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Politik

Szenen einer Zeitenwende

Historische Veränderungen werden von den Zeitgenossen selten als solche wahrgenommen. Die Bundestagswahl 2021 dürfte jedoch in die Geschichte eingehen. Beobachtungen aus einer Wahlnacht, welche die Republik verändern wird

Holger Fuß
29.09.2021

Auf einmal wird der Wahlabend doch noch elektrisierend. Ausgerechnet die „Tagesthemen“ in der ARD liefern mit einer Extraausgabe um 21.15 Uhr ein Doppelinterview, das endlich aufhorchen lässt. Die Moderatorin Caren Miosga holt Grünen-Co-Chef Robert Habeck und FDP-Vize Johannes Vogel ins Studio, zwei Drei-Tage-Bärte, der Grüne 52, der Liberale 39 Jahre alt. Für zehn Minuten sind die beiden die Gesichter der neuen Republik und die Geburt einer veränderten Parteienlandschaft. In gelöster Stimmung kündigen sie an, dass die Grünen und die FDP zunächst einmal ausloten werden, „ob sie Brücken schlagen können“ (Habeck). Um dann mit ihren Gesprächsergebnissen mit der SPD von Olaf Scholz und mit der Union Armin Laschets zu verhandeln, ob die künftige Bundesregierung eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition sein wird.

Das amtliche Ende der Volksparteien

Sowas gab es noch nicht in den 72 Jahren Bundesrepublik. Bislang lag nach jeder Bundestagswahl eine der beiden Volksparteien vorn und der Wahlsieger führte mit einer oder mehreren der Kleinparteien Koalitionsverhandlungen. Doch eine SPD mit 25,7 Prozent und eine CDU/CSU mit 24,1 Prozent haben ihren Status als Großpartei eingebüßt. „Wir haben ein verändertes Parteiensystem“, sagt Vogel. „Wir haben nicht mehr die große Partei, sondern es gibt vier mittelgroße Parteien – und da sind alle in der Verantwortung, jetzt eine gute Regierung für Deutschland zu bilden.“

Besonders Habeck ist anzumerken, wie befreit er sich an diesem Abend von der Bürde des Wahlkampfs fühlt: „Der Wahlkampf interessiert mich jetzt schon gar nicht mehr.“ Befreit vom Zwang zur Selbstverleugnung, während seine Co-Chefin und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die Umfragewerte der Grünen von 26 Prozent (infratest dimap am 6. Mai 2021) aufs Wahlergebnis von 14,8 Prozent schmelzen ließ. Dass Habeck sich für den geeigneteren Mann hielt, ließ er vielfach in Interviews durch wortloses Mienenspiel durchblicken, um sodann einen loyales Lippenbekenntnis zu Baerbock abzugeben. Jetzt, nach der Wahl und dem enttäuschenden Stimmengewinn von 5,9 Prozent gegenüber 2017 leuchtet in Habeck der machtbewusste Kampfgeist, der Strippenzieher und politische Stratege auf. Jetzt will der Grünen-Chef von seiner Schlüsselposition in die nächste Bundesregierung gleiten. Laut „FAZ“ sieht seine Partei ihn für den Posten des Vizekanzlers vor.

Zwischen der traditionellen „Öko-Partei“ und der traditionellen „Partei der Besserverdienenden“ dürfte es ohnehin mehr Schnittstellen geben, als es der erste Anschein vermuten lässt. Denn aus den einst außerparlamentarisch bewegten Strickpullover-Anarchos, die als Antiparteien-Partei die Parlamente aufmischen wollten, sind Politkarrieristen in Maßanzügen geworden, und ihre Wähler kommen häufig aus dem wohlsituierten, linksdurchtönten Bürgertum der Großstädte. Vielfach Akademiker, die in ihrer Öko-Folklore ihre Kinder schon mal zur Klima-Demo chauffieren. Diese Klientel stößt auf den prototypischen FDP-Wähler auf den Biomärkten oder auf Flughäfen, wo beide gern für ihre Urlaubsreise eine CO₂-Ausgleichszahlung entrichten. Allzuweit sind die Lebensgefühle beider Parteien also nicht voneinander entfernt.

Entsprechend sagt Vogel in den „Tagesthemen“ einen Satz, der auch von Habeck stammen könnte: „An vielen Stellen brauchen wir grundlegende Veränderungen.“ Das klingt so wolkig wie die Parolen der Grünen, wenn sie einen Systemwechsel fordern. Wohl auch deshalb ist die FDP mit 23 Prozent die stärkste Partei bei den Erstwählern, gleich dahinter die Grünen mit 22 Prozent.

Die Brücken, die Habeck zu den Liberalen schlagen will, müssen also keine großen Gräben überspannen. Im Kern geht es ums Geld. Die Grünen wollen mit Steuererhöhungen gewaltige Investitionsprogramme zum „klimaneutralen Umbau der Wirtschaft“ finanzieren, darunter eine Milliarde Euro zur Förderung von Lastenfahrrädern. Die FDP hingegen ist strikt gegen höhere Steuern, will der Wirtschaft nach der Coronakrise Erholung gönnen und setzt auf neue Technologie sowie den Wettbewerb der besten Ideen, um Deutschland klimaneutral zu machen. Und weil übers Geld die politischen Weichen am wirksamsten gestellt werden können, schielen Habeck und FDP-Chef Christian Lindner auf den Posten des Bundesfinanzministers.

Stunde Null in mehrfachem Sinne

Der Wahlabend am Sonntag in Berlin markiert für das Land eine Stunde Null. Noch nie wussten die Deutschen nach einer Bundestagswahl nicht, wer Kanzler wird. Die Union verlor seit der letzten Bundestagswahl 8,8 Prozent und krachte um 1,6 Prozent hinter einer SPD, die in Umfragen vor wenigen Wochen noch auf 15 Prozent taxiert wurde und 2017 gerade mal 20,5 Prozent einfuhr. Was die Sozialdemokraten seit Jahren erleben, sucht die CDU nun ebenfalls heim: das Ende als Volkspartei.

In ihrer Verzwergung sind die einstigen Riesen künftig stärker auf ihre Mitspieler angewiesen als je zuvor. Wenn sich Grüne und FDP geschickt anstellen, können sie beide potentielle Seniorpartner mit ihren Forderungen gegeneinander ausspielen und sich bei Sondierungen nach Belieben durchsetzen. „Wer auch immer Kanzler wird, er wird Kanzler von Gnaden des grün-gelben Blocks“, schreibt der „Spiegel“.

Die Verunsicherung ist daher am Sonntagabend bei allen Beteiligten spürbar. Vor allem den CDU-Granden ist Schock und Panik ins Gesicht geschrieben. Zwar konnte Laschet in den Tagen vor der Wahl noch an die SPD heranrücken, aber jeder in der Union weiß, dass Werte um die 25 Prozent einer Volkspartei unwürdig sind. Nach dem Absturz der Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren verstand sich die Union als verbliebener Leuchtturm der Mitte, die letzte Partei, die alle Schichten und Interessen der Gesellschaft in ihrem Spektrum widerspiegelt, eben eine Volkspartei. Nun erleben die Funktionsträger im Konrad-Adenauer-Haus, dass man zur Unkenntlichkeit schrumpft, solange man es allen recht machen will. Kein Wähler weiß so genau, warum er die CDU/CSU wählen soll: Für Wirtschaftsbelange ist die FDP da, fürs Ökologische die Grünen, für soziale Gerechtigkeit die SPD und die Linkspartei – und für konservative Bedürfnisse ist die AfD zur Hand.

Manch einer in der Union nimmt erst jetzt wahr, wie sehr die 16 Jahre der „Weiter so“-Kanzlerin Angela Merkel ihre Partei entstellt haben. Schon steht die Forderung nach „Neuanfang“ im Raum, wie so oft, wenn die konkreten Ideen fehlen. Die CDU müsse „breiter und tiefer in der Bevölkerung wieder verwurzelt“ werden, murmelt ein bleicher Norbert Röttgen in die Kameras.

Bittere Einsichten

Der Kanzlerkandidat der Partei scheint schon den ganzen Sonntag neben sich zu stehen. Tagsüber im Aachener Wahllokal macht sich Armin Laschet vor den anwesenden Fotografen an der Wahlurne der „Fehlfaltung“ seines Wahlzettels schuldig. Unerlaubterweise ist zu erkennen, dass der CDU-Chef seine beiden Stimmen der CDU gegeben hat. Der Bundeswahlleiter gibt später bekannt, Laschet habe „nicht geheim, aber gültig gewählt“.

Bei seinen Statements und in der „Berliner Runde“ von ARD und ZDF wirkt Laschet fahrig und trostlos, wie einer, der seine Niederlage nicht einsehen mag. Als ob er gegen das Ertrinken anstrampelt, beteuert Laschet, dass er „lieber ans Gelingen als ans Nichtgelingen“ denke. Er belehrt die Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow darüber, dass viele Menschen die Union wegen der sozialen Gerechtigkeit wählen würden und sie nicht mit den Vorschlägen der Linken einverstanden seien. Hennig-Wellsow schaut ihn an, als blicke sie in die Mündung eines Revolvers, wohl auch, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ob die Linkspartei es über die Fünf-Prozent-Hürde schafft.

Die „Berliner Runde“ wirkt wie der Leichenschmaus nach der Beisetzung einer alten Republik mit ihrem überkommenen Parteiensystem. Von Aufbruchstimmung in eine neue Ära ist aber auch nichts zu spüren. Die üblichen Schönrednereien beherrschen die Szenerie. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel lässt uns an einer beeindruckenden Gedankenakrobatik teilhaben. 2,3 Prozent hat ihre Partei im Vergleich zu 2017 verloren, steht nun bei 10,3 Prozent. Für Weidel bedeutet das: „Wir konnten uns deutlich verbessern“, weil nämlich als „Sondereffekte“ die Freien Wähler und die Corona-kritische „Basis“ auf der Bundesbühne erschienen. „Und wenn man diese Sondereffekte bereinigt, dann liegen wir sogar über dem Ergebnis von 2017.“

Die Dramen der Hauptstadt

Neben dem Ausdruck „Fehlfaltung“ kursiert an diesem Abend ein anderes schönes Wort: die „Berliner Wahlzettelbremse“. In einigen Wahllokalen der Hauptstadt herrschte zeitweiliges Chaos, weil sie keine Stimmzettel mehr hatten oder falsche Stimmzettel, nämlich aus anderen Bezirken geliefert bekamen. Der Nachschub ließ auf sich warten, die Botenfahrzeuge steckten in den für eine Marathonveranstaltung gesperrten Straßen fest. Berliner Organisationsartistik dürfte weiterhin unerreicht bleiben. (Siehe Seite 8)

Ein Lichtblick fürs Gemüt ist – wie so oft in jüngster Zeit – „Bild TV“, wo aus unerklärlichen Gründen Katharina Witt, Thomas Gottschalk und der mittlerweile 82-jährige Heino zur „Deutschland-Runde“ mit Chefredakteur Julian Reichelt gerufen wurden. Auch hier ist allen klar, dass wir an diesem Abend einer politischen Zeitenwende beiwohnen. Heino fasst sie in seiner unverwüstlichen Art zusammen: „Ich bin sehr optimistisch, dass sich vieles ändert.“ Gottschalk wird mit zunehmenden Jahren immer mehr zum Welterklärer: „Die Jungen müssen sich die Welt und die Veränderungen zurechtrütteln.“ Reichelt grätscht mit erschreckenden Aussichten dazwischen: „Katrin Göring-Eckardt könnte Bundespräsidentin werden – dazu muss die SPD ihren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wegmeucheln.“

Dies könnte demnächst auch Laschet blühen. Seine Personalie könnte in dem Forderungskatalog stehen, den Grüne und FDP bei den Jamaika-Verhandlungen der Union vorlegen. Warum sollte sich der Grün-Gelb-Block auf den gescheiterten Laschet einlassen? Ein Kanzler Markus Söder etwa wäre viel besser zu vermitteln. Söder war der „Kandidat der Herzen“ (CSU-Generalsekretär Markus Blume) und hat in Bayern die Bienen gerettet. Mehr Zukunft geht wohl kaum.

• Holger Fuß ist Publizist und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und das Zeitgeschehen. 2019 erschien von ihm „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).
www.m-vg.de


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Kommentare

Berlin 59 am 30.09.21, 21:51 Uhr

Sieht ja fast nach jugendlich dynamischen Aufbruch aus. Ich denke wenn die Wirtschaft richtig Druck macht kommt doch wieder die GROKO. Aber es gibt sowieso Neuwahlen.

Siegfried Hermann am 29.09.21, 11:31 Uhr

Ich sach ma so:
Frau Witt wäre besser auf Kufen unterwegs, das kann sie wenigsten,
der Gottschalk ist sprichwörtlich abgebrannt (St. Monica) und trällert seitdem alles wer ihn bezahlt. Und der selige Heino ist auch im Stimmbruch, seit er keine Nussecken mehr verkauft.
Das sind dann genau die Flachnasen, die Blöd-TV für unterstes Eingangs-Level braucht, um deren träschiges Proll-Publikum zu bedienen.
Mahlzeit!

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