Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Gedanken über den Geist von Breslau als einer einzigartigen europäischen Stadt
Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Jeder anständige Berliner kommt aus Breslau.“
Als langjähriger Stadtpräsident von Breslau habe ich dieses Zitat umgedeutet und ich sage für die Gegenwart: „Jeder anständiger Berliner kommt nach Breslau.“
Wenn ich versuche, über Breslau zu erzählen, fallen mir viele Geschichten ein. Ich erzähle zum Beispiel über ein Buch, das berühmte Buch von Heinrichau. Über ein Dokument aus dem 13. Jahrhundert. Es ist mir gelungen, dieses 2015 in die UNESCO-Liste „Memory of the World“ einzuschreiben. Das Buch enthält den ersten in polnischer Sprache aufgeschriebenen Satz.
Das Buch von Heinrichau wurde nicht weit von Breslau entfernt verfasst. Es stellt eine Chronik dar, die von einem deutschen Mönch in Latein aufgeschrieben wurde. Der Mönch schildert die damalige Realität ordnende Ereignisse, und zwar nach dem Tatarenansturm, der damals diesen Teil Europas verwüstete. Der Mönch zitiert einen Satz eines böhmischen Bauern, der einst Ritter war und jetzt Bauer ist, der sich an seine polnische Gattin wendet: „Odpocznij, ja teraz za ciebie popracuję“, was sich ins Deutsche etwa mit „Lass mich jetzt arbeiten und ruh' dich aus“ übersetzen lässt. Deutscher Mönch. Latein – eine Verbindung mit Europa, viel mehr als Englisch für die heutige Welt. Und ein böhmischer ehemaliger Ritter im Gespräch mit seiner Gattin, einer Polin.
Sprechen über Breslau
Manchmal spreche ich über eine Skulptur von Theodor von Gossen. In Breslau gibt es zahlreiche Skulpturen dieses Autors. Ich erzähle über die Skulptur des Auferstandenen Christus. Eine kleine Gedenkstätte, die den im Ersten Weltkrieg gefallenen Absolventen des St. Matthias-Gymnasiums gewidmet wurde. Die Skulptur steht im Barockgarten des Breslauer Ossolineums, der prächtigen polnischen Nationalbibliothek, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Lemberg nach Breslau verlegt wurde. Ich glaube, im Jahre 2007, also 62 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben wir diesen Garten renoviert. Damals, 62 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben wir die Skulptur von Gossen in den Kriegstrümmern entdeckt.
In der Nähe des Gartens, von dem ich erzähle, befindet sich eine Kirche, gestiftet von Herzog Heinrich dem Frommen. Der Herzog, der 1241 in der Schlacht mit Tataren, beim – vorher von mir erwähnten – Tatarenansturm gefallen ist. Wir sprechen über eine asiatische Gewalt, die das damalige christliche Europa zerstören wollte. Der Herzog war der Sohn von Heinrich dem Bärtigen und der Heiligen Hedwig von Schlesien. Die aus Bayern stammende Heilige ist die Schutzpatronin sowohl von Schlesien als auch von Berlin. Nicht weit von dem Ort entfernt, an dem wir jetzt sind, steht die Berliner katholische St. Hedwigs-Kathedrale.
Ich komme jedoch auf die Kirche zurück, die von Herzog Heinrich dem Frommen in Breslau gestiftet wurde. Heutzutage wird sie als Kathedrale der ukrainischen Kirche genutzt. Eine schöne gotische, also westliche Kirche mit einer großartigen östlichen Ikonostase des polnischen Künstlers Jerzy Nowosielski. An das gotische Gotteshaus grenzt eine barocke Kapelle, eines der wichtigsten Denkmäler des schlesischen Barocks. Diese Kapelle wurde 1945 zerstört. Während der Bombardierung von Breslau. Zur Osterzeit. Wir haben diese 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus den Trümmern auferstehen lassen. Dank der Zusammenarbeit von Breslau mit der ukrainischen Kirche. Mit Hilfe von EU-Fördermitteln.
Ich möchte Ihnen Begegnungen zeigen: Osten mit Westen, Krieg mit Europa, das Heilige mit dem Barbarischen. Ich möchte Ihnen sagen: Das Gute gewinnt. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: Das Böse stirbt nicht. Das Böse kann vernichten und die Welt über Jahre hinweg verwüsten.
Wir sind also in Breslau. Wir erinnern uns an Ostern 1945. Die Stadt wurde dann zur „Festung Breslau“ („Twierdza Wrocław“) ernannt. Von Februar bis Mai 1945 sind in Breslau 170.000 Personen, nur Zivilpersonen umgekommen. 170.000 Personen. So viele wie in Hiroshima und Nagasaki! Die Tragödie des Krieges, eines gottlosen und unmenschlichen Krieges, forderte 170.000 Menschenleben in meiner Stadt, einer Stadt, mit der viele von Ihnen noch immer eine besondere Verbindung teilen, deren Nähe Sie nicht nur im geographischen Sinne noch immer spüren.
Stadt der Vertreibungen
Habe ich diese Tatsache geschildert, möchte ich Folgendes sagen: Ich bin zu Ihnen aus Breslau, einer Stadt der Vertreibungen gekommen. Breslau ist wahrscheinlich die einzige Großstadt der Welt, in der die Bevölkerung 100 Prozent ausgetauscht wurde. Eine grausame Ergänzung der soeben erwähnten tragischen Ereignisse war dies, was in meiner/unserer Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende geschehen ist. Der vollständige Bevölkerungsaustausch. Die deutschen Einwohner unserer Stadt wurden von dort vertrieben. An ihre Stelle sind die Polen gekommen, die teilweise auch aus ihren Häusern vertrieben wurden. Aus Lemberg, aus anderen Städten und Dörfern – aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten.
Die Stadt der Vertreibungen. Und die Stadt der Versöhnung.
Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 1965 wurde ein berühmter Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder verfasst. Der Brief, der den Weg zur deutsch-polnischen Versöhnung mitebnete. Der Brief mit den so schönen Worten: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Der Autor dieses Briefes ist der Breslauer Erzbischof, Kardinal Bolesław Kominek.
Kominek, ein Jahr später, 1966 gefragt, warum dieser Brief verfasst wurde, hat wie folgt geantwortet: „Die Sprechweise kann nicht nationalistisch sein, sondern muss europäisch in der tiefgreifendsten Bedeutung dieses Wortes sein. Europa ist die Zukunft – Nationalismen sind von gestern. (...) Eine Vertiefung der Diskussion darüber, eine föderative Lösung für alle Völker Europas zu schaffen, u. a. durch einen allmählichen Verzicht auf die nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit, der Wirtschaft und der Außenpolitik (ist außergewöhnlich wichtig) ...“
Ein Europa freier Nationen
Übersetzt man dieses Zitat in die heutige Sprache, würden wir sagen, dass die Europäische Union eine der besten Antworten unseres Kontinents auf die Tragödie des Zweiten Weltkriegs ist. Die Union existiert unter anderem aufgrund der Erinnerung und des Nachdenkens, die mit der Tatsache verbunden sind, dass dieser Krieg so viele Millionen Opfer gefordert hat.
Die Stärke der nationalen Vorstellungsverbindungen ist in der Menschheitsgeschichte so ausschlaggebend, dass sogar die linksorientierten Philosophen – wie etwa Habermas – bereit sind, Folgendes zu sagen: Würden die Nationalstaaten nicht entstehen, so müsste man sie erfinden. Die Gemeinschaft zieht aber immer weitere Kreise.
Die Nation ist eine gemeinschaftliche Stufe in der Entwicklung eines Menschen und der Menschheit. National geht mit international einher. Die Nation heute und in Zukunft kann sich nur übernational verwirklichen, in unserem Fall – im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.
Im Jahre 2018 haben sich rund 100.000 Ukrainer in Breslau niedergelassen. Sie sind hauptsächlich wegen der Arbeit gekommen. Im Jahre 2022 leben bereits 300.000 Ukrainer in Breslau. Früher sind die Familien oder Männer auf der Suche nach der Arbeit gekommen. Jetzt – vor allem Frauen mit Kindern. Sie wurden aus der Ukraine vertrieben, und zwar durch einen grausamen Krieg, den der russische Diktator gegen die Ukraine entfesselt hat.
Auf diese Weise wurde Breslau im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erneut zu einer Stadt der Vertreibungen. Ebenso wie viele andere polnische und europäische Städte, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Das Ausmaß des ukrainischen Exodus – unter Berücksichtigung derjenigen, die innerhalb des Landes umgezogen sind, und derjenigen, die ihre Heimat verlassen haben – liegt wahrscheinlich bei etwa fünf Millionen Menschen. Mit blutigen Gedanken und Taten hat der grausame Herrscher Russlands mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Er hat so vielen Ukrainern und Russen das Leben genommen.
Ich war vor Kurzem in Lemberg. Wir haben das dortige Militärkrankenhaus besucht. Ein etwa über dreißigjähriger verwundeter Soldat erzählte uns auf die Frage nach seiner Familie, dass seine Frau infolge der Kriegshandlungen umgekommen ist. Dann hat er uns ein Foto seines Sohnes auf seinem Handy gezeigt. Er weiß nicht, wo er ist. Irgendwo an oder hinter der Frontlinie. „Wenn es mir besser geht“, sagte der Soldat, „gehe ich an die Front. Um meinen Sohn zu finden und denjenigen zu bekämpfen, der meine Familie zerstört hat.“
In diesem Krankenhaus werden zahlreiche neurochirurgische Eingriffe durchgeführt. Das Krankenhaus verfügt jedoch nicht über ein Mikroskop, mit dem diese komplizierten Eingriffe präzise durchgeführt werden können. Wir sammeln derzeit Geld für ein solches Mikroskop. Wer die Aktion finanziell unterstützen möchte, kann dies gerne tun.
Die nächste Verwüstung
Ich spreche von humanitärer Hilfe. Ich will noch weiter gehen und sagen: Die Ukraine hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Europa und die Welt sind hingegen verpflichtet, die Ukraine zu unterstützen. Auch mit Waffenlieferungen.
Wenn ich Putin anschaue, denke ich, dass das Böse nicht stirbt. Was will dieser Verbrecher? Er kann nicht ertragen, dass eine Nation, der er das Recht auf eine eigene Identität abspricht, ihren eigenen demokratischen, pro-westlichen Entwicklungsweg wählen will. Putin will das sowjetische Imperium zurückschaffen – und in der Tat – die moderne Weltordnung niederreißen. Er führt also zu einer Situation, in der Russland unser gemeinsames Problem ist. Russland versucht, die Europäische Union zu destabilisieren und den Westen zu spalten.
Mein Freund Janusz Reiter hat es so formuliert: „Putin ist es wichtig, dass Russland gefürchtet wird. Wenn die Angst, die seine Politik auslöst, den Westen verunsichert und spaltet, wird das ein großer Erfolg für Putin.
Heute brauchen wir eine gemeinsame westliche Antwort auf die russische Aggression gegen die Ukraine und auf die russische Bedrohung Europas. Ohne Deutschland wird es diese Strategie nicht geben. Deutschland braucht die Europäische Union und die NATO. Mit aller Kraft, mit aller eigenen Kraft, werden sie weder politisch noch wirtschaftlich alleine zurechtkommen. Und in dieser grundsätzlichen Frage stimmen unsere (polnischen) Interessen mit denen Deutschlands überein. Und weil sie so sind, sollten wir mit ihnen arbeiten. Die Amerikaner würden sich freuen. Aus ihrer Sicht schwächt der Streit zwischen Polen und Deutschland nur die westliche Welt. Ich habe immer geglaubt, dass wir im Dreieck Polen-USA-Deutschland nach Möglichkeit zusammenarbeiten sollten.
Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Krieg eine Manifestation von Prozessen ist, die die Welt verändern können, und leider zum Schlechteren. Es herrscht Angst in Europa, die Menschen haben Angst vor Zukunft. Eine solche Stimmung ist erklärbar, aber ihre Folgen sind gefährlich. Sie fördert Spaltung und Misstrauen, sowohl innerhalb als auch zwischen einzelnen Ländern. Dies ist eine Krise, die die Grundfesten unserer Welt betrifft, und das bedeutet, dass wir äußerst verantwortungsbewusst sein müssen. Auch die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind aufgrund ihrer geografischen Lage und politischen Bedeutung in diesem Zusammenhang zu sehen.“
Ich stimme diesen Ansichten zu. Meine Meinung ist sogar noch ausgeprägter. Putin will die moderne Weltordnung erschüttern. Er will die Europäische Union schwächen. Er zögert nicht, Tausenden von Menschen das Leben zu nehmen. Putin will nicht nur die Ukraine. Seine Pläne gehen weit darüber hinaus ... Seine Gedanken und Handlungen sind verbrecherisch.
Es gibt ein schönes Gedicht aus dem 17. Jahrhundert, das ich Ihnen abschließend zitieren möchte:
„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn's eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ (John Donne, 1572–1631)
Verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst!
Am Ende meiner Rede möchte ich nun ganz kurz auf ein anderes Thema eingehen. Es geht nämlich um die Entscheidung der polnischen Regierung, die Finanzierung des muttersprachlichen Unterrichts für die deutsche Minderheit in Schlesien zu kürzen. Ich bin darüber einfach sehr beschämt.
Danke!
• Rafał Dutkiewicz war von 2002 bis 2018 Stadtpräsident von Breslau [Wrocław]. Der Text ist die leicht gekürzte Fassung seiner Rede anlässlich des diesjährigen Tags der Heimat in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin.
Die Spendenaktion für das in der Rede genannte Mikroskop wird von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen e.V. unterstützt. IBAN: DE53 8509 0000 3281 1110 00, BIC: GENODEF1DRS, VB Dresden-Bautzen Stichwort: Mikroskop
Chris Benthe am 20.09.22, 15:58 Uhr
Nur eins: angesichts der neuerlich polnischen Reparationsinszenierung, die nahtlos an die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts anknüpft, betrachte ich nunmehr Breslau als deutsches Gebiet, ebenso wie Südostpreußen, Hinterpommern und Westpreußen. Es gibt keinen Friedensvertag, und bei Verhandlungen würde nichts von den polnischen Forderungen übrigbleiben. Entweder Frieden und Ende der feindseligen Anwandlungen, oder Friedensverhandlungen und Rückgabe der deutschen Gebiete.