10.10.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden

Geschichtsseminar

Stationen der ostpreußischen Geschichte

Zum achten Mal lud die Landsmannschaft Ostpreußen historisch Interessierte nach Helmstedt ein

Andreas Galenski
05.10.2023

Zum achten Mal lud die Landsmannschaft Ostpreußen (LO) Interessierte zum Geschichtsseminar in die Politische Bildungsstätte Helmstedt vom 15. bis 17. September ein.

Unter der Überschrift „Stationen der ostpreußischen Geschichte“ hatte Seminarleiter Sebastian Husen ein abwechslungsreiches und attraktives Programm für die über 40 Teilnehmer zusammengestellt.

Die obligatorische Vorstellungsrunde zeigte den Querschnitt der Teilnehmer, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren, Jung und Alt, mit und ohne Bezug zu Ostpreußen, Ahnenforscher und Heimatinteressierte, Teilnehmer, die nicht zum ersten Mal in Helmstedt waren, und Neulinge.

Es gab nicht nur fesselnde Themen, außergewöhnlich waren auch die Lebenswege der Dozenten. So eine Ausnahmepersönlichkeit ist der Orgelbauer Jörg Naß. Er hat schon so manch eine Orgel aus der Bundesrepublik, wo sie nicht benötigt wurde, nach Ostpreußen gebracht. Umgepflanzt hat er aber auch einen Glockenturm samt Glocken aus Hamburg ins Memelland.

Naß stellte in seinem Vortrag den ostpreußischen Schriftsteller Johannes Bobrowski (1917–1965) vor. Dabei ging er auf Orte und Begebenheiten aus dem Leben des Lyrikers und Erzählers ein, über den die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller 1982 in einem Interview geäußert hat: „Der schafft Sprachbilder, wie ich sie sonst nirgends gelesen hab'. Das ist eine Sprache, die verwundet beim Lesen. Ich wär' sehr neugierig, wie lange Bobrowski an solch einem Text gearbeitet hat, weil bei ihm jedes Wort so weit in die Tiefe geht. Und wie er jedes dieser Wörter leben konnte, denn die sind gelebt, in allem, was sie sagen können.“

Bobrowski-Dauerausstellung
Bobrowskis literarischer Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, seine nachgelassene Bibliothek in den Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Doch die originalen Gegenstände aus Bobrowskis Berliner Arbeitszimmer wollte niemand haben, und so kam es, dass sich Naß dieser annahm. Eigenhändig baute er Vitrinen und Schaukästen, richtete Räume ein, bis die Bobrowski-Dauerausstellung im litauischen Willkischken 2013 entstand, wo sie sich bis heute befindet.

Den zweiten Seminartag eröffnete. Jürgen W. Schmidt mit dem Thema „Die Prußen in Ostpreußen – Neues aus Archäologie und Vorgeschichte der Namensgeber der Preußen“.

Die Prußen, nach der Eigenbezeichnung Prūsai, waren der baltische Volksstamm, auf den der geografische Name Preußen und der Name des Staates Preußen zurückgehen. Das Siedlungsgebiet der Prußen im 13. Jahrhundert lag an der Ostsee, etwa zwischen der Weichsel und der Memel. Von dem Volksstamm gibt es keine schriftlichen Zeugnisse, sodass man auf Quellentexte antiker und mittelalterlicher Chronisten und archäologische Funde angewiesen ist. Auch die Sprachwissenschaft ist sehr hilfreich, haben doch viele ostpreußische Orts- oder Flurnamen einen prußischen Ursprung.

Schmidt stellte auch die religiösen Praktiken des heidnischen Volkes vor. Sie glaubten wie die Christen an ein Fortleben nach dem Tode, jedoch ohne ihren sozialen Status aufzugeben, getreu dem Motto: „reich auf Erden – reich im Jenseits“. Eindruck auf die Zuhörer machte das durch Schmidt in prußischer Sprache vorgetragene Gebet Vaterunser. Sie leisteten bis zuletzt wehrhaft Widerstand gegen die Christianisierung und den Untergang der eigenen Kultur, doch sie unterlagen in einem 60 Jahre andauerndem Kampf dem Deutschen Orden. Im Jahr 1300 lebten noch 170.000 Prußen, die nach und nach mit den deutschen Neusiedlern verschmolzen. Was blieb, sind die unzähligen ostpreußischen Ortsnamen, Familiennamen und die Namensbezeichnung des Staates Preußen.

Tim Kunze vom Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg ist als Fach-Philosoph für den neuen Erweiterungsbau zum Thema Immanuel Kant und der Geist der Aufklärung verantwortlich. Doch nicht der große Königsberger Philosoph war Hauptperson seines Vortrags, sondern ein Zeitgenosse, Theodor Gottlieb von Hippel (1741–1796), der vergessene Feminist der deutschen Aufklärung. Der Oberbürgermeister und Stadtpräsident von Königsberg betätigte sich auch als satirischer Schriftsteller und Sozialkritiker. In seinen anonymen Veröffentlichungen „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ und „Über die Ehe“ setzte er sich für Frauenrechte ein. Die Dominanz des Mannes sah er geschichtlich begründet und vertrat die Ansicht, dass durch Bildung, Erziehung, Unterricht und Erfahrung Frauen eine gleichberechtigte Stellung erlangen können.

Nach der Mittagspause ging es ebenfalls in die Stadt am Pregel. Die Historikerin und Ausstellungskuratorin Mareike Schönle arbeitet an einem Projekt, das die Stadt Königsberg von der historischen Quelle in die dreidimensionale Museumserfahrung überführen soll. Solche dreidimensionalen Städtebilder sind unter anderem aus der ZDF-Reihe „Terra X“ bekannt. Die Grundlage für so eine virtuelle Stadtabbildung liefern Karten aus den Archiven und zahlreiche Fotos. Aber auch die Topografie der Stadt sowie Flora und Fauna fließen in die komplexen Arbeiten mit ein.

Eine enorme Rechnerleistung kommt hinzu, wenn Personen vollständig digital entstehen oder als Filmsequenzen mit Schauspielern in die Stadtkulisse eingebaut werden. Das Projekt ist Teil der Exposition Immanuel Kant und die offenen Fragen, die ab November 2023 in der Bundeskunsthalle Bonn gezeigt wird. Bei der Ausstellung handelt es sich um eine Kooperation mit dem Ostpreußischen Landesmuseum, wo das dreidimensionale Königsberg später in die neue Dauerausstellung „Immanuel Kant und der Geist der Aufklärung“ integriert wird.

Aufs Land entführte die Seminarteilnehmer Rechtsanwalt Lars Rosinsky. Er stellte das Gut Klein Gablick im Kreis Lötzen vor, das 1539 eine erste Erwähnung fand. Das am Gablick-Fluss gelegene Gut hatte im 19. Jahrhundert eine Größe von 758 Hektar und zwei Vorwerke. Neben statistischem Zahlenmaterial und geschichtlichen Angaben zeigte Rosinsky auch zahlreiche Bildaufnahmen des Gutes und der verschiedenen Besitzerfamilien. Zur Sprache kamen die technische Ausstattung mit Maschinen und Gerätschaften, die prächtigen Nutztiere, aber auch die sozialen Verhältnisse der Landbevölkerung. Anhand der Familie Rosteck wurde das Schicksal einer Landarbeiterfamilie nachgezeichnet, deren Angehörige bedingt durch Landflucht und Industrialisierung in Richtung Westfalen, Berlin, Bremen und Schleswig-Holstein abwanderten. Passend dazu war auch die Abendfilmvorführung, die das Thema der Landflucht aus Ostpreußen thematisierte. Die erste Folge der Serie „Die Pawlaks“ zeigte die Rekrutierung von Arbeitskräften in Ostpreußen für die Zechen des Ruhrgebietes in den 1870er Jahren.

Der letzte Tag des Seminars begann mit einem Vortrag von Jörn Barfod, dem langjährigen Kustos am Ostpreußischen Landesmuseum, der nach seiner Pensionierung für das Museum weiterhin ehrenamtlich tätig ist. Sein Thema: „Am eigenen Leib erlebt – Flüchtlingselend im Grafikwerk von Gertrud Lerbs-Bernecker“. Wie sehr die Begabung der jungen Künstlerin beeindruckt haben muss, zeigt, dass sie als Heinrich Wolffs Meisterschülerin an der Königsberger Kunstakademie als erste und einzige Frau ein Atelier betreiben durfte.

Flucht und Elend der Nachkriegszeit
Anhand von zahlreichen Lithografien und Kupferstichen zeigte Barfod das künstlerische Werk der Graphikerin, die häufig düstere Motive wählte. Sie war eine der intensivsten und produktivsten Künstlerinnen zum Thema Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Sie schilderte das Flüchtlingselend und die brutalen Zustände im Elend der ersten Nachkriegszeit. Ende der 1950er Jahre musste die Künstlerin wegen ihrer MS-Erkrankung ihr Schaffen aufgeben. 1963 wurde sie von der Landsmannschaft Ostpreußen mit dem Kulturpreis geehrt.

Nach jedem Vortrag gab es eine kurze Fragerunde, um bei dem interessierten Publikum das Thema abzurunden. Von dieser Möglichkeit wurde rege Gebrauch gemacht, was ganz oft neue Aspekte und Sichtweisen auf das Vortragsthema brachte. Die Chemnitzerin Ingrid Labuhn ergriff hier die Initiative und trug der Zuhörerschaft das selbst gedichtete und komponierte Lied „Heimatrecht im Leben“ vor. Auch nicht selbstverständlich, dass einer der Teilnehmer die übrigen mit original Königsberger Marzipan beschenkte – das gibt es nur beim Geschichtsseminar der Landsmannschaft Ostpreußen. Gemeinschaftsstiftend ist auch die am Seminarende von allen gesungene Landeshymne – das Ostpreußenlied.

Doch davor wurde noch das Schicksal der ostpreußischen Flüchtlinge in Dänemark von 1945 bis 1949 thematisiert. Der Referent John V. Jensen, Kurator beim Museumsverbund Varde, nahm den langen Weg von Dänemark auf sich, um in Helmstedt diese vielschichtige Materie vorzustellen. Mehr als 250.000 deutsche Flüchtlinge strandeten am Ende des Zweiten Weltkriegs in Dänemark. Es waren vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, denen in den letzten Kriegsmonaten die Flucht vor der heranrückenden Roten Armee nach Dänemark gelang. Sie kamen aus Ostpreußen (113.977), Danzig und Westpreußen (37.294), Pommern (24.307) und Brandenburg (4277).

Nach dem Abzug der deutschen Wehrmacht stritt sich Dänemark erbittert mit den Alliierten. Letztere verboten die Weiterreise der Menschen nach Deutschland. Die dänischen Behörden internierten die Flüchtlinge daraufhin in streng bewachten Lagern. Bis 1949 gab es davon mehr als 460. Das bei weitem größte entstand in Oksbøl an der Westküste Jütlands. Bis zu 36.000 Menschen lebten hier in Baracken auf einem ehemaligen Wehrmachtsstützpunkt. Die letzten Flüchtlinge verließen Dänemark erst im Februar 1949.
Das 2022 eröffnete Museum FLUGT in Oksbøl thematisiert neben den allgemeinen heutigen Fluchtbewegungen auch das Schicksal der zwischen 1945 und 1949 in Dänemark internierten Deutschen. Eine Erweiterung der Dauerausstellung zu diesem Aspekt kündigte der Referent an. Ergänzt wurden seine Ausführungen durch den Teilnehmer Frank-Martin Allies, der das entbehrungsreiche Lagerleben als Kind erlebt hatte. Seine Ausführungen begann er mit den Worten: „Mir braucht niemand zu sagen, was Angst und Hunger bedeuten, denn ich habe es erlebt.“ Zeitzeugen wie Allies bilden eine besondere Bereicherung für alle geschichtsinteressierten Seminarteilnehmer.

Das Seminar wurde durch Mittel der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien über das Kulturreferat am Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg gefördert.


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS