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Reiche Geschichte im Schatten der Schlote

Ein Deutscher bewahrt die sächsische Geschichte in der Woiwodschaft Niederschlesien

Chris W. Wagner
04.09.2020

Reichenau in Sachsen [Bogatynia] im äußersten Südwesten der Republik Polen an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland und zur Tschechischen Republik ist polenweit bekannt. Dort, im Stadtteil Türchau [Turoszów] wird großflächig Braunkohle gefördert. Riesige Bagger, nachts beleuchtet, lassen die Landschaft wie aus einem Science-Fiction-Film anmuten. Weil dieser Tagebau den Gemeinden im Dreistaateneck das Grundwasser entzieht, hatten Umweltaktivisten aus den drei Staaten für vergangenen Sonntag eine Protestaktion angekündigt. Laut Umweltschutzverbänden wird der Tagebau derzeit im Rahmen einer sechsjährigen Verlängerung der Bergbaulizenz betrieben, die ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und ohne ordnungsgemäße Umweltverträglichkeitsprüfung erfolgt sei.

Von dieser Aufregung merkte man am Tag zuvor in Reichenau nichts, als sich dort etwa ein Dutzend Geschichtsinteressierte einfanden, um auf einem Rundgang etwas über die Vorkriegsgeschichte der Stadt zu erfahren, die das Herz des sogenannten Reichenauer Zipfels bildet.

Durch Reichenau, wo das Eigenschaftswort „reich“ genauso im Stadtnamen vorkommt wie das gleichbedeutende polnische Wort „bogaty“ im polnischen Namen „Bogatynia“, führte Edward Semper. Der aus einer deutschen Familie in Petrikau (Piotrków Trybunalski) bei Lodz stammende Protestant kam 1963 nach Reichenau. Er bewahrte sich nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch seine Konfession. Da bereits 1947 die St.-Bartholomäus-Kirche katholisch wurde, haben die etwa acht deutschen, protestantischen Familien und wenige aus Zentralpolen zugezogene Gläubige ihre Gottesdienste in der einstigen Friedhofskapelle feiern müssen. So blieb es bis heute. Seit drei Jahren dürfen sich die Reichenauer Protestanten nun auch formal um den evangelischen Friedhof kümmern. Semper konnte Mitglieder seines Geschichtsvereins dazu motivieren, vor drei Jahren erste Aufräumarbeiten und Sanierungsversuche deutscher Grabsteine durchzuführen.

Stadtrundgang mit Edward Semper

Seinen Stadtrundgang begann der fröhliche Hobbyhistoriker mit der einstigen evangelischen Schule. Hierbei spitzte Beate Heintze aus Olbersdorf ganz besonders ihre Ohren, weil ihr Vater hier die Schulbank gedrückt hatte. „Auf Reichenau bin ich über meinen Urgroßvater gestoßen, der Comptorist (kaufmännischer Angestellter) beim Textilfabrikanten Preibisch war und in der Preibisch-Kolonie wohnte. Zu schade, dass die Hausnummern nicht mehr die alten sind, so kann man das Haus auch nicht mehr finden. Ich betrachte mich nicht unbedingt als Ahnenforscherin, aber man liest ja so viel über diese Zeit, und irgendwann fiel es mir auf, dass selbst meine Familie viel zu bieten hat“, so die Olbersdorferin, die zu DDR-Zeiten öfter mal Reichenau zum Einkaufen besuchte: „In einem der Fabrikgebäude war damals ein Kaufhaus, wo es schöne Sachen gab.“ Zum Rundgang hatte Heintze ihre Enkelin Luna mitgenommen. „Ich bin das erste Mal hier und ich finde es faszinierend, die alten Bauten zu sehen, wo mein Urururgroßvater gelebt hat.“

Textilfabrikant Preibisch habe viel Gutes für Reichenau getan, berichtet Semper, so den Bau des Kraftwerks und der Wasserversorgung. „Bereits im ersten Jahr wurden 92 Privathäuser angeschlossen und 34 Straßenhydranten installiert. Auf sein Betreiben wurde eine Gasgesellschaft gegründet, die wiederum die Straßenbeleuchtung übernahm. Mit seinem Vermögen unterstützte Preibisch die Pflege Bedürftiger und investierte in das Gesundheitswesen. Dank Preibisch wurde die Schmalspurbahn nach Zittau gebaut“, weiß er weiter zu berichten. Informationen zur Vorkriegsgeschichte gibt es auch im einstigen Bahnhof Reichenau. Dort haben Semper und seine Mitstreiter ein Museum eingerichtet. Es ist mittwochs und sonnabends von 16 bis 18 Uhr geöffnet. Anmelden kann man sich unter der Telefonnummer 0048/ 510275707.

Auch Bernd Treutmann-Iffland aus Zittau von der anderen Neißeseite weiß erstaunlich viel über Reichenau. Er hat keine familiären Beziehungen zur Stadt, aber viele Bekannte, die aus Reichenau vertrieben wurden. „Es muss ja wenigstens ein Teil der Geschichte an die nächste Generation weitergegeben werden. Wenn man jetzt die Älteren, die noch etwas wissen, nicht ausquetscht, dann geht ihr Wissen verloren“, befürchtet Treutmann-Iffland. Die Ausstellung „entKommen. Das Dreiländereck zwischen Vertreibung, Flucht und Ankunft“ in Zittau, in dessen Rahmen der Reichenau-Rundgang organisiert wird, habe er noch nicht besucht. Lieber erschließt er sich die Geschichte seiner Heimatregion selbst – durch Gespräche mit Zeitzeugen und Besuche jenseits der Neiße.


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Kommentare

Marilys Eschenbach am 05.09.20, 06:05 Uhr

Danke für den sehr interessanten Artikel über die „Deutsche Geschichte“. Es ist sehr gut über diese Dinge zu berichten, da die meisten – wie auch ich – praktisch nichts darüber wissen.
Bei „Textilfabrikant Preibisch habe viel Gutes für Reichenau getan“ habe ich nur gedacht: Damals gab es noch empathische Menschen und sogar auch empathische „Kapitalisten“.
Heute gibt es fast nur noch diese Egomanen, Globalisten und Narzissten - weltweit, die ihr Geld irgendwo bunkern. Und die Ladies heute müssen sich unbedingt eine Handtasche für 20.000 Euro kaufen. Die Luxusindustrie soll ja nicht verhungern. Aber irgendwann ist auch damit Schluss.

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