13.12.2024

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Ostdeutsches Kulturerbe und Identität

Die Verdrängung der Vertriebenen aus der Erinnerung der Deutschen setzt sich fort. Doch wohin will eine Nation, die manche nur noch als Einwanderungsgesellschaft verstehen, Zuwanderer integrieren, wenn sie selbst nicht mehr weiß, woher sie kommt?

Manfred Kittel
28.04.2024

Ist es vorstellbar, dass das große Museum für die französische Sprache im Schloss von Villers-Cotterêts nahe Paris aus Unbehagen an der eigenen Nation in ein „Museum der Sprache“ umgemodelt würde? In Deutschland ist so etwas ähnliches nicht nur möglich, es ist jüngst auch geschehen: Das Oldenburger „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ (BKGE) entledigte sich kurzerhand „der Deutschen“ in seinem Namen. Mancher rieb sich ungläubig die Augen. War nicht gerade das Kulturerbe der vertriebenen Deutschen der eigentliche Seinsgrund des umbenannten Hauses?

Wem imponiert, welch klare Kante grüne Politiker gegen Putins Ukrainekrieg zeigen, fand es besonders schade, dass ein grünes Kulturstaatsministerium ausgerechnet die „aggressive Geschichtspolitik Russlands“ gegen seinen südwestlichen Nachbarn und die daraus folgende „Aufgabenerweiterung“ des BKGE als Begründung für die Umbenennung ins Felde führte. Es war eine Steilvorlage für die CDU/CSU-Opposition im Bundestag angesichts der Bedrohung auch der heimatverbliebenen deutschen Minderheit in der Ukraine durch Putins barbarischen Krieg.

Andere öffentliche Begründungsversuche legten zumindest nahe, dass die Ukraine als eine Art Nebelkerze diente. Über eine Umbenennung war nämlich schon jahrelang diskutiert worden, nachdem das BKGE sich 2005 im Rahmen des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität „transnationaler europäischer Geschichtsbetrachtung“ verschrieben hatte. Dabei handelt es sich um eben jenes Netzwerk, dessen Zweck auch darin bestand, ein zu vertriebenenfreundliches „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin – erfolgreich – zu verhindern. Schien in der jetzigen Konstellation die Gelegenheit gekommen, wie Reinhard Müller in der „FAZ“ befürchtete, sich auch noch „der Geschichte der Deutschen im Osten schleichend zu entledigen“?

Kein Bewusstsein für den Verlust
Das Ganze rührt jedenfalls grundsätzlich an Fragen unserer nationalen Identität, mit der sich die Deutschen seit 1945 und trotz eines kurzen schwarz-rot-goldenen Sommermärchens 2006 bis heute so schwertun. Zur Erinnerung: Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren aus den Staats- und Siedlungsgebieten der Deutschen im östlichen Europa an die 15 Millionen Menschen vertrieben worden. Aus Heimaten, in denen ihre Vorfahren oft seit 800 Jahren gelebt hatten, die untrennbar mit Geschichte und Kultur unseres Volkes verbunden waren und es auch immer bleiben werden. Aber hat der Umgang der deutschen Gesellschaft mit diesem „ungeheuren Verlust“ im Osten (Louis Ferdinand Helbig) der Größe der Amputation jemals Rechnung getragen? War es auch nur annähernd so, als ob 1945 – quantitativ vergleichbar – im Süden Bayern, Baden und Württemberg weggeschnitten worden wären?

Noch in den 1950er Jahren tauchte erstmals das Wort vom „Ghetto der Landsmannschaften“ auf. Es wollte sagen, dass sich das „kommunikative Gedächtnis“ der Ostvertriebenen, denen ihre Heimat besonders am Herzen lag, von dem der alteingesessenen westdeutschen Mehrheit schroff unterschied. Diese Mehrheit wurde politisch noch dadurch vergrößert, dass es die Vertriebenen nie schafften, ihrer Zahl entsprechend im Bundestag und in den Landtagen vertreten zu sein.

Minderheiten in einer Demokratie haben es schwer, zumal wenn sie keinem Zeitgeist entsprechen. Der aber wehte in eine andere Richtung, nicht nur weil auch Millionen Alt-Westdeutsche als Kriegsversehrte oder Ausgebombte mit der materiellen Bewältigung der NS-Katastrophe mehr als beschäftigt waren. Sondern auch wegen der für die Bundesrepublik im Kalten Krieg überlebenswichtigen Ausrichtung gen Westen: politisch, militärisch, ökonomisch und eben auch kulturell. Glücklich darüber, dass nach 1945 wenigstens der größere Teil Deutschlands – nach langen „Sonderwegen“ vorher – endlich im Westen angekommen war, mochte sich die Gesellschaft der Bundesrepublik nicht gern von komplizierten – östlichen – „Erinnerungen behelligen lassen“ (Christoph Stölzl).

War der Umgang mit Flucht und Vertreibung womöglich nur ein Unterkapitel der von Psychologen diagnostizierten „Unfähigkeit (der Deutschen), zu trauern“: Wie gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus eben auch gegenüber den Opfern seiner Folgen? Vielleicht gibt es hier sogar einen noch weiter reichenden Kausalbezug, und die Abwendung vom verlorenen Osten war die radikalste Form der eben doch schon früh, teils eher unterbewusst auch im breiten Volk vorhandenen Ahnung, welch schwere Schuld die Deutschen mit Holocaust und NS-Besatzungsterror im Osten auf sich geladen hatten. Je stärker dann ab Ende der 1950er Jahre das „Dritte Reich“ in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit geriet, desto mehr galt die große Vertreibung von 1945 ff. vielen nur noch als Ergebnis ausschließlich dieser deutschen Katastrophe und letztlich als Geschehen nachgeordneter Bedeutung.

Die zweite Vertreibung
Die Tendenzen verdichteten sich noch in der Zeit der sogenannten neuen Ostpolitik, als die Vertriebenenverbände beim Schlussstrich unter die Oder-Neiße-Grenze den nationalkommunistischen Machthabern in Moskau oder Warschau weniger weit entgegenkommen wollten als damals eine gesellschaftliche Mehrheit. Obwohl mit rein friedlichen Mitteln vorbildlich demokratisch protestierend, wurden sie im medialen Hauptstrom nun oft so behandelt, als hätten sie – und nicht Linksradikale nach 1968 – ihrer Ziele wegen Pflastersteine auf Polizisten geworfen. Üble Geschichtsklitterung half dem Negativimage notfalls noch nach, indem etwa suggeriert wurde, der deutsche Osten mit seinen „Junkern“ hätte die schlimmsten Nazis hervorgebracht. Als ob die NS-Bewegung nicht zuerst in Bayern groß geworden wäre.

Die Zeitenwende 1989/90 und die jugoslawischen Zerfallskriege mit neuen „ethnischen Säuberungen“ brachten zwar dann vieles in Bewegung. Das Alter Ego von Günter Grass gestand 2002 in seiner Novelle über den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ freimütig: Niemals hätte man über das Leid der Ostvertriebenen schweigen, das Thema den „Rechtsgestrickten“ überlassen dürfen, nur weil die eigene Reue vordringlich gewesen sei. Aber wurde jetzt, lange nachdem 1990 die letzten Grenzfragen völkerrechtlich definitiv geklärt waren, endlich wahr, was SPD-Kanzlerkandidat Willy Brand schon 1969 als Trostpflaster für die angestrebten Ostverträge verheißen hatte? Das Ziel mithin, „der ganzen Nation die kulturelle und geistige Substanz der Ostgebiete zu erhalten“, um im Inneren zu gewinnen, „was draußen verloren ging“ – einschließlich einer neuen Heimstatt für die traditionsreichen „ostdeutschen Universitäten und Kultureinrichtungen“?

Rhetorische Fragen. Denn die seit jeher kargen Geldquellen für den im Paragraphen 96 Bundesvertriebenengesetz formulierten Auftrag sprudelten fortan nicht munterer. Das ostdeutsche Kulturerbe „im Bewusstsein des gesamten deutschen Volkes und des Auslands erhalten“? Bund und Länder zusammen hatten 1968 gerade einmal sechs Millionen D-Mark für diese Zwecke aufgebracht, so viel wie das Auswärtige Amt allein zur Rettung des ägyptischen Tempels Abu Simbel beisteuerte, und in etwa der Jahresetat eines einzigen Großstadttheaters. Das fiel damals aber nicht so stark ins Gewicht, weil sich noch viele aus der Erlebnisgeneration der Vertriebenen ehrenamtlich kulturell engagierten. Als ihre Zahl abnahm, kam es unter Kanzler Kohl in den Jahren nach 1990 immerhin zu einer Verdoppelung der Mittel auf an die 50 Millionen D-Mark. Nur wurden diese Zusatzgelder infolge des legendären „Kahlschlags“ nach dem Regierungswechsel 1998 wieder weitgehend abgewickelt.

Erinnerungspolitische Verschiebungen
Fragwürdige inhaltliche Weichenstellungen folgten. Im Bemühen, das alte Deutschtums-Paradigma unseligen völkischen Angedenkens in der Ostforschung zu überwinden, schüttete man vielfach das Kind mit dem Bade aus. Fast nur noch interethnische, multikulturelle und transnationale Themen standen im Vordergrund, während „nationalgeschichtliche Fragestellungen“ als antiquiert galten und die Bezüge der Vertreibungsgebiete zur allgemeinen deutschen Geschichte mehr und mehr verblassten.

Und so muss heute noch immer zur verdienstvollen, nur keineswegs erschöpfenden Überblicksdarstellung von Wilhelm Matull von 1973 greifen, wer sich über die traditionsreiche Arbeiterbewegung im preußischen Osten, der Heimat eines Ferdinand Lassalle oder des großen Weimarer SPD-Ministerpräsidenten Otto Braun, informieren möchte. Einen Lehrstuhl für ostpreußische Geschichte gibt es bis heute nicht. Gewiss, Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und Ostbrandenburg, die Gegenstände der Landesgeschichte Ostdeutschlands, sind nach 1945 zum größten Teil in „andere nationale Lebenszusammenhänge“ hineingeraten; komplett „aus dem historischen Lebenszusammenhang der deutschen Geschichte herausgetreten“ (Klaus Zernack) sind sie damit aber eben nicht. Und für die alte Heimat der Sudetendeutschen oder Donauschwaben gilt sinngemäß ähnliches.

Die jüngste Oldenburger Metamorphose weckt zudem Erinnerungen an eine traurige Episode während der Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Hohenzollernschlosses. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hatte damals vorgeschlagen, auf einem Teil der gigantischen 16.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche ein Museum der preußischen Geschichte einzurichten. Auf vielleicht 1000 Quadratmetern wäre es natürlich auch um die östlichen Provinzen Preußens jenseits von Oder und Neiße gegangen. Man hätte etwa erfahren, dass dort 15 Prozent der damaligen deutschen Staatsbürger lebten, aber gleichzeitig, nicht zuletzt wegen der jüdischen Breslauer, ein Drittel der deutschen Nobelpreisträger. Die geringe Resonanz auf den überzeugenden Vorschlag sprach Bände. Heute erwartet den Besucher im Humboldt-Forum stattdessen ein kosmopolitisches Sammelsurium, in dem die drei kurzen Jahrzehnte unserer Kolonialhistorie derart in den Mittelpunkt rücken, als ließen sich mit ihnen die dunklen Rätsel deutscher Geschichte lösen.

Die Folgen verweigerten Gedenkens
Angesichts des Vorlaufs kann die jüngste Distanzierung vom östlichen Kulturerbe unserer Nation kaum überraschen. Einem eben in Berlin entworfenen, 43 Seiten langen „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ sind Flucht und Vertreibung nur wenige Zeilen wert, und auch das nur als Teil einer ja „schon immer von Mobilität und Migration geprägt[en]“ Gesellschaft. Die Geschichte unseres mühsamen, aber letztlich erfolgreichen Weges zur Demokratie wird – wen das tröstet – ebenfalls eher stiefmütterlich abgehandelt.

Eine Kernfrage unserer nationalen Identität dagegen ist durchaus richtig formuliert: Wie kann deutsche Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft überhaupt aussehen? Antworten darauf bekommt man nur leider kaum. Denn wie soll ein stolzer, Erdogan-naher Türke in Kreuzberg zum deutschen Patrioten werden, wenn ihm nichts anderes verheißen wird, als damit Teil einer „Täternation“ zu sein, deren Geschichte aus einer einzigen Abfolge brauner oder roter Diktaturen und weißer Kolonialverbrechen besteht? Statt wirklich alles zu erzählen, was unsere gemeinsame Heimat heute durch größte Höhen und finsterste Tiefen hindurch erst zu dem hat werden lassen, was es auch künftig sein sollte: Demokratie der europäischen Mitte sowie Brücke zwischen West und Ost.

Prof. Dr. Manfred Kittel war Gründungsdirektor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Zu seinen Werken gehören „Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik“ (Duncker & Humblot 2022, zusammen mit Gabriele Schneider und Thomas Simon) sowie „Stief-kinder des Wirtschaftswunders? Die deutschen Ostvertriebenen und die Politik des Lastenausgleichs (1952 bis 1975)“ (Droste 2020).


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Kommentare

Kersti Wolnow am 28.05.24, 08:54 Uhr

Was sucht "ein stolzer, Erdogan-naher Türke" und alle seine Kameraden im deutschen Berlin-Kreuzberg und anderswo? Wollen die nie begreifen, daß auch sie Opfer unserer auch durch sie zerstörten Kultur, Sprache und Identität werden?

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