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„MeToo“ und die Folgen – Die ARD-Serie „37 Sekunden“ zeigt, wie schwer es ist, in Fällen von sexueller Gewalt Recht zu sprechen
Es ist eine Geschichte, wie sie öfter passiert, wenn zwei Menschen zusammenarbeiten und sich anziehend finden: Der verheiratete Liedermacher Carsten verliebt sich in die deutlich jüngere Rocksängerin Leonie, die Affäre ist so heftig wie emotional schwankend. Während der Geburtstagsfeier des populären Stars kommt es zu einem stürmischen Treffen und einer sexuellen Begegnung, die alle und alles zerstören wird.
Der Sechsteiler „37 Sekunden“ (15. und 22. August, jeweils drei Folgen ab 22.50 Uhr, Das Erste) trifft mitten hinein in die „MeToo“-Bewegung, die gelegentlich schrille Züge annimmt. So auch hier: Die Sachlage könnte unklarer nicht sein. Hat die junge Geliebte im entscheidenden Moment unmissverständlich „Nein“ gesagt oder eine Ablehnung nur halbherzig geflüstert? War es eine Vergewaltigung, wie sie später, angestachelt durch eine ehrgeizige Anwältin, behaupten wird – oder eben heftiger Sex eines Paares, das keinen Hehl aus seiner leidenschaftlichen Beziehung machte?
Was an zwei Fernsehabenden minutiös durchdekliniert wird, ist die Katastrophe, die aus einer höchst privaten Situation erwachsen kann, sofern diese erst vor Gericht zerpflückt wird. Da gibt es die Anwältin mit dem feministischen Impetus, die ihre von Selbstzweifeln geplagte Mandantin (Paula Kober) zunächst durch die medizinische Untersuchung und später durch das Sperrfeuer einer gerichtlichen Befragung treibt. Da ist die Ehefrau (Marie Lou Sellem), die die Eskapaden ihres Mannes bisher stillschweigend geduldet hat und nun gemeinsam mit ihm um seinen Ruf, seine Karriere und das gemeinsame komfortable Leben kämpft.
Und da ist vor allem beider Tochter Clara (Emily Cox, derzeit als Alma Mahler im Kino zu sehen), selbst Anwältin, die sich entscheiden muss, wem sie glauben soll – dem Vater oder der besten Freundin? Clara entscheidet sich für den Vater und sorgt nun ihrerseits dafür, dass die Lawine Fahrt aufnimmt.
Regisseurin Bettina Oberli ist deutlich darum bemüht, allen Aspekten dieses Geschlechterkrieges Rechnung zu tragen. Leider erlebt der Zuschauer die vielen Wendungen des Plots und die Befindlichkeiten des vorgeblichen Opfers zusehends als anstrengend. Sollte die Serie ein weiteres Plädoyer für das Recht einer Frau auf körperliche Unversehrtheit sein, so trifft der Film daneben. Zu sympathisch der Musiker, der von dem gebürtigen Dänen Jens Albinus als Liedermacher mit Skrupeln dargestellt wird. Zu unglaubwürdig die Haltung der aufstrebenden Sängerin, die dem Geliebten selbst bei der letzten Begegnung noch erotisch offensiv gegenübertritt. „Er hat mich vergewaltigt. Aber er hat mir keine Gewalt angetan“, sagt Leonie. „Kann man da was missverstehen?“ Ja. Kann man. Die Relevanz ihres Falles erscheint einfach gering im Vergleich zu Frauen, die tatsächlich brutal sexuell misshandelt werden und sich aus Angst oft nicht trauen, ihren Peiniger anzuzeigen.
Angebliche Missbrauchs-Fälle
Wie schwer die Meinungsbildung bei vermeintlichen sexuellen Übergriffen ausfällt, ist derzeit in den Schlagzeilen zu verfolgen. Seit Wochen polarisiert der Fall der Band Rammstein, die junge Frauen rekrutiert haben soll, um den Star hinter der Bühne zu treffen – sexuelle Begegnungen inbegriffen. Gegen Frontmann Till Lindemann wurde bisher keine Anklage erhoben.
Justitiabel wäre auch nicht die Einladung in den Backstage-Bereich oder in die Kabine des Rockstars, sondern der Einsatz von K.-o.-Tropfen, mit denen junge Frauen angeblich gefügig gemacht wurden. Bewiesen ist davon bisher nichts. Aber die Anschuldigungen zeigen Wirkung: Ähnlich wie im Film kommt es vor Rammstein-Konzerten zu Demonstrationen und Gegendemonstrationen. In einigen Städten wird ein Auftrittsverbot der Band diskutiert. Semper aliquid haeret, so ein lateinisches Sprichwort – irgendwas bleibt immer hängen, auch wenn der Fall nicht vor Gericht landet.
Das war in zwei anderen Fällen anders: Der US-Schauspieler Kevin Spacey musste sich gleich zweimal vor Gericht wegen sexuellen Missbrauchs verantworten – und wurde beide Male freigesprochen. Und das Stuttgarter Landgericht sprach jüngst den höchsten Polizisten Baden-Württembergs vom Vorwurf sexueller Nötigung frei. Eine Polizeikommissarin hatte ihn angezeigt, weil er sie ihrer Meinung nach mit dem Versprechen auf Beförderung sexuell erpresst habe. Auch hier hatte die Frau zunächst heftig mit dem Angeklagten geflirtet, was sogar von Kameras aufgezeichnet wurde. Trotz Freispruchs bleibt der Polizist jedenfalls bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert.
Nicht ohne Konsequenzen bleiben auch die 37 Sekunden Kontrollverlust, auf die sich der Titel der Serie bezieht. Sie zerstören am Ende eine Familie, eine Karriere und zumindest zwei Ehen: die des Sängers, der seine geduldige Frau und das Vertrauen seiner Tochter verliert, die ihren frisch angetrauten Ehemann mit einem Anwalt hintergeht, von dem sie sich einen fintenreichen Einsatz für ihren Vater erhofft.
Höhepunkt sind die Szenen vor Gericht, wo feministische Aktivistinnen auf Anhänger des Sängers treffen. Dessen Tour wird prompt abgesagt, worauf der am Boden zerstörte Mann eine Ode auf die „Cancel Culture“ schreibt. Deutliche Worte findet auch sein Manager (Martin Feifel), der ebenfalls vor Gericht vernommen wird. Heutzutage würden viele Männer in Führungspositionen sich weigern, mit einer Frau im selben Fahrstuhl zu fahren, murmelt der. „Ein Zwinkern, und du bist deinen Job los.“
Es gibt eine Schlüsselszene, die den Wust aus Widersprüchen auf Anhieb gelichtet hätte: „Nein“ schreit Leonie, als ein Kumpel sie nach einem Barbesuch küssen will und stößt den völlig verdutzten jungen Mann brüsk von sich. Und noch einmal, sehr laut: „Nein!“ Klare Kante, klare Grenze. Diese Haltung ist die einzig richtige, und niemand kann sie den Frauen abnehmen. Der Liedermacher wird im Film zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Aber irgendetwas wird hängenbleiben – lebenslang.