anerkennung von Gleichgeschlechtlichkeit.

Der Berliner Wissenschaftssenator Glotz stellte sich den Organisatoren und kam zu einer kritischen Podiumsdiskussion. Er spielte darüber hinaus eine weitere Rolle als Schlichter von Konflikten außerhalb der Hochschule. Als „Agit-Action“ wurden Vernetzungs- und Solidaritätsaktionen in Berliner Stadtteilen und am Gefängnis Moabit bezeichnet, die parallel stattfanden, um dem möglichen Vorwurf einer akademischen Eliteveranstaltung durch eine basisdemokratische Verbreiterung zuvorzukommen. Bei einer solchen „Agit-Action“-Aktion kam es am Ernst-Reuter-Platz zu Ausschreitungen. Aktivisten warfen Pflastersteine, Eier und Farbbeutel auf Polizisten, einen Wasserwerfer, Banken und das Amerika-Haus. Die Polizei löste den Protestmarsch auf, es kam zu einer Einkreisung von Demonstranten durch die Polizei. Alarmierte Aktivisten konnten Glotz dazu bewegen, sich von der TU zum „Tatort“ zu begeben, um die „belagerten Genossen“ durch ein Machtwort zu befreien.

Neben Glotz hatten sich auch die Größen der französischen kritischen Wissenschaften angesagt: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Michel Foucault, Jean-Paul Sartre und andere. Dies machte schnell die Veranstaltung auch im Ausland bekannt, und so kam es zu mehreren tausend Besuchern, die die TU überfüllten, sodass für zentrale Kundgebungen neben dem Audimax auch mehrere andere große Vorlesungssäle parallel genutzt werden mussten. Die berichteten Teilnehmerzahlen schwanken zwischen 2000 und 25.000. Der Verfassungsschutzbericht 1978 nannte 6000 Teilnehmer. Allerdings registrierten die Grenzübergangsstellen nach West-Berlin alleine 5100 Übertritte, sodass eine niedrige fünfstellige Zahl im Bereich des Möglichen liegt.

Was ist das Ergebnis?
Was ist das Ergebnis der „Reise nach Tunix“, welche Auswirkungen lassen sich bis heute feststellen? Anzuerkennen ist die Kreativität des Ausdrucks. Flugblätter, Musik, Poster, Lyrik, deklarative Texte: Bunt und radikal vielfältig machten die Erzeugnisse auf Forderungen aufmerksam. Die durch Tunix noch einmal verstärkte Vernetzung der Szene wirkt bis heute nach. Revolutionäre Forderungen, philosophische Debatten, Partys, Konzerte szenebekannter Künstler wie „Teller Bunte Knete“, Solidaritätsmärsche zum Gefängnis Moabit, in dem linke Drucker einsaßen, die RAF-Texte vervielfältigt hatten, Verbindungen von Anti-Atomkraft- zu ökologischen Stadtteilbewegungen und feministische Aktionen setzten einschlägige Ziele neu in Szene und machten neue Möglichkeiten erkennbar.

Tunix war der Rahmen, in dem unter anderem Hans-Christian Ströbele, späterer Politiker der Grünen, die Idee einer alternativen Tageszeitung vorstellte, auf die schon wenige Monate später am 27. September 1978 die Nullnummer der „taz“ folgte (ab 17. April 1979 erschien sie regelmäßig). Auch dürfte Tunix den zu diesem Zeitpunkt bereits existierenden grünen und bunten Listen als Wählerinitiativen zugearbeitet haben, aus denen sich wenig später die Partei der Grünen formierte. Die „Reise nach Tunix“ ist bis heute für die Vernetzung und Etablierung persönlicher Bekanntschaften der linken Szene von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ihre Auswirkungen lassen sich in der Zeitungslandschaft Deutschlands erkennen, in der Gleichberechtigungsbewegung und auch in der Diskursorientierung künstlerischer Initiativen.


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Kommentare

Wilhelm Tell am 23.01.24, 19:23 Uhr

Das ist eine interessante Zeitreise nach Tunix, zwei nachfolgende Generationen sind inzwischen erwachsen geworden und es gibt immer noch Althergebrachte, die fünfundfünfzig Jahre lang diese Subkultur gepflegt haben. Dazu kommt Ostdeutschland, die sich überhaupt nicht mit diesem Denkmuster identifizieren können, denn sie litten unter einer linken Diktatur, dort ist inzwischen eine nachfolgende Generation erwachsen geworden.
Und das Ergebnis ist ein bewusster Rechtsruck in Ostdeutschland, weil sie das linke Netzwerk mit der erlebten Diktatur assoziieren, wie wohl auch einige in Westdeutschland.

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