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Geschichte und Gesellschaft

Stiefkinder der Nachkriegszeit

Eine beeindruckende Studie zeigt die Ambivalenz der praktizierten Solidarität der Vertriebenenpolitik in der frühen bundesrepublikanischen Gesellschaft

Peter Steinbach
24.01.2021

Wie schwierig der Wiederaufbau eines zerstörten Landes sein kann, haben wir mit dem Krieg im Irak, in Afghanistan und in Syrien erfahren. Vertreibungen und Zerstörungen waren dort eine bestürzende Verbindung eingegangen – und hatten Erinnerungen an das Kriegsende 1945 in Deutschland und Europa geweckt. Zu den Folgen eines Krieges gehört auch, wie die Gegensätze zwischen den Kriegsopfern und den relativ unbehelligten Zeitgenossen in Einklang gebracht werden können. Dieser Frage widmet sich eine neue profunde Studie des Historikers Manfred Kittel über die deutschen Heimatvertriebenen, die ihre Hauptthese bereits im Titel spiegelt: „Stiefkinder des Wirtschaftswunders“. Die Arbeit erinnert an die gemeinsamen Anstrengungen des „Lastenausgleichs“, der zumindest für einige Jahre das von fast allen politischen Parteien geteilte Ziel war, die Folgen für die vom Kriege besonders schwer getroffenen Ostdeutschen zu bewältigen.

Ungleiche Verteilung der Kriegsfolgen

Die Regelung des „Lastenausgleichs“ für die vom Zweiten Weltkrieg besonders hart getroffenen Landsleute gehört heute zu den großen Leistungen der westdeutschen Sozialpolitik. Kittel erinnert mit seiner Arbeit jedoch daran, dass die Anfangsjahre der Bundesrepublik keineswegs eine von selbst laufende Erfolgsgeschichte waren. Die Etablierung von Ordnungen, auch und gerade von Solidarordnungen, ist oft das Ergebnis eines konfliktreichen Prozesses. Und so zeigt Kittel, dass die praktizierte Solidarität der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht die Folge eines vielfach betonten Patriotismus war, sondern dass sie sich gegen zahlreiche Egoismen durchsetzen musste, die wiederum Folge einer denkbar schwierigen Situation der damaligen deutschen Zusammenbruchsgesellschaft und des Sozialneids waren.

Von Beginn an war klar, dass die Deutschen sehr unterschiedlich unter den Kriegsfolgen litten. Zwar waren in allen Landesteilen Wohnungen zerstört, Vermögen vernichtet und Ernährer der Familien im Krieg geblieben, doch traf es die Bewohner der östlichen Landesteile jenseits von Oder und Neiße besonders hart. Für sie kam zu den allgemeinen Kriegsschäden die Vertreibung von Grund und Boden sowie der Verlust der Heimat.

Dass erst Jahre nach Gründung der Republik über die Frage nachgedacht wurde, wie die Lasten der Kriegsfolgeschäden verteilt werden könnten, lag keinesfalls an fehlender Empathie der nicht durch Flucht und Vertreibung betroffenen Zeitgenossen. Vielmehr hatten auch sie sich einzurichten, hatten auch sie den harten Winter 1946 mit Hochwasser und langem Frost zu bewältigen, sorgten auch sie sich um ihre Kriegsgefangenen, wussten auch sie nicht, wie die Kriegerwitwen und Kriegswaisen versorgt werden konnten. Mit den Vertriebenen musste die Not geteilt werden. Willkommenskultur setzt Wohlstand voraus. So kamen viele Flüchtlinge aus dem Osten zunächst in Kellerwohnungen, Trümmerhäusern, Nissenhütten und Kasernen unter.

Die Realität von Flucht und Vertreibung, des Verlustes aller Sicherheit bildet den wichtigen, gewöhnlich zu wenig verdeutlichten Hintergrund dieser hochgelehrten, bestens dokumentierten Studie über die Lastenausgleichspolitik, die Kittel „im Schnittfeld zwischen spezifischer Vertriebenen- und allgemeiner Sozialpolitik“ verortet. Ausführlich widmet er sich politischen Initiativen, dem Agieren der Interessengruppen und ihrer Funktionsträger sowie den zahlreichen Kontroversen. Zur Not der Menschen aus dem Osten gehört auch ihre lange gehegte Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat, die von den Politikern der Bonner Bundesrepublik aufgegriffen wurde. Es war ein schmerzhafter Prozess langsam gereifter Einsicht, dass diese Hoffnungen unrealisierbar bleiben mussten. Denn die Verantwortung für Deutschland als Ganzes hatten die Siegermächte, die zwar ihre jeweiligen Ziele verfolgten, aber eine Gemeinsamkeit hatten: Deutschland nicht zu stark werden zu lassen.

Überzeugend zeichnet Kittel die Debatte über die zu gewährenden Ausgleichsleistungen nach, die Differenzierung der Schäden. Diese konnten Ausbildungs- und Unterhaltshilfen, aber auch Wohnungsbauförderung bedeuten, wurden in der Öffentlichkeit aber vor allem als Entschädigung von Vermögens- und Besitzverlusten wahrgenommen. Dies vor allem weckte nicht selten den Neid der Einheimischen, der sich allerdings in gleicher Weise an der Wiedergutmachung des NS-Unrechts entzünden konnte. Kittel schildert auch die Entstehung der „Ausgleichsbürokratie“ und veranschaulicht die Langwierigkeit der Prozesse und Maßnahmen an 28 Novellierungen des Lastenausgleichsgesetzes im Zeitraum von 1952 bis 1975.

Politische Auseinandersetzungen

Im Hauptteil der Studie skizziert Kittel umfangreich, aus den Quellen gearbeitet und bis in Details parlamentarischer Verhandlungen hineinschauend das dramatische Ringen zwischen den verschiedenen und keineswegs immer einheitlich agierenden Interessengruppen. Mit der Stimmenmacht der Vertriebenen waren parteipolitisch abgesicherte Erfolge zu erzielen, waren die Amtsträger in der Lage, politische Daumenschrauben anzulegen, mit Parteiaustritt oder -übertritt zu drohen.

Die beste Interessenvertretung fanden die Vertriebenen zunächst in der damaligen CDU/CSU. Die von Konrad Adenauer geführte Union musste auf die Entstehung des „Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ reagieren. Der BHE war keinesfalls das Sammelbecken der Gestrigen, sondern hatte eine wichtige Funktion für die Integration der Vertriebenen, die sich trotz aller Enttäuschungen nicht gegen die Verfassungsordnung stellten und die Möglichkeiten zur Beeinflussung von Politik nutzen wollten. Früh setzte die CDU-Führung darauf, den BHE, der durchaus das Potential einer „Volkspartei“ hatte, durch Erfüllung einiger Vertriebenenforderungen zu schwächen. Tatsächlich gelang es den Christdemokraten mithilfe des Lastenausgleichs, die Konkurrenz zu verdrängen.

Zahlreiche Vertriebenenvertreter saßen zunächst auch für die SPD in den Parlamenten. Sie betonten vor allem die sozialen Aspekte des Vertreibungsschicksals. Dies endete jedoch mit der Neuen Ostpolitik, die von der Regierung Brandt als Entspannungspolitik gegenüber den östlichen Nachbarn konzipiert worden war, für die Vertriebenen jedoch die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen und somit auch ihres Schicksals bedeutete. Es war geradezu verhängnisvoll für die Lastenausgleichspolitik der 70er Jahre, dass es den Vertriebenenpolitikern nicht gelang, den sich abzeichnenden Wandel durch Annäherung besser für sich zu nutzen, sondern in eine Haltung konsequenter Ablehnung der damaligen Entspannungspolitik treiben zu lassen.

Auf die Betrachtung der Positionen von FDP, Kommunisten und Neo-Nationalsozialisten folgt in Kittels Studie die Beschreibung der Übermacht der Finanzpolitiker. Sie waren es, die sich in einem anhaltenden Kompetenzstreit mit dem Vertriebenenministerium allmählich durchsetzten und zunehmend die Lastenausgleichspolitik prägten.

Der abschließende dritte Teil widmet sich den finanzpolitischen Möglichkeiten und Grenzen. Dabei zeigt sich, dass die ständige Novellierung des Gesetzes nicht nur Folge einer finanziellen Unterausstattung von Beginn an war, sondern auch der fehlenden Prognosefähigkeit der verantwortlichen Akteure. Sie konnten immerhin ein Schlussgesetz verhindern und so die Hoffnungen auf Systemkorrekturen in Kompromisse münden lassen.

Die Vertreibung in der Forschung

Wie kein zweiter Zeithistoriker kennt sich Manfred Kittel nicht nur in der Geschichte der Vergangenheitsbewältigung aus. Er ist bestens mit der Vertreibungs- und Fluchtgeschichte vertraut und durchaus thesenfreudig, wie vor einigen Jahren seine Überlegungen zur Vertreibung der Vertriebenen aus der deutschen Erinnerungskultur zeigen. Mit seiner Studie über die Vertriebenen als „Stiefkinder des Wirtschaftswunders“ knüpft er hier an, diesmal denkbar abgesichert durch eine breite Quellenfülle und Literaturkenntnis.

Persönliche Schicksale Betroffener spart Kittel weitgehend aus. Doch war dies auch nicht seine Aufgabe. Die längst vergriffene, von Theodor Schieder herausgegebene achtbändige „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ verzeichnet bereits weit über tausend Augenzeugenberichte zu diesem Thema. Die Dokumentation zeigt auch, dass es sich bei Flucht und Vertreibung um ein niemals ganz verdrängtes, allerdings immer in den Schatten der Schulddiskussion geratenes Kollektivschicksal handelt, das Teil eines Jahrhundertthemas bleibt.

Generell nimmt die Vertriebenenforschung inzwischen neue Fahrt auf, wie der Erfolg der Bücher von Andreas Kossert zeigt. Dies wird sich nach der Eröffnung des „Dokumentationszentrums Flucht Vertreibung Versöhnung“ im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof in Berlin noch einmal verstärken.

Die Vorgeschichte der Vertreibungs- und Nationalitätenkonflikte spart Kittel aus. Ohne diese „Volksgruppenkämpfe“, lassen sich weder die Konsequenzen noch die Rigidität und Brutalität verstehen, die in der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten sichtbar wird. Gewiss überlagerten sich dabei die Flucht vor den Kriegshandlungen mit den Erfahrungen einer „Umsiedlung“, die immer Vertreibung, Enthausung und Entheimatung bedeutete. Tragisch war, dass die Vertriebenen durch Zeitumstände und Zeitverhältnisse in eine ihnen fremde Lebenswelt gezwungen wurden, dass sie vielfach fehlende Empathie der Einheimischen erfuhren, dass sie in den 60er Jahren sozialer Häme, in den 70er Jahren politischer Diffamierung ausgesetzt waren. Durchgängig gilt, dass ihnen die Zeitverhältnisse nur selten freundlich gesonnen waren.

Teil des Nachkriegswunders

Dass die Integration der Heimatvertriebenen dennoch auf lange Sicht gelang, ist ein Teil des deutschen Nachkriegswunders, das sich eben nicht nur im wirtschaftlichen Aufstieg erschöpfte. Indem Kittel daran erinnert, dass bei der Durchsetzung von Hilfsprogrammen die Ostvertriebenen mit anderen Adressaten einer Wiedergutmachung – mit den ins Exil getriebenen Emigranten, mit den zunächst im Osten An- und dann Ausgesiedelten, mit Regimegegnern und den Opfern des Völkermords an Juden und Sinti und Roma – konkurrierten, erschließt er die ganze Dimension der Wiedergutmachung. Erst viel später kamen andere Opfergruppen hinzu, neben den Opfern der Rasseneugenik und der „Euthanasie“ schließlich die Zwangsarbeiter und die Opfer der Kriegsgerichte und der NS-Justiz.

Adolf Arndt, der sozialdemokratische Rechtspolitiker, brachte die so gegensätzlichen Nachkriegserfahrungen prägnant auf den Punkt, als er den unausweichlichen Kompromiss zwischen Widerstandskämpfern und Stalingradkämpfern, von Emigranten und Vertriebenen, von Spätaussiedlern und spätentlassenen Kriegsgefangenen beschwor. Im Zuge der Entspannungspolitik gaben dann jedoch selbst diejenigen Parteien die Vertriebenen auf, die ihnen lange Zeit ihre Mehrheit verdankten. So gesehen, waren die Ostvertriebenen nicht nur Stiefkinder des Wirtschaftswunders, sondern auch der Politik.

Kittels Darstellung ist ein überzeugender Wurf und zugleich eine zeithistorische Detailstudie, der mit der Eröffnung des Dokumentationszentrums zur Vertreibung im Laufe des Jahres hoffentlich auch weitere Lebensbeschreibungen folgen werden.

• Prof. Dr. Peter Steinbach lehrte Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Passau, Karlsruhe und Mannheim sowie an der FU Berlin. Er ist Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.


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Kommentare

sitra achra am 25.01.21, 11:40 Uhr

Es ist davon auszugehen, dass sich die auf dem Foto dargestellten Zustände in 20 Jahren wiederholen, wenn der Exodus der verbliebenen Restdeutschen erfolgt, die sich nicht islamisieren lassen wollen.

Siegfried Hermann am 24.01.21, 10:41 Uhr

Hier wird sehr umfangreich ein kontroverses Thema aus der Vergangenheit angesprochen, das aktueller denn je ist!!
Das der Lastenausgleich UNGERECHT war, steht wohl heute außer Frage. Die eigentlichen Kriegsgewinnler (Konzerne, angloamerikanische Finanzoligarchie, 1 Mio !!! gestohlener dt. Patente, 100.000 entführt Ingenieure, massenhaft geraubte Kunst ) haben sich damals schon schadlos gehalten und nur die "kleinen Leute" haben die Zeche bezahlen müssen. Hinter "Lastenausgleich" steckt also deutlich mehr als eine Wohltat!
Warum ist das aktuell!?
Mit Änderung der Grundsteuer, der Bodenreform und folgend Zwangs-Enteignung von Bauernhöfen und Einfamilienhäusern, des Bargeldabschaffen, Goldverbot, Gebühren- und Steuererhöhungen und eine Zwangs-Quote PRO Migranten auf Deutsche Arbeitsplätze alles zu Gunsten von Sozial-INVASOREN, was anderes sind diese Leute nicht, will man den Bürgern diese zwangsweise Umvolkung Westeuropas durch den Bürger bezahlen lassen. Griechen Ungarn, selbst Bosnier sind mittlerweile schlauer.
Der Unterschied eben zu damals.
Das sind KEINE Deutschen, KEINE Flüchtlinge, KEINE Asylanten, KEINE Bürgerkriegs-Flüchtlinge (in Gambia, Senegal usw. gab´s seit über 400 !!! Jahren KEINEN Krieg! Warum werden in Syrien die Araber nicht in ihren Bruderländern wie Katar, S-A, Persien, oder Kuwait "exportiert"??? Und außerhalb der Köppeabhacker-Gebiete gibt es in Syrien KEIN Krieg mehr, selbst Touristen können ungestört Damaskus bewundern!!!)
Bitte selbst recherchieren!!!

Mahlzeit!

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