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Angeblich stehen wir vor einem folgenreichen „Kipp-Punkt“ – Doch der nähere Blick offenbart: Die Datenlage ist viel zu dünn für derart weitreichende Warnungen
Anfang August titelten viele Zeitungen hierzulande: „Forscher schlagen Alarm! Golfstrom-Wandel bedroht Klima in Europa“, „Der Golfstrom schwächelt – mit fatalen Folgen für das Klima“ oder „Atlantik-Strömung kurz vor Abbruch. Verschärft sich die Klima-Lage jetzt noch mehr?“ Wonach dann auch stets der Hinweis folgte, dass dieses Phänomen „mit dem menschengemachten Klimawandel in Verbindung“ stehe.
Auslöser für die Kassandrarufe war ein gerade erschienener Aufsatz von Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) im Fachmagazin „Nature Climate Change“ mit dem Titel „Observation-based early-warning signals for a collapse of the Atlantic Meridional Overturning Circulation“ (Auf Beobachtungen beruhende Frühwarnsignale für einen Zusammenbruch der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation). Dieses meist nur abgekürzt AMOC genannte Strömungssystem, zu dem auch der Golfstrom gehört, resultiert aus dem Sog, der entsteht, wenn warmes Oberflächenwasser aus den Tropen in solchen Bereichen des Nordatlantiks wie der Labradorsee oder dem Europäischen Nordmeer kälter und somit dichter wird und dadurch zum Meeresboden absinkt.
System ist nicht vollkommen stabil
Veränderungen der AMOC gelten ebenso wie der Schwund des Grönland-Eises oder des Amazonas-Regenwaldes als „Kippelemente des Erdklimas“: Ihre Abschwächung oder gar ihr vollständiger Kollaps würde zumindest überproportional dramatische Folgen zeitigen. So beispielsweise extreme Kälteperioden in manchen Regionen Nordamerikas und Europas sowie Störungen der saisonalen Monsunregen, welche einen Großteil der Weltbevölkerung mit Wasser versorgen. Und nach Meinung mancher Forscher wie Johan Rockström vom Stockholm Resilience Centre könnte der Ausfall der AMOC dann sogar einen Dominoeffekt auslösen und das gesamte globale Klima verändern.
Tatsächlich nahm die Stärke der AMOC in den vergangenen Jahrzehnten ab, wofür Boers unter anderem schmelzendes Meereis und wachsende Süßwasserzuflüsse in die Ozeane durch größere Niederschlagsmengen verantwortlich macht. Allerdings stellt sich die Frage, ob die AMOC und damit auch der Golfstrom deshalb vor dem Kollaps stehen, wie der Potsdamer Klimaforscher den Pressemeldungen zufolge verkündet haben soll.
Als Antwort ist zunächst ein Blick auf die Methodik von Boers nötig. Dessen Prognose beruht auf theoretischen Annahmen über dynamische Systeme, wie die AMOC eines ist: Wenn diese sich kurz davor befinden, in einen anderen Zustand umzukippen, gibt es auffällige Schwankungen bei wichtigen Parametern, welche für die sogenannte „Kritische Verlangsamung“ stehen. Das muss man sich so vorstellen: Dynamische Systeme sind nie vollkommen im Gleichgewicht, können aber dennoch stabil sein. Wie, wenn eine Kugel im Innern einer beweglichen Schale hin und her rollt. Instabil wird das Ganze erst, wenn die Schräglage der Schale so groß ist, dass die Kugel herauszufallen droht. Als „Kritische Verlangsamung“ würde dann ein Zustand gelten, bei dem sich die Kugel immer öfter dem Schalenrand nähert und immer seltener zum Schalenboden zurückkehrt.
Und dies sei bei der AMOC möglicherweise im übertragenen Sinne der Fall, meint Boers: Acht signifikante „AMOC-Indizes, ... die auf Beobachtungsdaten der Meeresoberflächentemperatur und des Salzgehalts aus dem gesamten Atlantikbecken basieren“, legten nahe, „dass sich die AMOC im Laufe des letzten Jahrhunderts von relativ stabilen Bedingungen zu einem Punkt nahe einem kritischen Übergang entwickelt haben könnte.“
Grobkörnige Momentaufnahmen
Boers' Prognose fiel also keineswegs so eindeutig aus, wie die meisten Medien hierzulande behaupteten. Und mit dieser Vorsicht war der Physiker auch gut beraten, denn die Klimaforscher und Ozeanologen wissen bislang noch sehr viel weniger über die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation als die Panikmacher wahrhaben wollen. Wann beispielsweise begann denn nun die Abschwächung der AMOC? Um 1850, wie manche vermuten, oder doch eher 1950, wie andere sagen? Und stimmt eigentlich die Annahme der Wissenschaftler des PIK, dass die AMOC in den vergangenen 1000 Jahren nie kraftloser gewesen sei als heute?
Immerhin werden systematische direkte Messungen im Bereich der atlantischen Zirkulation erst seit 2004 durchgeführt. Ebenso weiß niemand wirklich genau, was innerhalb des verzweigten Strömungssystems in den verschiedenen Meerestiefen tatsächlich im Einzelnen passiert. Jüngere Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Tillys Petit von der School of Earth and Atmospheric Sciences des Georgia Institut of Technology, deren Ergebnisse im November 2020 in den „Geophysical Research Letters“ veröffentlicht wurden, erbrachten jedenfalls das Ergebnis, dass die Verhältnisse in der Labrador-See eine sehr viel geringere Rolle spielen als bisher angenommen.
Der springende Punkt ist allerdings, ob die aktuell eher unterdurchschnittliche Intensität der AMOC noch im Rahmen des Normalzustands des Zirkulationssystems liegt oder nicht, denn Schwankungen innerhalb desselben sind keineswegs schon Grund zur Sorge. Diese gab es während der derzeitigen Stabilitätsphase nach dem Ende der jüngsten Kaltzeit in reichlichem Maße, ohne dass daraus ein „Umkippen“ beziehungsweise „Kollaps“ resultierte.
Modellrechnungen von Mitarbeitern des Max-Planck-Institutes für Meteorologie in Hamburg um Johann Jungclaus zufolge würde auch eine Abschwächung der AMOC im Verlaufe des 21. Jahrhunderts um 30 bis 40 Prozent keinen Zusammenbruch der Umwälzbewegung auslösen. Aber letztlich helfen selbst die besten Klimasimulationen hier nicht weiter, weil einfach zu viele Basisdaten hinsichtlich der zentralen Parameter fehlen, obwohl in jüngster Zeit auch Satelliten zur Verfolgung der Meeresströmung eingesetzt wurden.
Alles, was die Klimaforscher und Ozeanologen bislang liefern konnten, waren diverse, zu verschiedenen Zeiten gemachte grobkörnige Momentaufnahmen vom Zustand der AMOC. Und diese erlauben keine Aussagen darüber, ob der angeblich vom Menschen gemachte Klimawandel das Umwälzsystem irgendwie nennenswert beeinflusst.