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Restaurierungsmaßnahmen nach Feuerkatastrophe förderten unzählige Bau- und Archäologie-Geheimnisse zutage
Gotische Kirchen symbolisieren den Weg von der Finsternis zum Licht, wie er jedem wahren Gläubigen offenstehen soll. Dabei durchlebten die steingewordenen Zeugnisse des Strebens nach Erlösung oft auch selbst Phasen der Dunkelheit, aus denen sie dann wie Phönix aus der Asche aufstiegen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame de Paris.
Die römisch-katholische Bischofskirche in der französischen Hauptstadt, welche zwischen 1163 und 1345 erbaut wurde und zu den bedeutendsten historischen Monumenten des Mittelalters zählt, wurde am 15. und 16. April 2019 von einem verheerenden Großbrand heimgesucht, dessen Ursachen bis heute nicht wirklich geklärt worden sind.
Durch das Feuer stürzte das höchste Bauteil der Kathedrale, der Vierungsturm, auf den ebenso in Flammen stehenden hölzernen Dachstuhl, der daraufhin in das Mittelschiff krachte. Gleichzeitig sorgte die Hitze des Brandes für ein Schmelzen der Bleiabdeckung des Daches sowie für massive Schäden am Mauerwerk und der Inneneinrichtung des Gotteshauses.
1035 wertvolle Trümmerteile
Das machte groß angelegte Wiederaufbau- und Restaurierungsmaßnahmen nötig, die fünf Jahre in Anspruch nahmen und insgesamt über 700 Millionen Euro verschlangen. Obwohl der französische Staat seit 1905 alleiniger Eigentümer von Notre-Dame ist, wurde die Schadensbeseitigung ausschließlich mit Spenden von 340.000 Geldgebern aus 150 Staaten der Welt finanziert. Diese erreichten letztlich sogar eine Höhe von 846 Millionen, sodass nun auch noch Mittel für andere Sanierungen, wie an den Strebepfeilern der Apsis, zur Verfügung stehen.
Während der Arbeiten eröffnete sich den Archäologen und Mittelalterhistorikern die bislang nie dagewesene Chance, einige ungelöste Geheimnisse des Bauwerkes und seiner Geschichte zu lüften. Insofern erwies sich der Brand – so fatal er per se auch war – als unerwartetes Geschenk für die Wissenschaft.
Weil die herabgestürzten Balken des Dachstuhls etliche Bodenplatten zertrümmert hatten, konnten Experten vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Institut national de recherches archéologiques préventives (INRAP) erstmals systematische archäologische Grabungen im Inneren der Kirche vornehmen. Dabei fanden sie 1035 Fragmente von Skulpturen und Gebäudeteilen aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die früheren „Restaurierungen“ oder Akten von Vandalismus zum Opfer gefallen waren.
Darüber hinaus kamen fast einhundert bislang unbekannte Gräber zutage, was die Gesamtzahl der registrierten Bestattungen in Notre-Dame auf mehr als 500 erhöhte. Besonderes Aufsehen erregten zwei Bleisärge, die von Forschern um den Anthropologen Eric Crubézy von der Université Toulouse geöffnet wurden, wonach eine Identifizierung der darin liegenden Toten erfolgte. Bei dem Ersten handelt es sich um Antoine de la Porte, einen Kanoniker der Kathedrale, der 1710 mit 83 Jahren starb, und beim Zweiten um Joachim du Bellay. Dieser zählte zu den bedeutendsten französischen Lyrikern Mitte des 16. Jahrhunderts und erlag in der Nacht vom 1. zum 2. Januar 1560 mit nur 37 Jahren einem Herzanfall.
Kluge Baumeister am Werk
Weitere Ergebnisse der Grabungen waren die Freilegung von Bauschutt aus dem 16. Jahrhundert und einer rund drei Meter hohen Mauer durch Experten des INRAP um Xavier Peixoto. Die Mauer ist älter als Notre-Dame selbst und war sicher Teil eines Vorgängerbaus. Infrage kommen hier eine schlichte frühchristliche Kirche, eine merowingische Basilika aus der Zeit des Frankenkönigs Childebert I. (497–558) sowie eine karolingische beziehungsweise romanische Kathedrale.
Desgleichen gewannen die Wissenschaftler eine Fülle neuer Erkenntnisse über mittelalterliche Bautechniken und -materialien. So stellte sich heraus, dass das Gewölbe des Kirchenschiffs, in das der Vierungsturm große Löcher gerissen hatte, nur halb so dick war wie vermutet, nämlich zwölf bis 15 Zentimeter. Aufgrund der so erreichten Gewichtseinsparung konnten die Baumeister dem Kirchenschiff seine beeindruckende Höhe von 32 Metern geben.
Ansonsten verrieten die verwendeten Steine noch manch anderes. Beispielsweise geht aus einer bislang unbekannten Inschrift am Schlussstein des Gewölbes im Südarm des Querschiffs hervor, dass dieses erst 1728 vollendet wurde. Insgesamt begutachteten die Forscher 650 Paletten mit herabgestürzten Decken- und Wandteilen. Dabei analysierten sie auch das einstmals verwendete Mörtelgemisch, welches die Steine zusammenhielt. Dieses erwies sich als erstaunlich fest und zugleich extrem flexibel. Deshalb widerstand der Kirchenbau auch jahrhundertlang allen Stürmen, Erschütterungen und Temperaturschwankungen.
Überraschende Materialien
Ebenso überraschte die große Zahl von Eisenklammern, die der Konstruktion zusätzliche Stabilität verliehen und schon in der ersten Bauphase zum Einsatz kamen, was bislang unbekannt war. Den Experten zufolge wirken die Mauern von Notre-Dame wie „zusammengetackert“. Dabei wurden die Klammern in mindestens sechs verschiedenen Eisenhütten Frankreichs gefertigt. Das spricht für weitverzweigte Handelsnetze.
Und dann wären da noch die Hölzer im Dachstuhl, die von rund 2000 Bäumen stammen. Erstmals konnten diese untersucht werden. Dabei fanden Frédéric Epaud und Alexa Duffraise von CNRS heraus, dass es sich nicht wie angenommen um Balken aus dicken alten Eichen handelt, sondern um dünne hohe Stämme relativ junger Eichen. Die Bäume waren zudem in engen Abständen gepflanzt worden, damit sie möglichst wenig Äste entwickelten. Dadurch blieben sie dann auch besonders biegsam: „Besser und widerstandsfähiger kann man es nicht machen“, beurteilte Epaud diese kluge Verfahrensweise der mittelalterlichen Baumeister. Unabdingbare Voraussetzung für die gleichzeitige Bereitstellung vieler solcher Bäume, welche für ihr Wachstum rund 50 bis 60 Jahre benötigten, war die rechtzeitige Abstimmung mit den Forstleuten. Das wiederum zeugt von einer ausgesprochen weitsichtigen Planung.