19.04.2024

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Historie

Schattenmann für heikle Missionen

Er wäre gern Außenminister geworden, stattdessen blieb er als Krisenmanager im Hintergrund. Hans-Jürgen Wischnewski war ein SPD-Urgestein und Vertrauter Helmut Schmidts. Dieser Tage wäre der in Allenstein Geborene 100 Jahre alt geworden

Holger Fuß
23.07.2022

Sein Spitzname kam von ganz oben. Es war SPD-Chef Willy Brandt, der Hans-Jürgen Wischnewski zu „Ben Wisch“ machte. „Ich habe mich über diesen Spitznamen nie geärgert“, bekennt Wischnewski später in seinen Memoiren. „Im Gegenteil. Ich war ein wenig stolz darauf und habe bald gelernt, dass es für einen Politiker nicht schlecht ist, einen Spitznamen zu haben, vor allem, wenn er sich zum ,Markenzeichen' entwickelt.“

Zu verdanken hatte er den Spitznamen seinen zahlreichen Kontakten in die arabische Welt. Sein Ruf eilte ihm voraus. Als der SPD-Politiker 1973 mit der israelischen Fluglinie El Al reiste, wollte ein israelischer Sicherheitsbeamter vor dem Abflug sein Gepäck inspizieren. Wischnewski verwies auf seinen Diplomatenpass, sodass der Security-Mann zögerte: „Oder sind Sie dieser Ben Wisch?“ Auf die Gepäckkontrolle wurde verzichtet.

Einsatz an vielen Fronten

Wischnewski wurde aber auch „Ben Tarif“ genannt, weil er beim Streik in der Druckindustrie vermittelte. Als Bundeschatzmeister der SPD galt er als „Ben Scheck“. Bei seinen Vermittlungsmissionen in Lateinamerika war er als „Comandante Hans“ bekannt. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nannte den weltweit tätigen Krisenmanager sogar „Troubleshooter Number One“. Wischnewski war Bundesminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt, Bundesbevollmächtigter in Berlin und zeitweilig stellvertretender SPD-Vorsitzender. Am 24. Juli wäre der „Staatsmann“, wie Helmut Schmidt seinen „guten Freund“ 2005 in seinem Nachruf nannte, 100 Jahre alt geworden.

Vollends berühmt machte Hans-Jürgen Wischnewski sein Einsatz in Mogadischu im Oktober 1977. Es war der Herbst des Terrorismus, in Intellektuellenkreisen später als „bleierne Zeit“ verharmlost. Sprengstoffattentate, Mordanschläge, Geiselnahmen, Entführungen hielten seit Jahren das Land in Atem. Am 5. September 1977 entführte ein Terror-Kommando der Rote Armee Fraktion (RAF) in Köln auf offener Straße den Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer. Sein Chauffeur und seine drei Personenschützer wurden dabei eiskalt erschossen. Die Entführer entkamen mit dem unverletzt gebliebenen Schleyer. Sie forderten die Freilassung von elf inhaftierten Kampfgenossen. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt weigerte sich, den Forderungen nachzukommen und sich dem Terror zu beugen. Schmidt ließ sogar einen Aktenvermerk anlegen: „Falls Frau Schmidt oder Herr Schmidt gekidnappt werden sollte, soll der Staat nicht austauschen.“

Stattdessen setzte eine fieberhafte Rasterfahndung ein, um Schleyer zu befreien. Wischnewski gehört damals als Staatsminister im Kanzleramt zum engsten Krisenstab um Schmidt. Als nach gut fünf Wochen Nervenkrieg am 13. Oktober die Lufthansa-Maschine „Landshut“ von palästinensischen Terroristen auf ihrem Flug von Mallorca nach Frankfurt entführt wurde und das „Kommando Martyr Halimeh“ ebenfalls die Freilassung jener RAF-Häftlinge aus deutschen Gefängnissen verlangten, begann für Wischnewski „die wohl schwierigste Mission in meinem Leben“.

An einem Freitagnachmittag ließ sich der Staatsminister vom Bundesfinanzminister zehn Millionen Mark in bar aushändigen: „Vielleicht eröffnete sich doch noch eine Möglichkeit, die Geiseln freizukaufen.“ Während die „Landshut durch den arabischen Luftraum irrte, um dann in Dubai aufzutanken und neue Verpflegung einzuladen, bestieg Wischnewski in Frankfurt mit einem Expertenteam eine Lufthansa-Maschine, um hinterher zu fliegen und die insgesamt 91 Geiseln zu retten. Schon bald war klar, „dass notfalls auch auf eine gewaltsame Befreiung der Geiseln hingearbeitet werden solle“, so Wischnewski in seinen Lebenserinnerungen. Dazu folgte eine Einheit der Antiterrortruppe GSG 9 in einer weiteren Maschine. Von Dubai ging es weiter nach Aden. Dort wurde der „Landshut“-Kapitän Jürgen Schumann vor den Augen der Passagiere erschossen. Anschließend flog die gekidnappte Maschine nach Mogadischu.

Die Nacht von Mogadischu

Sieben Stunden später landete auch Wischnewski in der Hauptstadt Somalias, wo er den Präsidenten Siad Barre zu überreden versuchte, einem Einsatz der deutschen GSG 9 auf seinem Territorium zuzustimmen. In der „Landshut“ stellten sich die Terroristen auf ein ergebnisloses Verstreichen des Ultimatums ein und übergossen die erschöpften Passagiere mit Spirituosen und Parfüms als Brandbeschleuniger beim Zünden ihrer Sprengsätze. Wischnewski bot sich selbst als Austauschgeisel an. Als sein Arabisch-Dolmetscher aus dem Auswärtigen Amt, Ghazi Twal, dies übersetzte, blieb dem fast das Herz stehen, denn er wusste, dass er gegebenenfalls mit Wischnewski hätte an Bord gehen müssen. Die Terroristen lehnte jedoch ab.

Kurz vor Ablauf des Ultimatums gab Siad Barre endlich seine Billigung für den GSG 9-Einsatz. Wischnewski musste Zeit schinden und flunkerte den Entführern vor, die deutschen RAF-Gefangenen seien auf dem Weg nach Mogadischu. Unterdessen bereitete GSG 9-Kommandeur Ulrich Wegner mit seinen Leuten den Sturm auf die „Landshut“ vor. Wischnewski war entschlossen, als Staatsminister zurückzutreten, wenn der Einsatz misslänge. Auch Helmut Schmidt hatte in Bonn ein eigenes Rücktrittsschreiben vorbereitet.

Um 2.07 Uhr Ortszeit am 18. Oktober begann die Operation „Feuerzauber“ der GSG 9. Wischnewski zog sich „außerhalb des Flughafengebäudes“ zurück, „wo mich niemand sehen konnte. Hier habe ich gebetet. Ich habe die Hilfe Gottes erbeten.“ Fünf Minuten später meldete die Sturmtruppe über Funk Vollzug: Von den vier Terroristen waren drei tot, eine Frau war schwer verwundet. Ein GSG 9-Beamter und einige Passagiere waren leicht verletzt. 108 Stunden Todesangst lagen hinter ihnen und den anderen Fluggästen. Als Wischnewski über eine wackelige Telefonleitung den Kanzler informierte, haben beide vor Erleichterung geweint.

Kindheit in Ostpreußen und Berlin

Hans-Jürgen Wischnewski kam 1922 im ostpreußischen Allenstein zur Welt. „Meine Mutter war eine echte Masurin, mein Vater stammte aus dem Ruhrgebiet, wo mein Großvater als Bergmann gearbeitet hatte“, erinnert er sich. Nach dem Ersten Weltkrieg war sein Vater in Ostpreußen geblieben und hatte dort seine Frau kennengelernt. 1927 zog die Familie nach Berlin, „wo mein Vater als Zollbeamter tätig war“. Eine Schwester kam hinzu, die Familie war zu „größter Sparsamkeit“ gezwungen. Trotzdem wurden beide Kinder aufs Gymnasium geschickt. Sie sollten es besser haben als die Eltern.

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, war der Junge zehn. Er wurde „Pimpf“, brachte es zum Jungzugführer. „1941 machte ich mein Abitur.“ Der Krieg war in vollem Gange, Wischnewski wurde zum Arbeitsdienst eingezogen und beim Straßenbau eingesetzt. „Im Winter 1941/42 erlitt ich leichte Erfrierungen an beiden Füßen.“ Bei Kriegsende war er 23, Oberleutnant der Reserve, zwei Mal leicht verwundet und mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet.

Das Leben hatte noch nicht richtig begonnen und doch hatte Wischnewski bereits den Schwindel gespürt, wenn einer in den Abgrund schaut.

Neuanfang als Gewerkschafter in einem zerstörten Land

In der Trümmerlandschaft Deutschland konnte es nur besser werden, und Hans-Jürgen Wischnewski wollte dabei sein. „Ich begann, mich aktiv am politischen Leben zu beteiligen.“ 1946 trat er in Straubing in die SPD ein. Seine Eltern lebten in Ost-Berlin, aber der Sohn wollte nicht den „neuen Abschnitt meines Lebens unter der Fuchtel Stalins beginnen“. Er jobbte in einer Landmaschinenfabrik und wollte in München Germanistik und Literaturgeschichte studieren. Stattdessen fielen ihm als Mitglied der IG Metall immer mehr Gewerkschaftsaufgaben zu. Schließlich entschied er sich für eine Ausbildung zum Gewerkschaftssekretär in Köln – und blieb in der Rheinmetropole. „Für mich ist Köln die Stadt aller Städte.“

Hier lernte er seine erste Frau kennen, zu drei Ehen hatte er es gebracht. Hier fand er seine politische Basis. Sein Wahlspruch: „Der Kölsche Klüngel ist eine gute Sache. Es ist nur schlecht, wenn man nicht dabei ist.“ 1957 bis 1968 war er Chef des SPD-Unterbezirks Köln, die Parteizentrale der Domstadt heißt heute Hans-Jürgen-Wischnewski-Haus/Ben-Wisch-Haus. 1959 bis 1961 war er erster Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Seit 1957 saß er für 33 Jahre im Deutschen Bundestag. Herbert Wehner, später „Zuchtmeister“ der Partei, begrüßte den Parlamentsneuling im Plenarsaal mit den Worten: „Hier musst du Arschloch heißen, wenn du nach vorne willst.“

Netzwerker und Strippenzieher

Wischnewski hat auch so alles erreicht. Gewiss half ihm sein Mangel an Eitelkeit, ein genialer Vermittler in Krisensituationen zu werden: „Es kommt in der Politik sehr darauf an, Konflikte rechtzeitig ohne öffentlichen Lärm zu lösen.“ Schon früh erkannte er den Stellenwert der Dritte-Welt-Länder, setzte sich für den Unabhängigkeitskampf der Algerier gegen die Franzosen ein und verwaltete zeitweilig in Köln die Kriegskasse der algerischen Befreiungsfront FLN. Dies verschaffte ihm Zugang und Vertrauen in der arabischen Welt, später auch in Lateinamerika.

„Das A und O sind Kontakte und Klima“, verriet er kurz vor seinem Tod in einem Interview. „Ich habe immer eines gemacht, ich bin zur anderen Seite gegangen und habe gesagt: Ich werde Ihnen mal sagen, wie Ihre Interessenlage ist. Und dann habe ich die sauber und korrekt vorgetragen. Das hat meist einen gewissen Eindruck gemacht.“ Wischnewski wäre gern Außenminister geworden, doch unter Brandt und Schmidt ging das Außenamt an die FDP. Also wurde der transkontinentale Netzwerker und Strippenzieher zu einer Art Schattenaußenminister, der fremde Staatschefs auch schon mal in seinem Privathaus empfing.

Lehren eines Sozialdemokraten

Wäre ein solcher Mann in der woke-opportunen SPD von heute denkbar? Eine Saskia Esken hätte Wischnewski wohl ausgelacht und ein paar Schnäpse in seiner Kölner Stammkneipe „Keule“ gekippt. Einem Lars Klingbeil hätte er wohl jenen „Brief an meinen Nachfolger“ in die Hand gedrückt, mit dem er seinen Memoirenband ausklingen lässt. „Du hast diese Schrecken der Vergangenheit nicht kennengelernt“, schreibt er an einen imaginären Adressaten. Aber es sei die „entscheidende Aufgabe, deinen Beitrag zu leisten, dass sich die Schrecken der Vergangenheit nie wiederholen.“

Es ist die Mahnung, sich auf Wesentliches zu konzentrieren, sich nicht im Komfortablen gemütlich zu machen, eine gewisse Spannkraft zu wahren, den Blick fürs Existenzielle zu behalten. Was tun, wenn Krieg ist? Was tun, wenn das Gas ausgeht? Was tun, wenn Not herrscht? Wer diese Fragen parat hält, kann auch über den Ausnahmezustand gebieten. Das ist vielleicht das Entscheidende, das einen Hans-Jürgen Wischnewski von zeitgenössischen Sozialdemokraten unterscheidet.

Und womöglich noch die Fähigkeit zur Selbstreflektion: „Sozialdemokraten neigen dazu“, so schreibt er in jenem Brief, „sich als bessere Menschen zu empfinden, weil sie unbestritten das Glück und Wohlergehen der großen Mehrheit anstreben und wollen. Aber das sagt noch nichts aus über die eigenen menschlichen Qualitäten.“ Können wir uns einen Olaf Scholz und einen Frank-Walter Steinmeier mit diesen Einsichten vorstellen?

• Holger Fuß ist Publizist und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und das Zeitgeschehen. 2019 erschien von ihm „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
www.m-vg.de


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Kommentare

Ralf Pöhling am 27.07.22, 17:21 Uhr

"Ben Wisch" ist das beste Beispiel für den wichtigen Strippenzieher und Problemlöser im Hintergrund, ohne den die Weltgeschichte anders verlaufen würde. Schwierige und komplexe Situationen sind das Fachgebiet von Spezialisten. Spezialisten sind aber nicht die, die der Wähler üblicherweise zu seinen Repräsentanten wählt. Er wählt ja Leute aus seinem eigenen, nicht spezialisierten Biotop und Spezialisten stellen nun mal nicht die Mehrheit im Volk, was den direkten Einstieg in den Apparat über die Demokratie erschwert. Also braucht es alternative Einstiegsmöglichkeiten, damit die Problemlöser den Repräsentanten des Volkes hilfreich unter die Arme greifen können.

Chris Benthe am 23.07.22, 15:04 Uhr

Toller Beitrag, informativ und bewegend, mit einem Tränchen im Auge. Tempi passati... Wir brauchen wieder solche Persönlichkeiten, sehr dringend.
Werden wir auch bekommen, aber erst nach hartem Kurs. Hoffen wir und erwarten das vorläufige Ende.

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