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Nach der ersten und während der zweiten deutschen Diktatur: Ernst Fraenkel im Jahr 1963
Foto: Ullstein BildNach der ersten und während der zweiten deutschen Diktatur: Ernst Fraenkel im Jahr 1963

DDR

Sowohl „Normenstaat“ als auch „Maßnahmenstaat“

Ernst Fraenkels vor 50 Jahren schließlich auch in deutscher Übersetzung erschienenes Standardwerk „Der Doppelstaat“ beschreibt nicht nur Deutschlands erste Diktatur, sondern zu großen Teilen auch dessen zweite

Heidrun Budde
08.11.2024

Der deutsch-amerikanische Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hinterließ uns mit seiner erstmals um die Jahreswende 1940/41 in den Vereinigten Staaten von Amerika unter dem Titel „The Dual State“ (Der Doppelstaat) erschienenen Studie über das Dritte Reich ein theoretisches Denkmodell, das helfen kann, die politische Grundstruktur des SED-Staates zu erfassen, ohne eine Gleichsetzung der Systeme vorzunehmen. Fraenkel unterschied im Nationalsozialismus zwischen dem die Gesetze achtenden „Normenstaat“ und einem nur dem politischen Willen verpflichteten „Maßnahmenstaat“. Er zeigt an unterschiedlichen Beispielen auf, dass jeder Lebenssachverhalt in die Kategorie „politisch“ kommen konnte und damit dem „Normenstaat“ entzogen wurde.

So verweist er auf die Verweigerung, einem emigrierten jüdischen Rechtsanwalt eine Geburtsurkunde auszustellen, obwohl das Gesetz über die Beurkundungen des Personenstands die Standesbeamten dazu verpflichtete. Er schreibt: „Daß allerdings unter den damaligen Verhältnissen die Versagung einer Geburtsurkunde für einen jüdischen Emigranten eine Frage von Leben und Tod werden konnte, weil ohne Geburtsurkunde kein Personalausweis zu erlangen war, macht sie in den Augen derjenigen zu einem ,politischen' Problem, für die sich ,Politik' im Freund-Feind-Verhältnis erschöpft.“

Auch in der DDR war die Ausstellung einer Geburtsurkunde ein völlig unpolitischer Vorgang. Die Bürger hatten ein Recht auf eine Ausstellung. Doch alles war bei geflohenen Deutschen anders, ohne dass jemand die politische Willkür nachlesen konnte. In der Ordnung Nr. 110/76 vom 12. April 1976 des Innenministers wurde der Urkundenverkehr mit Staaten geregelt, die keine diplomatischen oder konsularischen Beziehungen zur DDR hatten. Wurden von dort Geburtsurkunden für die geflohenen Deutschen angefordert, so konnte das erfolglos sein: „Eine Bearbeitung der Ersuchen hat nicht zu erfolgen, wenn im Anforderungsschreiben diskriminierende Staats-, Orts,- oder Funktionsbezeichnungen enthalten sind, der Verwendungszweck der Urkunde nicht angegeben ist oder der Verwendungszweck gegen die Interessen der DDR gerichtet ist.“ Die SED-Funktionäre praktizierten ein ähnliches „Freund-Feind-Verhältnis“. Sie konterkarierten mit den heimlich praktizierten Maßnahmen das Recht.

Verweigerung von Geburtsurkunden
Wer intensiv in den einstmals geheim gehaltenen Vorschriften der SED-Funktionäre forscht, erkennt verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus. Ein politisches System, das den „Antifaschismus“ zur „Staatsreligion“ erklärte, kopierte ohne Skrupel Vorschriften aus dem Vorgänger-Sozialismus, allerdings immer streng geheim.

Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ in Kraft gesetzt. Darin ist unter Paragraph 2 zu lesen: „Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, können der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben.“

20 Jahre nach Ende des NS-Regimes, am 30. Dezember 1965, erließ Innenminister Friedrich Dickel die Dienstvorschrift IX/12 über die Aufnahme und Kontrolle von Rückkehrern und Zuziehenden sowie über die Eingliederung in das gesellschaftliche Leben als „Vertrauliche Verschlußsache B 3/1-55/65“ mit ähnlichem Inhalt: „Die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik kann Rückkehrern ... aberkannt werden, wenn grobe Verletzungen der staatsbürgerlichen Pflichten vorliegen, insbesondere: ... wenn er während seines Aufenthaltes außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik – durch seine Handlungen die Deutsche Demokratische Republik schädigte oder ihre Sicherheit oder Interessen gefährdete; – in der Öffentlichkeit als Gegner gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht, gegen ihre Organe oder gegen gesellschaftliche Organisationen hetzte oder Tätlichkeiten begangen hat“.

Staatsangehörigkeitsaberkennung
Diese Verfahrensweise konnten sie 1965 nicht öffentlich machen, denn viele hätten sich noch an die dunkle Zeit davor erinnert. Der intern gewählte Wortlaut widersprach der offiziellen Rechtslage, denn die „DDR-Staatsbürgerschaft“ wurde erst am 20. Februar 1967 mit einem zweifelhaften Gesetz geschaffen. Intern spielten solche juristischen Fragen allerdings keine Rolle. Dickel führte in seiner geheimen Vorschrift von 1965 einen weiteren Grund für die Aberkennung der Staatsbürgerschaft auf, der sehr an den Nationalsozialismus erinnert: „Schädlingstätigkeit“. Am 15. Juli 1933 titelte der „Niederdeutsche Beobachter“ in der Schlagzeile: „Großtag der Regierungsarbeit. Das Ende des Parteienstaates gesetzlich verankert – keine Staatsangehörigkeit mehr für Landesverräter und eingewanderte Volksschädlinge“.

Die SED-Funktionäre kopierten Verfahrensweisen aus der NS-Zeit und stellten sich in der Öffentlichkeit ganz anders dar, denn am 18. Februar 1965 erließ Dickel gemeinsam mit dem damaligen Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph eine „Verordnung über die Eingliederung in das gesellschaftliche Leben von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, die vorübergehend ihren Wohnsitz außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik hatten“. Hier findet sich kein Wort von den zahlreichen, streng geheim geregelten Abweisungsgründen und der angeordneten mündlichen Ab­erkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie suggerierten der Öffentlichkeit, dass jeder Rückkehrer willkommen war. Wörtlich: „Damit diese Bürger im sozialistischen deutschen Staat schnell Anschluß an das gesellschaftliche Leben finden, ist ihnen Hilfe und Unterstützung zu gewähren.“ Es war das perfekt organisierte „Doppelgesicht“.

Einordnung als „Asoziale“
Diese zwiespältige Vorgehensweise findet man auch an anderer Stelle. Am 1. April 1975 wurde beispielsweise eine „Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger“ in Kraft gesetzt. Nach dieser Rechtsvorschrift waren Personen zu erfassen, die zur „Asozialität“ neigten und durch „arbeitsscheues Verhalten“ und „ständigen Alkoholmissbrauch“ auffielen. Politische Gründe waren nicht zu lesen. Doch bereits fünf Jahre früher, am 22. Oktober 1970, erließ Innenminister Dickel die Dienstvorschrift Nr. 31/70 „über Kontrolle von Personen durch die Deutsche Volkspolizei und das Organ Strafvollzug des Ministeriums des Innern“ als „Vertrauliche Verschlußsache I 020 291“. Unter Punkt 6 heißt es: „Es sind auch solche Bürger als kriminell gefährdete Personen unter Kontrolle zu stellen, bei denen Anträge zur Übersiedlung nach Westdeutschland, Westberlin oder nichtsozialistische Staaten abgelehnt wurden und bei denen Hinweise vorliegen, daß sie sich mit dieser Entscheidung nicht abfinden werden.“

Diese Anweisung erfolgte außerhalb der Rechtsvorschriften und war reine politische Willkür. Erfolglose Ausreiseantragsteller ins westliche Ausland, die nicht einmal eine Begründung der Entscheidung bekamen und auch keinen Rechtsschutz hatten, wurden „kriminell gefährdeten Bürgern“ gleichgestellt und damit in die Nähe der „Asozialität“ gerückt. Eine ähnlich willkürliche Einordnung von Deutschen als „Asoziale“ gab es im Nationalsozialismus.

Die Analyse des „Maßnahmenstaates“ in der DDR ist mühsam, denn nichts war öffentlich. Die politische Willkür wurde streng geheim und oft nur mündlich angewiesen, damit niemand den Beweis erbringen kann. Dennoch zeigen diese ersten Ergebnisse, dass weitere Nachforschungen unbedingt notwendig sind. Es ist falsch, solche vergleichenden Betrachtungen zu tabuisieren. Erst, wenn der ganze Umfang des „Maßnahmenstaates“ aufgedeckt wurde, zeigt sich das wahre Gesicht hinter der Fassade des SED-Staates.


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Kommentare

Patrick Bornheim am 11.11.24, 10:14 Uhr

Na, haben wir diesen Dual State nicht auch ? Es scheint ein Muster in der deutschen Politik zu sein zweierlei Massatäbe anzulegen. Thema: Illegale Migration. Die überwiegende Mehrzahl der hier eingedrungenen „Neubürger“ hat sich beim Überschreiten der Grenze strafbar gemacht. Indes, dies wird nicht verfolgt und geltendes Recht nicht beachtet, weil jemand in Berlin anders entschieden hat und die meisten willig Beihilfe leisten. Wo ist der Unterschied zum Nazi oder SED Staat? Die vorgeblich geäußerte Menschenfreundlichkeit? Der „länger hier schon lebende“ kommt nicht in den Genuss dieser sehr flexiblen Rechtsauslegung.

Kersti Wolnow am 09.11.24, 09:50 Uhr

dass jeder Lebenssachverhalt in die Kategorie „politisch“ kommen konnte
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Und so habe ich armes Schwein noch nie einen "Normalstaat" erleben dürfen, denn auch die bRD ist seit 1990 keiner mehr, wenn bestimmte Fragen und Themen zur deutschen Geschichte mit Gefängnis und § 130 bestraft werden.
In der dDR bin ich großartig nicht angeeckt, weil ich durch meinen Vater als Bezirksdirektor von Robotron und Parteigenosse indirekt geschützt wurde, aber schon meine Zurückhaltung bei politischen Themen reichte in der EOS aus, um mir trotz Einserzeugnis den gewünschten Studienplatz zu verweigern.

Und wenn ich mir die Maßnahmen bei Corona ins Gedächtnis rufe, ist die bRD schon lange ein Unrechtsstaat, nur wird diese Tatsache so wenig thematisiert wie seinerzeit in der dDR.
Meine Oma hat immer gesagt "Unter dem Kaiser war es am schönsten". Wahrscheinlich.

Gregor Scharf am 08.11.24, 12:51 Uhr

Was hier einmal mehr ans Licht kommt ist die Wesensgleichheit der eineiigen Zwillinge, genannt rote und braune Faschisten.
So wie es in den Landstrichen und Ortschaften aussah, so sieht es auch im Inneren dieser Typen aus, lebensfeindlich, alles erstickend.

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