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Mitbegründer der Bundesrepublik

Sozialer Demokrat und Patriot

Eine Erinnerung an Leben und Wirken Kurt Schumachers, der vor 125 Jahren im westpreußischen Culm geboren wurde

Peter Steinbach
07.10.2020

Kurt Schumacher gehörte zu denjenigen Politikern, die Deutschland zwischen Kaiserreich und Grundgesetz nachhaltig geprägt haben. Dies ist erstaunlich, da er niemals ein Regierungsamt innehatte. Eine ständige Herausforderung blieb für ihn zeitlebens das Verhältnis von Demokratie und Diktatur. Und immer griff er die großen Kontroversen seiner Zeit auf, die Verteidigung der Weimarer Verfassung, die Selbstbehauptung im Widerstand gegen das NS-Regime, die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945, die Aufarbeitung der NS-Zeit, die Entscheidung über die Westintegration – vor allem aber: die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die ihn der SED-Führung so verhasst machte.

Nicht immer siegte Schumacher; aber es gelang ihm, durch seine Standhaftigkeit die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland zu prägen und die SPD zu einer staatstragenden Partei zu machen, die die Teilung der Nation nicht akzeptieren sollte. „Auf dem Boden der Tatsachen stehend“ wollte er „sagen, was ist“. Deshalb sah Helmut Schmidt später in ihm neben Ferdinand Lasalle und August Bebel einen der Begründer der Sozialdemokratie.

Mit Schumacher endete auch die lange Phase, in der Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert worden waren. Zu erleben, dass seine SPD bundesdeutsche Regierungsverantwortung innehatte, war ihm allerdings nicht mehr vergönnt.

Immerhin prägten Sozialdemokraten die deutschen Länder und behaupteten sich im Westteil Berlins auf bemerkenswerte Weise und moralisch vorbildlich gegen die Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED. Kennzeichnend für die westdeutsche Sozialdemokratie in den frühen 50er Jahren war, dass Staat und Nation im Denken Schumachers und zunehmend auch der SPD eine ebenso wichtige Rolle einnahmen wie die Durchsetzung deutscher Interessen. Wilhelm Hennis, der noch als Mitarbeiter der SPD-Fraktion unter Schumacher gearbeitet hatte, erkannte den auf Schumacher zurückgehenden Wandel in der öffentlichen Wertschätzung der Sozialdemokratie. Er erinnerte sich: „Das ergreifende Trauerdefilee nach seinem Tod – Hunderttausende erwiesen ihm die Ehre auf dem Weg von Bonn nach Hannover – zeigte, daß das deutsche Volk ihn verstanden hatte und ihm zu danken wußte.“

Jugend im Ersten Weltkrieg

Seine spätere herausragende politische Rolle war Kurt Schumacher keinesfalls an der Wiege gesungen worden. Er wurde am 13. Oktober 1895 im westpreußischen Culm als einziges Kind einer linksliberalen und durchaus wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Vater Carl war Stadtverordnetenvorsteher und Kreistagsabgeordneter der Freisinnigen. Schumachers Geburtsort lag nahe der Grenze zum russischen Zarenreich und zugleich im Zentrum eines deutsch-polnischen Siedlungsgebietes. Bereits zwei Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich wie manch polnisch sprechender Mitschüler 18-jährig als Kriegsfreiwilliger. Gab es auch teilweise heftige deutsch-polnische Volkstumskonflikte, die ein „Bedrohungsgefühl“ verursachten und antipolnische Restriktionen nach sich zogen, so galt beiden Volksgruppen das Zarenreich als Hauptgegner.

Immerhin konnte Schumacher noch das Kriegsabitur ablegen. „Will, ruf ich aus, das Schicksal mit uns enden, so stirbt sich's schön, die Waffe in den Händen“, lautete das Thema seines Abituraufsatzes. Die antizaristische Überzeugung, die bereits Friedrich Engels im 19. Jahrhundert formuliert hatte, entsprach durchaus dem weitverbreiteten Denken der Sozialdemokratie und erklärte die wenig später erfolgte Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion.

Bereits vier Monate nach seiner freiwilligen Meldung zum Heeresdienst wurde Kurt Schumacher an der Ostfront bei Bielawy nahe Łowicz (deutsch: Lowitsch) schwer verwundet. Er verlor seinen rechten Arm, erkrankte anschließend schwer und wurde am 10. Oktober 1915 – ausgestattet mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse – aus dem Dienst entlassen.

Hinwendung zur Politik

Durch Kriegsdienst, Verwundung und Studium war die ursprüngliche Begeisterung des nationalistisch angehauchten Jugendlichen rasch vergangen. Im Laufe des Jahres 1917 rang er sich zu einer realistischen politischen Haltung durch, die das Ergebnis eigener Erfahrungen und Erwartungen war. Inwieweit ihn damals die sozialdemokratischen Diskussionen und Richtungskämpfe in Partei und Fraktion erreichten oder berührten, ist unbekannt. Schumacher orientierte sich damals an der Mehrheitsfraktion der SPD. Im Rückblick scheint ihm jedoch der Epocheneinschnitt bewusst geworden zu sein, der in seinen Augen eine Folge der „Missachtung des eigenen Volkes“ war und deutlich machte, in welchem Maße der Staat „seinen sittlichen Inhalt“ verloren hatte und zum Instrument der Macht geworden war.

Wer aber den Verlust des sittlichen Inhalts eines Staates beklagt, musste sich zuvor bereits Gedanken über dessen Rolle im Prozess der Kultivierung und Zivilisierung dieses Staates gemacht haben. Dies war ein zentrales Thema der Verfassungs- und Staatsphilosophie, die nicht nur Fragen der Staatsorganisation berührte, sondern auch der politischen Gerechtigkeit. Recht und Staat wurden damals zusammen gedacht; nun aber trennten sich in Schumachers Kritik am Obrigkeitsstaat diese Sphären. Der Staat hatte für ihn seinen „absoluten Charakter“ verloren. Damit war aber der „Kampf um demokratische Formen“, für die die Arbeiterbewegung seit ihrer Entstehung eingetreten war, auf eine neue Grundlage gestellt.

Mit der Hinwendung zur Sozialdemokratie sagte Schumacher endgültig dem überkommenen Staatsbild und damit dem Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches ab. Die Vertretung sozialer Interessen schien ihm fortan wichtiger zu sein als die Teilnahme an sterilen politischen Debatten über den weiteren Weg Deutschlands in der Endkriegsphase, die links von der USPD eine neue Gruppierung entstehen ließen: den Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Für Schumacher ging es nach 1918 darum, eine Welt zu schaffen, in der mit der Gerechtigkeit auch soziale Sicherheit und die Menschenwürde verwirklicht werden könnten. Das ließ sich nicht gegen, sondern nur mit dem neuen republikanischen Staat erreichen, allerdings unter der Voraussetzung, dass es gelang, aus dem Obrigkeitsstaat einen rechtsstaatlichen demokratischen Beteiligungsstaat zu machen. Deshalb bekannte er sich zur Weimarer Verfassungsordnung, suchte den Konflikt mit der politischen Rechten und den Kommunisten, propagierte eine frühe Form der Totalitarismustheorie.

Mitbegründer der Bundesrepublik

Diese Linie verfolgte Schumacher auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Noch vor der Kapitulation der Wehrmacht ergriff er im April 1945 die Initiative und begründete sein „Büro Schumacher“ in Hannover, das zum Nukleus der Nachkriegssozialdemokratie in den drei westlichen Besatzungszonen wurde.

Als Sprecher der westdeutschen SPD entwickelte Kurt Schumacher früh eine Magnet-Theorie, der zufolge der Westen Deutschlands so attraktiv werden sollte, dass er den Osten mit seinen Bewohnern magnetisch anzog. Später wurde diese Theorie allerdings Konrad Adenauer zugeschrieben, dem Schumacher, Gustav Heinemann und selbst der Christdemokrat Jakob Kaiser in den 50er Jahren vorgeworfen hatten, durch die Westorientierung die Teilung Deutschlands zu festigen. Schumacher ging dabei besonders weit, schmähte er den Bundeskanzler doch am 25. November 1949 bei der Bundestagsdebatte über das Petersberger Abkommen als „Kanzler der Alliierten“. Die Folge war ein sich über 20 Sitzungen erstreckendes Verbot der weiteren Teilnahme an den Plenarsitzungen. Das Verdikt gereichte Schumacher nicht zur Unehre.

Widerstand gegen die Kommunisten

Entschieden zeigte sich Schumacher auch in der Ablehnung der Kommunisten, die er angeblich schon in der Weimarer Zeit als „rotlackierte Nazis“ titulierte. Schon damals hatte er nicht nur die NSDAP, sondern auch die Generallinie der KPD bekämpft und deshalb an seiner doppelten politischen Abwehrfront antitotalitäre Schlagworte benutzt. Sozialdemokraten seien weder Hitlers Knechte noch Stalins Sklaven. 1945 lehnte er zwar keine Beteiligung der Kommunisten an einer möglichen Regierung ab, wohl aber eine politische Zusammenarbeit mit der SED. Die Stadtverordnetenwahlen in Berlin 1946 und die Erfahrung der im Laufe weniger Jahre nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED praktizierten massiven Unterdrückung der ostdeutschen Sozialdemokraten nach dieser „Zwangsvereinigung“ bestätigten ihn.

Den Anspruch der SED, am Konzept einer einheitlichen, wenngleich sozialistischen Nation festzuhalten, fand Schumacher nicht überzeugend; die entsprechende Passage in der ersten DDR-Verfassung von 1949 bestätigte sein Misstrauen. Bis zu seinem Tode am 20. August 1952 blieb Kurt Schumacher davon überzeugt, dass die Kommunisten um Ulbricht mit Billigung Stalins als „Spalter“ gewirkt und die deutsche Teilung zementiert hätten.

Streiter für die deutsche Einheit

Die Suche nach Wegen zur Überwindung der deutschen Teilung bestimmte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die politischen Debatten. Diese Suche wurde immer auch durch die Erfahrungen der Weimarer Republik geprägt. Dabei ging es nicht nur um West- oder Ostorientierung, sondern auch um die Rolle, die Deutschland in der Mitte Europas zu spielen hatte. Die Möglichkeit einer weitgehenden Westbindung belastete in den frühen 50er Jahren nicht zuletzt die CDU; dennoch stand vor allem Schumacher im Ruf, ein Skeptiker der Westintegration, sogar ein Nationalist zu sein. Dabei verwiesen viele Passagen seiner Nachkriegsreden auf eine westeuropäische Integration und die vorrangige Bedeutung gesicherter politischer Freiheit. Seine Betonung deutscher Interessen richtete sich als Ermahnung an die Siegermächte, politisch aber gegen „Moskau“ und „Pankow“.

+Wie Schumacher die weitere Entwicklung der Bundesrepublik begleitet hätte, lässt Raum für Spekulationen. Unbestreitbar ist, dass er auf den Augenblick gerichtete Taktiken ablehnte, die „europäische Idee praktisch zu einer propagandistischen Formel“ zu machen, und sich deshalb gegen „deutschnationale Zitate“ aussprach. Im Grunde aber zeigte sein Widerstand gegen Adenauers Europapolitik den Wunsch, die Integration parlamentarisch zu erörtern und abzusichern. Bei aller Kritik an seiner Person und an seinem manchen als ruppig, anderen als arrogant erscheinenden Umgangsstil: Schumacher war ebenso anerkannt wie er polarisierte.

Nach all den Jahren, in denen er durch den Druck und das Unrecht seiner Gegner zur Untätigkeit verdammt war, hatte er keine Zeit zu verlieren. Deshalb neigte er zu heftigen Reaktionen auf Argumente, die ihm nicht nachvollziehbar waren. wobei ihm klar war, dass, wer austeilte, auch einzustecken hatte. Polemisch attackiert zu werden und zugleich umstritten und umkämpft zu sein, ist das Schicksal eines Politikers, der sich – überdies in vordemoskopischen Zeiten – in seiner Partei, bei seinen Wählern und in der Politik durchsetzen musste. Dass Schumacher dies zumindest innerparteilich gelang, war ein Resultat seiner politischen Entschlossenheit und der Breite seiner politischen Interessen und sozialen Empathie, nicht zuletzt auch des Respekts, den er als Opfer des Terrors der Nationalsozialisten und als Ziel der antisozialdemokratischen Propaganda der Kommunisten gewann.

Kurt Schumacher blieb stets furchtlos und eigenwillig, sein „Nationalismus“ wurde vielfach nicht verstanden. Paul Sethe, der große Publizist, hielt ihn für einen großen Deutschen, der jedoch mit keinem einzigen Wort seine Nation über andere gestellt hätte. „Allerdings wollte er nicht, daß sein eigenes Volk ausgeschlossen würde von den Ideen und der internationalen Gerechtigkeit, die den Kern der demokratischen Ideenwelt bildet.“ Dem ist auch fast 70 Jahre nach seinem Tod nichts hinzuzufügen.

• Prof. Dr. Peter Steinbach lehrte Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Passau, Karlsruhe und Mannheim sowie an der FU Berlin. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.


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Kommentare

Michael Holz am 09.10.20, 09:10 Uhr

"Mit Schumacher endete auch die lange Phase, in der Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen" diffamiert worden waren."
Schumacher war zweifellos ein deutscher Patriot. Die SPD in der Anfangszeit der BRD war auch noch eine patriotische Partei. Die Diffamierung durch Bismark, der die damalige SPD für vaterlandslose Gesellen hielt, war damals Unrecht. Obwohl der Eiserne Kanzler für Deutschland ein Gewinn war, irrte er bezüglich der SPD.
Schauen wir uns die jetzige Partei unter der Führung zweier "Covidioten" an, kann einem das Grauen kommen. Die SPD ist nun zurecht eine Partei der vaterlandslosen Gesell*Innen. [Vermerk: Das Gendersternchen ist nicht meine Idee, trifft aber hier zu.]

sitra achra am 06.10.20, 18:00 Uhr

Auch ein Großer darf sich irren, denn Irren ist menschlich.
Schumacher verdient Respekt, auch wenn der Sozialdemokratismus ein historischer Holzweg ist.

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