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Als die US-amerikanischen Gründungsväter noch friedlich an den Lagerfeuern der Indianer saßen und feierten
Als an einem kühlen Novembermorgen des Jahres 1621 die Sonne über den kleinen Weiler Plymouth in Neuengland stieg, lag über der Siedlung eine beinahe unheimliche Stille, die irgendwie nach Erschöpfung roch. Immerhin, die Ernte war unter großem Krafteinsatz eingebracht, das Überleben fürs Erste gesichert. All jene, die den mörderischen ersten Winter mit dem vielen Schnee und der unmenschlich eisigen Kälte überstanden hatten, blickten auf ein Jahr zurück, das sie an die körperlichen Grenzen von Hunger, Furcht und ebenso ans Limit ihres Glaubens geführt hatte. Denn man musste schon eine ganze Menge Gottvertrauen und eine gehörige Prise Frömmigkeit besitzen, um all diese extremen Strapazen angehen und hinter sich bringen zu wollen. Denn was an diesen vergangenen Tagen, Wochen und Monaten geschah, was diese Menschen erlebt und ebenso erduldet hatten, sollte später immerhin als die Geburtsstunde eines nationalen Mythos schlechthin gedeutet werden – nämlich als das allererste Thanksgiving der Vereinigten Staaten von Amerika.
Doch das Fest, das seither als der absolute Inbegriff amerikanischer Dankbarkeit gilt, quasi als ur-amerikanischer Geburtstag, war viel weniger ein religiöses Ritual als vielmehr eine fragile Atempause zwischen purer Verzweiflung und einem hoffnungsfrohen Neubeginn in einer Zeit, in der man es sich kaum erlauben konnte, überhaupt große Hoffnung zu hegen, weil die raue Realität einen schnell wieder unbarmherzig einholte. In Zeiten, in denen jeder Tag ein unbarmherzig harter Kampf ums nackte Überleben ist, sind die Hoffnungen aber andererseits genau das, was einen weitermachen lässt. Das Vertrauen auf Gott und auf seine Gnade, die einen Tag für Tag am Leben hält, weil man glaubt, es geht doch noch ein kleines Stückchen voran – hin zum Besseren.
Vom Sturm angetrieben
Doch zurück zum Anfang: Die Pilgerväter, strenggläubige, asketische Puritaner, hatten ihre englische Heimat verlassen, weil sie in der alten Welt keine Freiheit für ihren Glauben, für sich und ihre Kinder mehr fanden. Über die Niederlande und den stürmisch-rauen Atlantik führte sie die gefährliche Seefahrt auf ihrem Schiff, der „Mayflower“, in ein Land, das sie als unberührt, ja geradezu als göttlich jungfräulich betrachteten. Ein Land, von dem sie glaubten, dass der Herrgott es nur für sie bereithalte.
Ein fataler Irrtum, wie sich schnell herausstellen sollte. Denn genau dieses Land war bereits seit Jahrtausenden bewohnt, und ebenso Jahrhunderte zuvor von Europäern – den Wikingern – entdeckt worden, was allerdings in Vergessenheit geraten war. So landeten die gottgläubigen Pilgerväter im November des Jahres 1620 mit der besagten „Mayflower“ an der Küste der heutigen USA – genauer gesagt auf Cape Cod, nachdem sie ursprünglich nach Virginia wollten. Sie ankerten zunächst in einem Hafen nahe der heutigen Stadt Provincetown, einem Ort, zu dem heftige Stürme sie letztendlich hingetrieben hatten.
Die Kolonisten überwinterten notgedrungen auf ihrem Schiff, bevor sie im März 1621 die neue Kolonie Plymouth auf dem Festland in Massachusetts gründeten. Dies, nachdem der Winter 1620/21 ihnen Tod, Hunger und bittere Kälte gebracht hatte, wodurch mehr als die Hälfte der Siedler starb. Nur durch die Hilfe der Wampanoag-Indianer, einem Stamm, der sie Maisanbau, Fischfang und Ackerbau lehrte, entging die kleine ärmliche Kolonie anfangs dem Untergang. Als die Ernte im folgenden Herbst dann tatsächlich gelang, luden die Ex-Engländer ihre neuen Verbündeten, den Wampanoag-Anführer Massasoit und seinen Stamm, zu einem dreitägigen Fest ein. Es wurde kräftig gegessen, zusammen Wild gejagt und zudem fröhlich mit der Fidel musiziert. Ein Moment der Gemeinsamkeit – zwar eher flüchtig, aber dennoch überaus symbolisch.
Was später als friedliche Danksagung verklärt wurde, war in Wahrheit aber der Auftakt einer Geschichte, die schon bald in Misstrauen und blutige Gewalt mündete. Erst im 19. Jahrhundert, als die junge US-Nation nach identitätsstiftenden Erzählungen suchte, erhob man das Fest tatsächlich zur Gründungslegende. Die Betonung liegt dabei auf „Legende“. Aus einer Episode des Überlebens wurde nämlich ein Gleichnis über göttliche Vorsehung und nationale Bestimmung.
Ein kurzer Moment der Ruhe
1863, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, erklärte der damalige US-Präsident Abraham Lincoln dann Thanksgiving zum nationalen Feiertag – und zwar als ein Symbol der Einheit in einer zerrissenen Republik. Der Mythos von den Pilgern und den Indianern, die friedlich den Tisch teilten, diente fortan als moralischer Gründungsakt einer Nation, die sich selbst als auserwählt verstand.
Heute hat Thanksgiving seinen religiösen Kern weitgehend verloren und sich trotz vieler evangelikaler Amerikaner zu einem säkularen Familienritual gewandelt. Es ist der Tag der Heimkehr, der Fülle und des Überflusses. Millionen US-Bürger reisen an diesem Tag quer durchs Land, um an langen Tischen Truthahn, Süßkartoffeln und Kürbiskuchen zu teilen. Das Fest ist weniger ein Gebet als ein nationaler Pulsschlag: ein kollektives Innehalten, das die Familie zum Tempel und den Esstisch zum Altar erklärt. In einem Land, das von Erfolg, Arbeit und Geschwindigkeit geprägt ist, bietet Thanksgiving einen kurzen Moment der Ruhe – und ein Symbol dafür, dass Zusammenhalt zur religiösen Geste werden kann.
Überleben und Abhängigkeit
Ganz anders dagegen das deutsche Erntedankfest. Es wurzelt tief in der bäuerlichen Tradition Europas, in einer Welt, die noch vom harten Rhythmus der vier Jahreszeiten bestimmt war. Man schmückt Altäre in der Kirche mit Früchten und Getreide, dankt Gott für die wertvollen Gaben der Natur. Es ist somit ein Fest der Demut. Es war nie national und nie mythisch aufgeladen. Während Thanksgiving die Erzählung eines Anfangs ist, erzählt das deutsche Erntedankfest vom Kreislauf: vom Kommen und Gehen, vom Werden und Vergehen. Der Mensch bleibt darin Teil der Schöpfung, nicht ihr Sieger.
In dieser Gegensätzlichkeit zeigt sich der eigentliche Unterschied zwischen diesen beiden Festen: Das amerikanische Thanksgiving feiert das Überleben in der Natur, Erntedank die Abhängigkeit von der Natur. Die Amerikaner danken für das, was sie geschafft haben; die Deutschen für das, was ihnen geschenkt wurde. Das eine Fest steht im Zeichen des Triumphs, das andere im Zeichen der Demut.
Doch der amerikanische Mythos hat inzwischen Risse bekommen. Während Familien im ganzen Land das Fest des Überflusses begehen, versammeln sich Nachfahren der Wampanoag in Massachusetts zum „National Day of Mourning“ – dem Tag der Trauer. Für sie erinnert Thanksgiving eben nicht an Dankbarkeit, sondern vielmehr an Undank, an den Beginn von Vertreibung und Verlust. Das Land, das für die einen Zuflucht war, wurde für andere zum Ort des Untergangs.
Widersprüche als Hoffnung
Dass die USA an dieser Legende festhalten, liegt weniger an Geschichtstreue als an einem Bedürfnis. Eine Nation, die aus Einwanderung, Konflikten und Gegensätzen besteht, braucht gemeinsame Erzählungen. Thanksgiving erfüllt diese Funktion: Es bietet eine Geschichte, in der sich alle wiederfinden können – egal, ob ihre Vorfahren mit der „Mayflower“ kamen oder über Ellis Island. Es ist die jährliche Selbstversicherung, dass die Idee Amerika trotz aller Widersprüche Bestand hat. Am Freitag danach, wenn die Läden öffnen und der „Black Friday“ die Menschen in einen wahren Konsumrausch versetzt, zeigt sich jedoch die Ironie dieses Rituals: Kaum ist das Gebet gesprochen, wird das Danken zur Ware. Vielleicht aber liegt gerade darin der Kern des amerikanischen Mythos – in der unerschütterlichen Fähigkeit, selbst Widersprüche in Geschichten der Hoffnung zu verwandeln
Thanksgiving ist ein Spiegel. Einer, in dem die USA sich jedes Jahr neu betrachten: in ihrer Sehnsucht nach Einheit, in seinem Glauben ans Überleben, in ihrer Verwandlung von Geschichte in Gefühl. Es ist der Tag, an dem das Land sich selbst feiert – nicht, weil es satt ist, sondern weil es leben will.