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Geschichte und Gegenwart

Prophetin einer „heiligen Nation“

Vor hundert Jahren wurde Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, heiliggesprochen. Als Dienerin von König und Kirche steht sie wie keine zweite Person der Geschichte für den Anspruch Frankreichs, eine Nation mit besonderer Mission zu sein

Eberhard Straub
23.05.2020

Historische Größe ist ein Mysterium. Sie wird nicht von Historikern, Ideologen oder Propagandisten erfunden. Sie ergibt sich vielmehr aus dem unübersichtlichen Leben mit seiner Vielfalt. Aus mannigfachsten Gründen kommen die Zeitgenossen überein, jemanden als ungewöhnlich zu feiern, weil er die Welt fassungslos und staunen machte. Ohne solch wenige Große ließe sich die Geschichte einer Nation nicht verstehen. Sie sind unersetzlich für deren Werden und die Idee des alle ergreifenden génie nationale, des Nationalgeistes.

Die Jungfrau von Orléans oder Jeanne d'Arc, vor hundert Jahren, am 30. Mai 1920 von Papst Benedikt XV. zur Heiligen erhoben, gehört als Märtyrerin zu den herausragenden Zeugen der Kirche Christi. Sie hat aber auch noch ein anderes Verdienst, nämlich in Franzosen den Enthusiasmus geweckt zu haben, eine ehrenvolle, wenn nicht auserwählte Schicksalsgemeinschaft zu sein.

Dienst an Gott und König

Mit ihrem Leben und Streben gab Jeanne d'Arc das beste Beispiel, wie Gottesdienst und Königsdienst den ganzen Menschen begeistern können und ihn dazu befähigen, in anderen ungeahnte Kräfte zu wecken. Jeanne d'Arc (1411–1431) aus dem lothringischen Domrémy stammend, war die Tochter eines ärmlichen Bauern, gänzlich unberührt von jeder Bildung und Weltkenntnis. Sie lebte während der nie zu einem Frieden gelangenden Kriege zwischen England und Frankreich, die als der Hundertjährige Krieg zusammengefasst werden. Es ging um die Existenz des selbstständigen Frankreich, das die englischen Könige seit 1341 zu weiten Teilen erobert hatten.

Gott und der Gottesmutter Maria erschien ein freies Frankreich heilsnotwenig. Sie erwählten sich daher die schlichte und gottesfürchtige Magd zum Werkzeug, um Wunder wirkend den König und sein Reich aus größter Gefahr zu retten – so verkündete es Jeanne d'Arc. Die Engländer und ihnen loyal ergebene Franzosen verfolgten sie hingegen als Hexe im Dienste Satans. Als solche wurde sie, in deren Hände gelangt, nach religiös verbrämten, aber politischen Prozessen verurteilt und am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1456 ließ König Karl VII. die gottbegnadete Heroine rehabilitieren, der er alles verdankte, die Sicherheit seines Thrones und des königlichen Staates, der sich von nun an als Nation konstituierte, von der Dynastie und mit göttlichem Segen geschaffen.

Zeugin einer göttlichen Sendung

Die einzelnen Begebenheiten des Lebens der Heiligen und glühenden Patriotin müssen hier nicht weiter interessieren. Die Jungfrau verstand sie als göttliche Botschaften, die einen Auftrag enthielten, dem sie gehorchte. Immerhin gelang es ihr, den französischen Truppen Mut zu machen und niedergeschlagene Gemüter mit Energien zu laden, die Wunder wirkten. Sie war die Zeugin dafür, dass Gott mit Frankreich und seinen Königen Besonderes vorhatte. Ihre Ergebenheit in den göttlichen Willen, ihr nationaler Kampf für die Größe Frankreichs und seiner Könige sowie ihr Glaube an deren Sendung lassen sich nicht voneinander trennen.

Unvergessen blieb der Grundsatz der Jungfrau von Orléans: „Wer Krieg gegen das heilige Königreich Frankreich führt, der führt Krieg gegen Jesus Christus.“ In diesem Sinne hieß es nun durch die Jahrhunderte, dass der König von Frankreich als Gottes Gefährte dessen ausführende Hand in seinem Weltregiment sei. Der Monarch bekam die Aufgaben und den Rang eines Propheten und Apostels zugewiesen, der als Arzt der Völker wirke wie der Heiland, die Wunden heilend, die Ungerechte und Machtgierige den Schwachen und Wehrlosen zufügten. Ganz erfüllt von der göttlichen Gerechtigkeit kommt er jedem Bedrängten und Verfolgten zu Hilfe. Als Schutzherr und Befreier aller Bedrückten nimmt er die Stelle Gottes auf Erden und des Retters der Welt ein, der alle Tyrannen niederwirft und den Völkern Frieden und Freiheit schenkt.

Diese Königsmystik des auserwählten heiligen Frankreich ließ sich mühelos säkularisieren. Die radikalen Republikaner während der Französischen Revolution beteuerten ununterbrochen, dass Frankreich allen Völkern um mindestens zweihundert Jahre voraus sei, weshalb es als der berufene Befreier von Knechtschaft diese zur Mündigkeit erziehen müsse. Unter der Monarchie seit dem späten Mittelalter wurden die französischen Könige gefeiert als die Lichtbringer, als gallischer Herkules, der weniger durch Kraft als durch überzeugende Beredsamkeit die zurückgebliebenen Völker humanisiere.

Ein derartiger Auftrag entsprach dem Selbstbewusstsein der radikalen Demokraten. Der muskulöse Herkules, der Inbegriff von Energie, Tüchtigkeit und Tugend, jetzt als Sinnbild der souveränen Nation, vertreibt mit seiner Keule sämtliche Mächte der Finsternis. Es war nicht mehr Gott, es war die Vernunft, die auf Frankreich angewiesen war, um sich wohltätig entfalten zu können. Alle Menschen sind gleich geboren. Aber sie bedürfen französischer Erziehung, um zu Menschen und vernünftig zu werden. Die französische Nation schlüpfte in die Rolle ihrer Könige, Prophet und Apostel zu sein.

Das Verhältnis zum Heiligen Römischen Reich

Mit ihrer Sakralisierung von Thron, Volk und Nation wandten sich die Jungfrau von Orléans und die französischen Könige auch gegen das Römische Reich, das auf die Deutschen übergegangen und wegen seiner Geschichte bis zurück nach Troja besonders hervorgehoben war. Auch das Römische Reich war ein heiliges, weil dazu ausersehen, die Römische Kirche und den Papst zu schützen. Doch die Kaiser und mit ihnen die Deutschen unterschieden sich als Erben Roms von den anderen Monarchen und Reichen vorzugsweise durch die Geschichte.

Dass die Götter und dann Christus Rom und den Römern, auch den deutschen Römern, wohlgesonnen waren, bedurfte keiner aufgeregten Beweise. Das bestätigte eine lange, einzigartige Geschichte, die den deutschen Königen als Römischen Kaisern einen Vorrang vor allen andern gewährte. Insofern kamen die Deutschen auch ohne aufgeladene Mythen, wie sie die Geschichte Jeanne d'Arcs für die Franzosen darstellt, aus. Zumal es die Partikularisierung den Deutschen ohnehin schwierig gemacht hätte, einheitliche nationale Mythen zu pflegen.

Schillers „Johanna“

Dies änderte sich um 1800, als sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in äußerster Gefahr befand und drohte, von den Franzosen beseitigt zu werden. Damals war Friedrich Schiller mit seinem tragischen Schauspiel „Die Jungfrau von Orléans“ beschäftigt. Schiller feierte die von der Idee des Vaterlands und der nationalen Ehre begeisterte Heldin, die alle in ihren Bann zog und Frankreich rettete. Er feierte sie, um Deutsche daran zu erinnern, alles daran zu setzen, die Ehre ihrer Nation nicht sträflich zu vernachlässigen.

Vaterland und Nation, diese Begriffe beziehen sich immer wieder auch auf die deutsche Gegenwart jener Zeit und auf ein Publikum, das alsbald Schiller und seiner „Jungfrau“ stürmischen Beifall klatschte. Mit der Ballade vom Grafen Habsburg beschwor der Dichter 1803 die alte Kaiserherrlichkeit, mit dem „Wilhelm Tell“ veranschaulichte er 1804, wie die Liebe zum Vaterland das Volk zum Protagonisten seiner Geschichte bilde. Schiller fürchtete den Untergang des Römischen Reiches und der politisch rechtlichen Ordnung der Deutschen. Dennoch durften seine Landsleute, wie er ihnen in einem Fragment gebliebenen Gedicht über deutsche Größe 1801 versicherte, voller Zuversicht bleiben.

Der Majestät der Deutschen kann der Machtverlust nichts haben. Deren Würde ist eine sittliche Größe. „Indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet. Dem, der den Geist bildet, muss zuletzt die Herrschaft werden.“ Das war eine stolze Antwort des französischen Ehrenbürgers Schiller auf den stolzen Anspruch der revolutionären Franzosen, die Menschen zum Menschen bilden zu müssen. Die Franzosen verbanden ihre besondere Aufgabe mit der politischen Nation, Schiller hingegen verkündete, dass deutsche Größe bestehen bleibe, selbst wenn das Reich zusammenbreche. Sie sei als geistige Kraft der Kern gebildeter, allgemeiner Menschlichkeit. Sie vollende sich am schönsten bei Deutschen, vom Weltgeist dazu bestimmt, alles aufzunehmen und in einem Kranz zu vereinen, was bei anderen Völkern blühte. „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit“.

Der Geist der Nationen

In seiner Auseinandersetzung mit der französischen Selbstermächtigung, auserwählt zu sein und die Völker zu führen, löste Schiller Ruhm, Ehre und Größe von den vergänglichen Formen in der Geschichte. Es ist der Geist, der wirkt und Leben schafft. Die Kunst, die Wissenschaft, das ewig Schöne verleihen einem Volk Vorzüge, die von Katastrophen unberührt bleiben. Das war während der französischen Besatzung nach 1806 zu einer allgemeinen Überzeugung unter den Deutschen geworden. In diesem Sinne beteuerten 1868 Richard Wagners Nürnberger auf der Festwiese: „Zerging in Dunst / das heil'ge römsche Reich / uns bliebe gleich die heil'ge deutsche Kunst“, die wie einst das Römische Reich die Menschheit vereint und verschönt.

Den politisch-theologischen Verheißungen der Jungfrau von Orléans und gläubiger Radikaldemokraten stellte Schiller eine nationale Idee zur Seite, die sich ästhetisch rechtfertigte und jeden einschloss, der über die Schönheit den Weg zur Freiheit suchte.

• Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehört u.a. „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).
eberhard-straub.de


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Kommentare

Chris Benthe am 08.06.20, 17:01 Uhr

Großartiger Artikel auf höchstem Niveau. Exemplarisch, lehrbuchwürdig. Dankeschön.

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