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Wie eine Jugendgruppe mit einer spektakulären Aktion 1962 symbolisch gegen die Mauer ankämpfte
Der 13. August 1961 und der 9. November 1989 sind deutsche historische Symboltage. Am 13. August wurde die Berliner Mauer von Grenztruppen der DDR errichtet und am 9. November fiel sie durch die Bürger der Stadt. Über 60 Jahre nach ihrer Errichtung – sie wurde zu Recht im Volksmund „Schandmauer“ genannt – werden zeitgeschichtliche Rückblicke auf gewaltsame Anti-Mauer-Aktionen wieder wach. Diese Anschläge konnten zwar das trennende Monstrum nicht beseitigen, aber sie erinnerten die Deutschen in Ost und West an die widernatürliche Teilung ihres Vaterlandes. Einer der Köpfe dieser Gruppen, die kurz nach dem Mauerbau gewaltsam gegen sie vorgingen, war der damalige Schüler Volkmar Johannes Schneider-Merck.
Berlin 1962, ein paar Tage vor Weihnachten bei klirrender Kälte: Der ohrenbetäubende Knall eines Sprengsatzes an der Mauer platzt in die winterliche Stille der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember. Eine gewaltige Detonation hat kurz nach Mitternacht in der Zimmerstraße zwischen dem Checkpoint Charlie und dem Übergang Heinrich-Heine-Straße ein meterlanges Loch in die mit Hohlsteinen aufgeschichtete Mauer von ihrer Westseite gerissen. Da sie vom Osten kurz vorher mit Betonplatten verstärkt worden war, entwich die Druckwelle vollständig in den Westen der Stadt und zertrümmerte an die 2000 Fenster. „Mauer-Anschlag: Das ist Wahnsinn!“ titelte tags darauf die „B.Z.“ und kommentierte: „Die Täter mögen nicht glauben, irgendein Mensch in dieser geteilten Stadt hätte Achtung vor ihnen. Niemand! Niemand kann gutheißen, was da geschehen ist“. Und der damalige Stadtkommandant von West-Berlin, Generalmajor Albert Watson, verurteilte den Anschlag als „sinnlose und gefährliche Handlung“.
Doch es gab auch andere Stimmen. Viele in Ost und West reagierten mit Genugtuung und oft unverhohlener Sympathie, wenn Anschläge auf den „antifaschistischen Schutzwall“ erfolgten, so das Propaganda-Label der SED für ihr menschenverachtendes Bauwerk. Die vorweihnachtliche Gewaltaktion war ja nicht der einzige Fall. Schon im Mai 1962 gab es einen Sprengstoffanschlag. Die Akteure waren Berliner Ordnungshüter um den Polizisten Hans-Joachim Lazai. Darüber hinaus gab es vielfältige Formen des Widerstands in der geteilten Hauptstadt. So fanden beispielsweise unzählige Demonstrationen gegen die Mauer statt und Hilfsorganisationen bauten Fluchttunnel zwischen Ost und West.
Rückblick: Schon nach nur einem Jahr seit dem Mauerbau ließ das Interesse der Weltöffentlichkeit an der tödlichen Trennungslage in der historischen Hauptstadt der Deutschen nach. Das war noch 1948, zu Zeiten der Berlin-Blockade, ganz anders gewesen. Damals hatten noch „die Völker der Welt“, so der Hilferuf von Ernst Reuter in seiner berühmten Rede vor dem Reichstag, „auf diese Stadt“ geschaut. Inzwischen fehlte jedoch diese Unterstützung von außen. Die Großmächte hatten sich mit dem Status Quo arrangiert, weder die USA noch Großbritannien noch Frankreich forderten Moskau auf, die Mauer wieder abzureißen. Das sollte erst Jahrzehnte später durch US-Präsident Ronald Reagan erfolgen (O-Ton: „Tear down this wall!“). Die Einflusssphären des Ost-West-Konflikts waren zu Beginn der 1960er Jahre abgesteckt, und so gewann bei den Deutschen, insbesondere bei den Berlinern, das Gefühl die Oberhand, mit der Mauersituation allein gelassen zu sein. Auch gab es bei vielen die schleichende Angst, vom Westen aufgegeben zu werden.
„Wer sich mit der Mauer abfindet, ist kein Deutscher!“
In dieser Lage ergriff der damalige Hamburger Wirtschaftsoberschüler Volkmar Johannes Schneider-Merck mit Unterstützung einer kleinen Gruppe von Primanern aus Hamburg und Berlin die Initiative. „Wir Schüler entschlossen uns, etwas zu tun“, so Schneider-Merck heute im Rückblick auf ihren damaligen Handlungsdrang. Ausschlaggebend war für sie auch die Verkündigung von Bürgermeister Willy Brandt (SPD) im August 1961 vom Balkon des Schöneberger Rathauses: „Wer sich mit der Mauer abfindet, ist kein Deutscher!“ Das war das Leitmotiv, das die Gruppe zur Tat beflügelte. Auch der Auftrag, Deutschlands Einheit wiederherzustellen, festgelegt in die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik, spielte eine Rolle. Jugendgemäß schritten sie zur Tat mit Symbolaktionen und schreckten auch vor „Gewalt gegen Sachen“ nicht zurück.
„In den folgenden Monaten zündeten wir zum Beispiel hölzerne Wachtürme der Grenzpolizei der DDR bei Lauenburg an der Elbe an, aber das war erst der Anfang“, erinnert sich Schneider-Merck im Gespräch mit der PAZ. Es sei ihr großes Ziel gewesen, auf die Berliner Mauer einen spektakulären Sprengstoffanschlag durchzuführen, sie hätten ein Zeichen gegen die Teilung Berlins und Deutschlands setzen wollen. „Allerdings“, so Schneider-Merck, „waren wir sehr darauf bedacht, keine Menschenleben zu gefährden, auch nicht die Kameraden von der anderen Feldpostnummer. Wir waren eben die West-Goten von der anglo-amerikanischen Zone und auf der anderen Seite waren die Ost-Goten. Feinde waren die Sowjets!“
Ein Anschlag auf die Berliner Mauer, aber wie und mit welchen Mitteln? So ein gefährliches Unternehmen zu verwirklichen, dürfte für eine kleine Schülergruppe ein fast unüberwindbares Hindernis gewesen sein. „Das stimmt schon“, erläutert Schneider-Merck. „Doch der Zufall, günstige Beziehungen und ein starker Wille zur Tat spielten uns in die Hände!“
Es gelang ihm, zehn Kilogramm Plastiksprengstoff aus Australien zu besorgen und mithilfe eines Freundes, der als Schiffsingenieur zur See fuhr, das Material über Marseille nach Europa einzuführen. Von dort aus wurde es per Pkw nach Deutschland gebracht. Die letzte Station in der Beschaffungs- und Vorbereitungsphase waren dann praktische Übungen im Umgang mit Sprengstoff durch einen ehemaligen Pioniersoldaten der Wehrmacht. Er brachte den Jugendlichen in einer niedersächsischen Kleinstadt das nötige Know-how bei.
Nach Monaten war es dann im Winter 1962 endlich so weit: Schneider-Merck erinnert sich noch nach Jahrzehnten genau an den Tag und berichtet, immer noch sichtlich bewegt: „Ich schlich mich in der Tatnacht in einem schwarzen Trainingsanzug mit Kapuze ans Ende der Sackgasse an die Mauer und verkittete die Mauer, indem ich den Sprengstoff aus dem Wachspapier auswickelte und wie eine Knetmasse in die Fugen presste. Die Häuser dieses Straßenabschnitts waren unbewohnte Ruinen, die Querstraße im Westen lag etwa 75 Meter entfernt und gegenüber befand sich eine umzäunte Kohlenhalde. Alles war ziemlich dunkel, nur eine spärliche Straßenbeleuchtung erhellte den Tatort minimal.“
Mit der Zündung des Sprengsatzes nahm das explosive Geschehen dann seinen letzten Lauf. „Ich presste die Zündkapsel in die Sprengmasse, entzündete die Lunte, pustete ein wenig, um sicher zu sein, dass sie glimmte und platzierte das Ende in eine offene Dose. Dann stand ich auf und entfernte mich klopfenden Herzens, aber langsamen Schrittes und schlendernd von der Mauer. Ich war trotz der Kälte schweißgebadet“, so Schneider-Meck über die finalen Augenblicke vor dem Anschlag.
„Plötzlich erhellte ein mächtiger Blitz den Berliner Himmel“
Von einer Telefonzelle aus rief er die Polizei an, auch die „Bild“-Zeitung und die B.Z., informierte sie über die unmittelbar bevorstehende Sprengung und warnte vor einer Annäherung an dieses brisante Stück Mauer. Schneider-Merck und seine Gefolgsleute zogen sich auf einen nahegelegenen S-Bahnhof zurück und warteten das Geschehen ab. „Schon nach kurzer Zeit näherten sich mehrere Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene. Plötzlich erhellte ein mächtiger Blitz den Berliner Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donner, der die Stille der Nacht durchbrach. Wir hatten unser Ziel erreicht!“
Der Verfolgungsdruck auf Schneider-Merck und seine Mauer-Aktionisten sei nicht besonders stark gewesen, auch nicht seitens der Westalliierten in Berlin. Doch eineinhalb Jahre später kam es doch noch zu Verhaftungen: Ein Berliner Kamerad hatte 1964 am „Tag der deutschen Einheit“, der an den Volksaufstand in der DDR von 1953 erinnerte, versucht, mit dem ihm verbliebenen Sprengstoff in der Nähe des Brandenburger Tors erneut „sein Löchlein in die Mauer zu sprengen“, so Schneider-Merck und weiter: „Unvorsichtigerweise am hellen Tag. Dabei wurde er auf frischer Tat verhaftet und in Folge dann auch ich, allerdings nur kurzfristig, und ein weiterer Kamerad der Hamburger Gruppe.“ Alle Verfahren wurden später „wegen geringfügiger Verfehlung“ im Dezember 1965 eingestellt, einer kam mit einer zusätzlichen Geldstrafe von 200 D-Mark davon. Die ganze Sprengaktion ging also von der strafrechtlichen Seite relativ glimpflich aus.
Wie sieht er heute seinen damaligen waghalsigen Aktionismus? Da hätte ja vieles in der Vorbereitung und Durchführung mit Sprengstoff gefährlich schiefgehen können.
„Im Alter von knapp über 20 Jahren verdrängt man derartige Gefährdungen. Unser jugendlicher Tatendrang, etwas gegen die Schandmauer zu unternehmen und damit für die Einheit Deutschlands, war stärker. Gott sei Dank hatten wir Glück! Besonders glücklich bin ich vor allem darüber, dass beim Mauerfall und der Wiedervereinigung von West- und Mitteldeutschland kein Schuss fiel, es zu keinen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit war – in der Tat – eine friedliche Revolution!“