19.04.2024

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Ukrainekonflikt

Russland sucht seinen Weg

Zwischen Apathie und stillem Widerstand – Die Staatsmacht spielt mit der Angst der Bürger

Manuela Rosenthal-Kappi
08.11.2022

Spätestens seit der Teilmobilisierung ab Ende September dürfte selbst dem gutgläubigsten Russen klar geworden sein, dass Putins „militärische Spezialoperation“ in Wirklichkeit ein handfester Krieg ist, auch wenn das K-Wort öffentlich nicht ausgesprochen werden darf. Tausende Familien werden mit verwundeten und toten russischen Soldaten konfrontiert. Genaue Zahlen sind zwar nicht bekannt, Schätzungen gehen aber von 50.000 Gefallenen aus.

Die Kriegsrealität rückt immer deutlicher in den Blick der Bürger. Ob Fehler bei der Rekrutierung von Reservisten – Männer vom Greis bis zu solchen in wichtigen Positionen wurden einberufen –, mangelnde Ausbildung, fehlende Ausrüstung oder Misserfolge im Kriegsgebiet sowie negative Auswirkungen auf die Versorgung der Bürger – all das hat selbst treue Putin-Propagandisten zu medienwirksamen Auftritten im Staatsfernsehen veranlasst. Wladimir Solowjow, Putins Scharfmacher vom Sender Rossija 1, nahm das verbotene Wort in den Mund: „Ich habe keine Angst. Ich sage, das ist ein Krieg mit der NATO.“ Die bislang linientreue Chefredakteurin des Propagandasenders Russia Today, Margarita Semonjan, rückte mit Kritik an der Teilmobilisierung von der Regierung ab.

Nicht nur die Teilmobilmachung versetzt die Menschen in Angst und Schrecken, sondern auch deren Auswirkung auf die wirtschaftliche Lage. Verloren in den vergangenen zwei Jahren viele ihre Arbeitsplätze wegen der Corona-Krise und der Sanktionen des Westens, so kommt nun ein anderer Faktor hinzu. Familien fehlen durch die Rekrutierung von Männern im arbeitsfähigen Alter ihre Ernährer, Firmen ihre leistungsfähigsten Mitarbeiter. Die Zahl der freien Stellen hat sich verdoppelt. Arbeitgeber konkurrieren nicht nur untereineinander, sondern auch mit der Armee um Mitarbeiter. Vor allem die gefragte Altersgruppe zwischen 20 und 39 Jahren wurde entweder eingezogen oder ist geflüchtet. Viele kleinere und mittlere Unternehmen stecken in ernsten finanziellen Nöten.

Insgesamt befindet sich die russische Wirtschaft im Schockzustand. Die Beschaffungskosten sind wegen der Sanktionen und Warenknappheit um 20 bis 80 Prozent gestiegen. Die Regierung versucht, gegenzusteuern. Sie erließ eine Fristverlängerung für Steuerzahlungen, Sozialabgaben und ähnliche Pflichtabgaben. Bei Krediten gewähren Banken Tilgungspausen. Nach Vorstellung der Regierung soll die Wirtschaft ohne Unterbrechung funktionieren, doch die Realität sieht anders aus: Alexander Kalinin von „Opora Rossii“, einer Vereinigung kleiner und mittlerer Unternehmen, fragt, wie das möglich sein soll, wenn etwa in einem der führenden Landwirtschaftsbetriebe 80 Prozent der Traktoristen eingezogen wurden.

„Stiller Bürgerkrieg“

Für Putin könnte es in naher Zukunft eng werden. Mit der Teilmobilisierung hat er das Vertrauen der Bevölkerung verspielt und Angst gesät. Die Menschen reagieren unterschiedlich auf die aktuelle Situation. Die Mehrheit zieht sich ins Private zurück, viele verfallen in Apathie. Der Verbrauch von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln ist rasant gestiegen. Ähnlich wie zu Zeiten der Sowjetunion wächst das Denunziantentum – sogar Ehepartner zeigen sich gegenseitig wegen staatsfeindlicher Äußerungen an, und Priester brechen das Beichtgeheimnis.

Dennoch berichten Beobachter von einem „stillen Bürgerkrieg“. Im Untergrund rege sich Widerstand, der sich auf Dauer nicht verheimlichen oder unterdrücken lasse. Zahlreiche Regimegegner agieren aus dem Ausland, darunter auch kommunale Bezirksabgeordnete, die wegen ihrer Kritik fliehen mussten wie Vertreter der sozialliberalen Partei Jabloko.

Einige Aktivisten im Untergrund kleben Aufkleber und Plakate in Städten oder sprühen Graffiti. Sie schlagen die Regierung mit ihren eigenen Waffen, indem sie über gefälschte Konten in sozialen Medien Informationen streuen. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung bleibt aus Angst aber zurückhaltend. Die Menschen entwickelten individuelle Überlebensstrategien, so eine Aktivistin. Dennoch hegt sie Hoffnung auf eine Zeit nach Putin. „Ich sehe Russland in der Zukunft als einen normalen demokratischen Staat“, so die 38-jährige Ksenia Thorstrom, bis vor Kurzem Kommunalpolitikerin in St. Petersburg, in einem Interview.

Einige Abgeordnete in Moskau befürchten dagegen einen blutigen Bürgerkrieg, wenn sich Konflikte innerhalb der Elite Bahn brechen sollten. Der Menschenrechtsanwalt Mark Feygin, der die Band Pussy Riot vor Gericht vertrat, hält es für möglich, dass Söldner der Gruppe Wagner mit ihrem Anführer und Putinvertrauten Jewgenij Prigoschin und Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow auf der einen, und russische Armee und FSB-Eliten auf der anderen Seite um die Herrschaft streiten.

Militanter Widerstand war vereinzelt bei den Anschlägen auf verschiedene Wehrersatzämter zu beobachten. Die Widerstandsgruppe „Stoppt die Waggons!“, eine Anti-Kriegs-Gruppe, blockiert die Schienen wichtiger Bahnknotenpunkte in Moskau, St. Petersburg und nach Weißrussland, um den russischen Nachschub für die Truppen zu behindern. Weitere Widerstandsgruppen wie die „Nationale Republikanische Armee“ des im Kiewer Exil lebenden Ex-Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow und rechte Gruppen haben das Ziel, Putin zu stürzen.

Hoffnung machen Mitglieder der Nichtregierungsorganisation Memorial, die kürzlich den Friedensnobelpreis erhielt. Sie organisieren politische Spaziergänge in Moskau, weil offene Anti-Kriegs-Proteste verboten sind. Andere Bürgerrechtler leisten über soziale Netzwerke Aufklärungsarbeit. Im Netz gibt es Anleitungen, wie man per VPN die staatlichen Kontrollen oder Beschränkungen umgehen kann.


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Kommentare

E. Berger am 09.11.22, 23:04 Uhr

Zitat: "Die bislang linientreue Chefredakteurin des Propagandasenders Russia Today, Margarita Semonjan(richtig: Simonjan) " ...
Angesichts der absolut stromlinienförmigen Mainstream-Redaktionen hierzulande kommt mir diese Zuschreibung leicht überheblich vor.

Daniel Brandt am 09.11.22, 11:26 Uhr

Dieser Artikel ist schon sehr durch die westlich rosarote Brille eingetrübt. Nach meinen Informationen ist die westlich/liberale vom Westen finanzierte Opposition von der Größe eher zu vernachlässigen und Putin gilt in Russland eher als einer, der zu zögerlich ist, was die Sonderoperation in der Ukraine angeht. Ich glaube der Wunsch, dass Putin durch einen Regime-Change gestürzt wird, könnte sich als trügerisch erweisen, denn das was danach kommen würde, tendiert eher zu mehr Härte und Nationalismus, statt der gewünschten "demokratischen" Wende. Und der Westen und auch die Ukraine sind aufgrund der Unterdrückung Andersdenkender und "Abweichler" nicht gerade ein gute Vorbild für die russische Mehrheit. Man sollte hier erst einmal vor der eigenen Türe kehren, bevor man auf die angeblichen Missstände anderer Länder kritisiert.

Lutz Tröbitz am 08.11.22, 21:44 Uhr

Woher stammen den ihre brisanten Informationen? Bei den wenigen männlichen Russen führt die Teilmobilisierung von 300.000 natürlich total in ein unbeherrschbares wirtschaftliches Chaos? Führte dem Schreiberling da der Wunsch die Feder? Zur Zustimmung zu Putin gibt es übrigens von Westmedien(!!) Aussagen über >> 70%. Bisher haben mir die Recherche der PA richtig gutgetan - sie sind so einer der wenigen Inseln im Meer der gleichbenehmenden deutschen Medien. Bitte bleibt dem richtigem Journalismus treu!
VG LT

Kersti Wolnow am 08.11.22, 14:02 Uhr

Es liegt m.E. an der fehlenden Informtion. Putin hat seit 8 Jahren dieselbe Situation wie Adolf 20 Jahre lang nach dem verunglückten Versailler Diktat, in dem die mittelmacht , also das Deutsche Reich und Österreich um amputiert wurden zusammen mit den Ungarn und das Osmanische Reich im Sykes-Picot Vertrag . Bis heute gibt es deshalb im Nahen Osten keine Ruhe,
Die Sieger waren so feige, sie andere verwalten zu lassen, um als lachender Dritter dazustehen. Konflikte zwischen Deutschen und Polen wurden geschürt, die Polen verkannten sie Ernsthaftigkeit der Situation und wichen Verhandlungen über den Korridor genauso aus wie der ukrainische Clown über den Donbass oder die Krim. Sie ermordeten statt dessen wie die Ukrainer die Russen die Deutschen in den von ihnen verwalteten Gebieten. Bis dann hier wie dort krachte.
Einen Vergleich wagt auch Putin nicht, weil er bis heute nicht eingesteht, wofür Stalin die Menschen in den Krieg getrieben hat.
Es sind dieselben gobalen Kräfte, die am Krieg seit ewigen Zeiten verdienen und als globale Machthaber die Welt als Schachbrett ansehen, wo sie Völker hin- und herschieben wie sie heute Menschen wurzellos machen, um ihre Finanzblase noch zu halten.
Alle wissen es, aber keiner spricht es aus.

Ulrich Bohl am 08.11.22, 09:50 Uhr

Die Staatsmacht spielt mit der Angst der Bürger, die Themen und Arbeitsweise sind in Deutschland zwar
nicht identisch, aber in den letzten Jahren hat man
auch Politik durch Angstmacherei rechtfertigen
wollen. So fremd ist uns das nicht.

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