Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
In seinen Arbeiten hat der Architekturhistoriker Wulf D. Wagner bislang zerstörte Schlösser und Herrenhäuser Ostpreußens wiederauferstehen lassen. Nun widmet er sich der untergegangenen Königstraße in Königsberg
„Der liebe Gott steckt im Detail!“ Daran erinnerte der große Historiker Leopold von Ranke. Andere hingegen mahnten, nie zu vergessen, dass sich gerade der Teufel in Details verberge, die deshalb Anlass zu leidenschaftlichem Zwist und Hader sein können. Auf jeden Fall hielten beide Empfehlungen Geschichtsschreiber dazu an, nichts als unbedeutend oder belanglos bei Seite zu schieben während der Bemühung, ehedem lebendige Kräfte in ihrer jeweiligen besonderen Umgebung zu vergegenwärtigen.
Geschichte hat es mit Handlungen, mit einem sich mannigfach verzweigenden und vermischenden Geschehen zu tun, in dem sich dramatisch das Leben als Zusammenleben entwickelt. Der Architekturhistoriker Wulf D. Wagner misstraut in diesem Sinne theoretischen Modellen und Systemen, die meist vergessen lassen, dass es theoria ursprünglich mit dem Betrachten, dem Hin- und Zuschauen zu tun hat und nicht mit Gedankenspielen. „Begriffe ohne Anschauung sind leer“, wie er mit Hermann A. Korff bemerkt, dem gründlichen Kenner des Geistes der Goethezeit, der diesem Geist auf vielen Pfaden und Seitenwegen folgte, um seine Wirksamkeit ahnend zu erkennen.
Gedankliche Wiederherstellung einer versunkenen Welt
Wulf D. Wagner ist der Erzähler der Bauten einer mittlerweile sehr fernen, nahezu verschütteten Welt, nämlich Ostpreußens. In seiner Geschichte des Königsberger Schlosses von 2011 behandelte er die monarchischen Lebensformen. Mit den beiden Bänden zu den Gütern im Kreis Gerdauen 2008/09 und weiteren zwei Bänden zu dem Rittergut Truntlack von 1446 bis 1945 im Jahre 2014 entwarf er ein reich nuanciertes Bild vom adeligen Landleben. Jetzt beschäftigt er sich mit der Geschichte einer Straße, der Königstraße in Königsberg i. Pr. – und somit mit der städtischen Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert in dieser zweiten Haupt- und Residenzstadt Brandenburg-Preußens.
Die Geschichte der einzelnen Grundstücke und ihrer Eigentümer führt mitten hinein in die Entwicklung der städtischen Gesellschaft. Da wegen der Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, aber auch schon wegen der Umbauten im 19. Jahrhundert wenig erhalten blieb von den Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert, muss Wulf D. Wagner wie ein Archäologe und Ausgräber vorgehen, um akribisch mit allen möglichen Plänen, Auf- und Grundrissen, Stadtplänen und Stichen, Inventarlisten über die Inneneinrichtung und Beschreibung der Raumaufteilung die verlorene Gestalt der einst prächtigen Straße zurückzugewinnen. Das ist ihm meisterhaft gelungen. Der aufmerksame Leser gewinnt eine umfassende Vorstellung von einer versunkenen Welt, die vor seinen Augen wiederentsteht.
Die Breite- – oder ab 1729 auch Königstraße, wie sie offiziell seit 1811 hieß – und ihre Nebenstraßen entstanden planlos nach und nach in ländlicher Umgebung, in der Neuen Sorge, außerhalb der befestigten Stadt. Sie führte in gerader Linie zum Rossgärter Markt. Die Anwohner bauten, wie sie wollten, keinen bürokratischen Vorschriften unterworfen, obschon aufgefordert, mit ihren Gebäuden zur Zierde der Stadt beizutragen. Insofern wurde zumindest von den Behörden vorausgesetzt, dass die Bauherren halbwegs vertraut mit dem guten Geschmack waren und einem zu ihm gehörenden Sinn für Ordnung und Proportion besaßen.
Insgesamt bildeten die einzeln für sich stehenden zweistöckigen Häuser mit Walm- oder Mansarddach, mal breiter, mal schmaler, ein stattliches Ensemble, in dessen Rücken sich Stallungen, vor allem aber Nutz- und Ziergärten befanden mit exotischen Pflanzen, Orangerien oder Lusthäuschen für sommerlichen, geselligen Zeitvertreib. Von vornherein vermischten sich hier die Stände und Berufsgruppen. Königliche Beamte und Offiziere, adlige Grundherren oder Professoren sind Nachbarn von Tischlern, Maurern, Gewürzhändlern, Fuhrmännern, Branntweinern, Stadtmusikern oder nach bürgerlicher Integration strebenden Juden. Die sogenannten „Junker“ bilden keine exklusive Klasse, sondern fügen sich ohne Umstände in die städtischen Umgangsformen mit ihrer ganz eigenen Dynamik.
Königliche Beamte neben Handwerkern und Händlern
Der Landadel, die Grundherren, gehören zur Stadt, nicht allein, weil wegen der Verwaltung und des Militärwesens eng mit der Krone, dem Staat verbunden, sondern aufgrund gesellschaftlicher Zusammenhänge und einer gemeinsamen Lebenskultur, die sie mit Bürgern verbinden und die erst das zwanglose Durcheinander-Wohnen ermöglichen und damit eine nachbarliche Nähe, die – bis hin zum Schuldenmachen – eine gewisse Angewiesenheit aufeinander dokumentiert.
Der städtische Grundbesitz ist erstaunlich beweglich. Grund und Boden wird rasch veräußert oder getauscht, nicht nur weil Erbgeschichten oder finanzielle Notlagen dazu nötigen. Der Adel unterscheidet sich mit seinen geschäftlichen Improvisationen gar nicht von den übrigen Stadtbewohnern. Die alte Verheißung, dass Stadtluft frei mache, meinte ja von vorneherein allseitige Beweglichkeit als Voraussetzung dafür, aus sich etwas zu machen, auch als Landedelmann.
Eine wichtige Rolle für die zunehmende Unbeständigkeit im Besitz spielt die im 18. Jahrhundert aufkommende Gewohnheit, sich mit einem Mietverhältnis zu begnügen, statt Herr im eigenen Haus zu sein. Auch große Herren wie die Dohna oder Dönhoff bauen Mietshäuser, nicht unbedingt für Verwandte, sondern für Handwerker, Beamte oder wer immer bestrebt ist, über eine gute Adresse zu verfügen. Und eine gute Adresse ist die Königstraße von Beginn an und bleibt es auch im 19. Jahrhundert.
Manche Häuser können vorübergehend mit der großen Geschichte verbunden sein, wie das von Professor Johann Friedrich Gottlieb Lehmann, Philosoph und Direktor des Gymnasiums, der 1807 den Tugendbund zur Förderung des
Humanismus und des Patriotismus gründet, um Beamte, Gelehrte, Schriftsteller und Offiziere bei sich zu vereinigen im Widerstand gegen die französische Besatzungsmacht. Auf Druck der Franzosen muss diese Gruppe zwar verboten werden, doch ihr Geist lässt sich nicht mit bürokratischen Zwangsmaßnahmen unschädlich machen. Politisch ungefährlicher ist das Seminar des Philosophen und Pädagogen Johann Friedrich Herbart, das dieser in seinem Haus für Studenten veranstaltet, in einem Haus, das zuvor einem Fuhrunternehmer gehört hatte.
Es liegt nahe, in einer Umwelt, in der sich Bildung und Besitz im 18. Jahrhundert mischen, eine Leinenfabrik anzulegen mit entsprechenden Produktionsstätten und Wohnungen. Es gibt noch keine Hemmungen davor, schönes Wohnen und industrielle Arbeit miteinander zu verquicken. Die königlichen Behörden, an allem Anteil nehmend, was den Wohlstand fördert, muntern dazu auf. Ein Erfolg ist diesem Versuch dennoch nicht beschieden.
König Friedrich Wilhelm I., dieser tüchtige Organisator und vielseitige Bürokrat mit Ärmelschonern, kauft wiederum 1731 das stattliche Haus eines hohen Beamten, um es von nun an als königliches Palais zu nutzen, da ihm für seine wenigen Besuche in Königsberg das Schloss zu unbequem ist.
Der fromme Monarch als Nachbar
Kurzum, auch der König findet nichts dabei, in der Königstraße zu wohnen als Staatsbürger unter anderen Stadtbürgern. Der fromme Monarch, der den Bau von Kirchen gerne fördert, verlangt von der Gemeinde der Hugenotten, die ihrerseits staatliche Unterstützung erbittet, um in der repräsentativen Königstraße ihr Gotteshaus errichten zu können, erst einmal unter ihren Mitgliedern Spenden zu sammeln, die dann ein königlicher Beitrag ergänzen könne. Hilfe durch Selbsthilfe war ein bewährtes christliches und preußisch-christliches Prinzip.
Danach richtet sich auch die Zimmermannsche Stiftung für verarmte Damen, um ihnen einen gottesseligen Lebensabend zu verschaffen. Dem Chirurgen und Bader Johann Christian Langermann gelingt es freilich nicht, trotz seiner anerkannten Fähigkeiten, die ihn bei jedermann beliebt machten, eine feste Praxis in der Königstraße zu eröffnen; denn er war einmal, mehr aus Ungeschick als aus Absicht, in einen Abtreibungsskandal verwickelt. Das haftet trotz nachbarschaftlicher Vertrautheit seinem guten Ruf als Makel an.
Die Geschichte der Grundstücke und ihrer wechselnden Eigner, die Wagner aus den Akten mit ihren vielen Hinweisen auf die überraschendsten Lebensumstände zu rekonstruieren vermag, ebnet Wege in die wirkliche und nicht theoretische Sozialgeschichte einer Residenzstadt, die zugleich eine Handelsmetropole und Universitätsstadt ist, in der noch jeder ohne weite Gänge machen zu müssen mit jedem in Berührung kommt.
Eigenwillige Witwen und Erbtanten
Vor allem sind es Frauen, die mit ihren Heirats- und Erbverträgen für dauernde Bewegung sorgen und deshalb wie ein Motor der Besitzveränderung wirken und diese gerade nicht verzögern oder aufhalten. Von den Entschlüssen eigenwilliger Witwen und Erbtanten kann das Glück oder Unglück vieler Männer abhängen. Bei ihren Entschlüssen folgen sie nicht kapriziösen Launen; diese ergeben sich vielmehr konsequent aus Verträgen und Rechtsverhältnissen, in denen die Frau, vorzugsweise die adlige Dame, kein Objekt von „männlicher Fremdherrschaft“ ist, sondern souverän im Zeitalter der Souveränität für sich und andere zu entscheiden vermag. Das ist eines der äußerst aufschlussreichen Ergebnisse dieser über Ostpreußen hinaus beachtlichen Straßengeschichte.
Wulf D. Wagner möchte mit seiner Studie dazu anregen, auf solch detaillierte Weise allmählich zu einer städtischen Kulturgeschichte als Lebensgeschichte zu gelangen, zur Beschreibung eines pulsierenden Organismus und des Zusammenhanges seiner Glieder. Franz Grillparzer, der literarische Lebensdramatiker, befand einmal: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat.“ Auf die Stadt als Organismus übertragen heißt das, sämtliche Regungen des gesellschaftlichen Zusammenwirkens zu beachten, da keine zu klein und unwichtig ist, um das große Ganze, nämlich die Stadt mit ihren einander ergänzenden Lebensformen, zu begreifen.
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören unter anderem „Kaiser Wilhelm II. Die
Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (Landt Verlag 2008) sowie „Eine kleine Geschichte Preußens“ (Siedler 2001). www.eberhard-straub.de
Siehe zur Geschichte der Königstraße auch den Artikel „Letzte Zeugnisse des barocken Königsberg“ in PAZ Nr. 37/2023.