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Tschechoslowakischer Wall: Ausbauzustand 1938
Karte: John NennbachTschechoslowakischer Wall: Ausbauzustand 1938

Prags Pendant zur Maginot-Linie

Nach der „Machtergreifung“ der NSDAP in Deutschland begann die ČSR mit dem Bau des Tschechoslowakischen Walls. Er wurde nie komplett fertiggestellt und verlor mit dem Münchner Abkommen seinen ursprünglichen Zweck

Wolfgang Kaufmann
05.11.2024

Die Beziehungen der aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen Tschechoslowakischen Republik (ČSR) zum benachbarten Kriegsverlierer Deutsches Reich waren maßgeblich dadurch belastet, dass die ČSR mit dem Sudetenland an der gemeinsamen Grenze Gebiete besaß, die mehrheitlich von Deutschen besiedelt wurden und sie ihre deutsche Minderheit diskriminierte. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland nahmen diese Spannungen noch zu.

Daraufhin gab die Regierung in Prag eine Studie zur Abschätzung der nötigen militärischen Ressourcen für einen Krieg mit Deutschland in Auftrag. Am 4. Mai 1934 lag sie vor. Die Verfasser des Papiers kamen zu dem Ergebnis, dass bis zu 30 Divisionen mit insgesamt 600.000 Mann nötig seien, um den Nachbarn am Einmarschieren zu hindern.

Angesichts dieser hohen Zahl an nötigen Soldaten fiel in dem vergleichsweise kleinen, aber wohlhabenden Staat die Entscheidung, einen Festungsgürtel nach dem Vorbild der französischen Maginot-Linie entlang der bis zu 1100 Kilometer langen tschechisch-deutschen Grenze zu errichten, ergänzt um weitere Bunkeranlagen an der tschechischen Grenze zu Österreich und Ungarn. Bis zum Jahre 1950 sollte der sogenannte Tschechoslowakische Wall komplett fertiggestellt sein. Dann hätten nach Berechnung der Militärplaner 165.000 Mann ausgereicht, um den Feind aus den Bunkern heraus aufzuhalten und zurückdrängen.

Statt einer 600.000-Mann-Armee
Die Gesamtkosten wurden mit 4,5 Milliarden Kronen veranschlagt. Zum Vergleich: Die Kosten allein für die militärische Ausrüstung einer 600.000-Mann-Armee wurden ebenso hoch geschätzt – und das bei einem ungleich höheren Personalbedarf.

Die Planung und Koordinierung der Bauarbeiten an der Bunkerlinie oblag der vom Verteidigungsministerium in Prag eingerichteten und von französischen Experten beratenen Direktion der Befestigungsanlagen (ŘOP) unter Leitung von Brigadegeneral Karel Husárek, dem Ersten Stellvertretenden Chef des Hauptstabes der tschechoslowakischen Streitkräfte. Die ŘOP legte am 12. Dezember 1935 ein detailliertes Konzept für den Ausbau der Grenzbefestigungen vor, das der Generalstabschef, Armeegeneral Ludwig Krejci, alsbald dem Obersten Verteidigungsrat der Republik vorstellte. Anschließend bewilligte die Regierung in Prag am 4. Juni 1936 die Mittel für das Bunker- und Festungsbauprogramm.

Dessen Umsetzung sollte in vier Etappen erfolgen, beginnend mit dem Bau von möglichst vielen Kleinkampfbunkern zur Abwehr von Überraschungsangriffen. Dabei bildete der böhmisch-sächsische Grenzbereich zwischen Paß [Sedlo] im Lausitzer Gebirge [Lužické hory] und Schwaz [Světec] unweit von Teplitz-Schönau [Teplice] am Fuß des Erzgebirges einen wichtigen territorialen Schwerpunkt.

Hier gab es die elf Bauabschnitte L1 Deutsch-Pankraz [Jitrava], L2 Petersdorf [Petrovice], L3 Hermsdorf [Heřmanice], M1 Großmergthal [Mařenice], M2 Morgenthau [Rousínov], N1 Kaltenbach [Studený], N2 Schemmel [Všemily], O1 Herrnskretschen [Hřensko], O2 Tetschen [Děčín], O3 Aussig an der Elbe [Ústí nad Labem] und X1 Türmitz [Trmice], die unter dem Befehl der Infanterie- beziehungsweise Pionier-Offiziere Karel Bledý, Pavel Nerer, Ladislav Zelenka, Jaroslav Pour, Miloň Chotek, František Votoček, Jaroslav Verberger, Pavel Chrž, Alois Votruba, Emil Kolener, Augustin Došek und Antonín Kytnar standen.

In aller Regel wurden in diesen Bereichen die Standardbunker der Reihen LB 36 und LB 37 errichtet, deren Wand- und Deckenstärke zwischen 30 und 120 Zentimetern lag. Damit konnten die ab dem Sommer 1936 gebauten LB-36-Bunker Geschütz- und Werfergranaten bis zum Kaliber 75 und 81 widerstehen, während die moderneren LB-37-Bunker sogar wirksamen Schutz gegen 10,5- und 15,5-Zentimeter-Geschosse boten. In der Standardausführung besaßen die aus Stahlbeton bestehenden Befestigungen zwei Schießscharten für das Schwere Maschinengewehr Těžký kulomet vzor 37 vom Kaliber 7,92 Millimeter aus den Rüstungswerken von Brünn [Brno]. Meist verfügte eine Bunkerbesatzung über 7000 bis 14.000 Schuss Munition. Weil die Befestigungsanlagen keinen Stromanschluss besaßen, war es unmöglich, elektrisch betriebene Lüfter zu verwenden, um die beim Schießen entstehenden schädlichen Gase nach außen zu leiten. Stattdessen gab es einen handbetriebenen Ventilator, der bei 32 Umdrehungen pro Minute bis zu 800 Kubikmeter Luft in der Stunde austauschen konnte. Ein Soldat musste die Kurbel der Entlüftung betätigen, während zwei bis vier andere als Richt- und Ladeschütze fungierten. Dazu kam der Bunkerkommandant, der mit Hilfe eines Spiegelperiskops die Lage außerhalb des Bunkers sondierte. Außerdem existierten Klappen zum Hinauswerfen von Handgranaten zur Ausschaltung von Angreifern im unmittelbaren Nahbereich. Als letzte Verteidigungslinie diente eine verschließbare Tür aus Panzerstahl, über der eine kleinere Schießscharte für den Einsatz von Handfeuerwaffen klaffte.

Beratung durch Franzosen
An den Bunkeraußenseiten waren gebogene Metallstangen angebracht. Diese „Schweineschwänze“ erlaubten die Befestigung von Tarnnetzen. Die Verständigung zwischen den einzelnen Bunkern innerhalb einer Befestigungslinie erfolgte mittels Flaggen und Signalmunition, wobei aber jede Besatzung im Vorfeld ihren Kampfauftrag erhielt und danach möglichst autark operieren sollte.

Um feindliche Panzerfahrzeuge daran zu hindern, den Bunkern gefährlich nahe zu kommen, wurde in deren Umfeld ein System von Panzergräben, Minenfeldern und Stacheldrahtverhauen angelegt. Darüber hinaus kamen vielfach die sogenannten Tschechenigel zum Einsatz. Die Idee zu dieser Weiterentwicklung des Spanischen Reiters stammte von Major František Kašík, der ab 1935 in der ŘOP Dienst tat.

Tschechenigel bestanden in der Regel aus drei etwa eineinhalb bis zwei Meter langen, miteinander verschweißten Profilstahlträgern, in denen sich anrollende Panzer festfahren sollten. Diese hocheffektiven Panzersperren, von denen es bald auch eine Version aus Beton gab, gelangten später in die Hände der Wehrmacht und kamen ab 1944 am Atlantikwall zum Einsatz. Damit erschwerten sie die alliierte Landung in der Normandie im Bereich des stark umkämpften Küstenabschnittes Omaha Beach.

Das Jahr 1938: Während die Bunker entlang der tschechischen Grenzen wie Pilze aus dem Boden schossen, überschlugen sich die Ereignisse im Rahmen der Sudetenkrise. Am 20. Mai beschloss die ČSR die Teilmobilisierung, wodurch der Mannschaftsbestand der Armee auf 383.000 anwuchs. Dem folgten am 23. September die vom Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister, Armeegeneral Jan Syrový, verkündete allgemeine Mobilmachung und der Verteidigungsnotstand. Damit verfügte die tschechoslowakische Armee nun über 1,32 Millionen Mann beziehungsweise 41 Divisionen. Außerdem konnte sie rund 350 Panzer, 2300 Geschütze und 950 Flugzeuge aufbieten.

Im Zuge der Mobilmachung wurden auch die meisten Befestigungsanlagen entlang der deutsch-tschechischen Grenze mit Soldaten besetzt. Von den geplanten 16.000 Kleinkampfbunkern waren bereits 9500 fertiggestellt, davon 3600 des älteren Modells LB 36 und 5900 neuere LB 37. Dazu kamen 229 größere Anlagen mit bis zu 35 Mann Besatzung, 4,7-Zentimeter-Panzerabwehrkanonen und Wandstärken zwischen 1,3 und 2,6 Metern, von denen die ČSR insgesamt 1300 errichten wollte.

Letztendlich erfüllten die bis September 1938 in Betrieb genommenen Bunker ihre Funktion nicht. Das resultierte aus dem Abschluss des Münchener Abkommens in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938. Durch dieses ging das Sudetenland an das Deutsche Reich. Daraufhin konnten dessen Truppen die Bunkerlinien ohne einen einzigen Schuss passieren. Kurz darauf besichtigte Adolf Hitler während eines Besuchs in Nordböhmen die Kleinkampfbunker bei Großmergthal [Mařenice].

Vielfache Nachnutzung
Nach der Annexion der „Rest-Tschechei“ im März 1939 unternahm die Wehrmacht Beschuss-, Bombardierungs- und Sprengübungen an den tschechischen Befestigungsanlagen, um auf diese Weise für den Sturm auf die Maginot-Linie im Rahmen des Frankreichfeldzuges von 1940 zu trainieren.

Dabei erwiesen sich die Bauwerke als ausgesprochen harte Nüsse. Deshalb wurden etliche Panzerkuppeln der Großbunker ausgebaut und in den Westwall integriert. Außerdem fand man heraus, dass die schweren Maschinengewehre in den Kleinkampfbunkern ausgereicht hätten, um die 1938 hauptsächlich verwendeten deutschen Panzerkampfwagen I und II mit ihrer schwachen Panzerung von fünf bis 13 Millimetern Stärke wirkungsvoll zu bekämpfen.

Nach der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren gerieten die Bunker des Tschechoslowakischen Walls weitestgehend in Vergessenheit, bis die Wehrmacht diese im Frühjahr 1945 nutzte, um Angriffe der 4. Ukrainischen Front der Roten Armee abzuwehren. Die Bunkerlinien bei Mährisch-Ostrau [Ostrava] und Troppau [Opava] hielten dabei bis zu 57 Tage lang stand.

Während des Kalten Krieges wurden die Befestigungen entlang der Grenze zur Bundesrepublik und Österreich wieder reaktiviert und mit Tarnanstrichen versehen. Deren Besatzungen sollten nun nach einem atomaren Angriff der NATO den einrückenden Truppen des Feindes in den Rücken fallen.

Nicht wenige der Bunker – vor allem im Böhmerwald – waren noch bis 1989 Teil des Verteidigungssystems der Streitkräfte der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR). Und auch die Armee der 1993 neu errichteten Tschechischen Republik wollte zunächst nicht auf die Befestigungen verzichten und behielt sie bis zum Jahre 2006 in ihrem Bestand.

Seither stehen viele der Bunker leer und sind frei zugänglich. Andere wiederum gelangten in den Besitz von Privatpersonen, Vereinen oder Unternehmen, welche die Betonklötze als Lagerraum, Unterkunft oder ähnliches nutzen. In manchen Fällen, wie im Umkreis von Schemmel [Všemily] und Windisch-Kamnitz [Srbská Kamenice], entstanden aber auch Museumsbunker mit originalgetreu rekonstruierter Inneneinrichtung, deren Besichtigung interessante militärhistorische Einblicke bietet.

Außerdem harren etliche vergessene Befestigungsanlagen noch ihrer Wiederentdeckung. So verzeichnen die einschlägigen Karten von Hobbyforschern momentan lediglich rund 150 der 2000 Bunker im Böhmerwald.


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